Perspektivenwechsel

Hallo zusammen!

Über den Jahreswechsel war ich eine Weile still, jetzt bin ich wieder da :wink: Und ich habe ein kleines Projekt am Start:
Da mir das Schreiben der Perspektiven-Geschichten sehr viel Freude bereitet hat, und sich einige Ideen für andere Perspektiven in meinem Kopf angesammelt haben, möchte ich gerne weitere Texte dieser Art schreiben und euch die Ergebnisse hier zeigen.
Ich betrachte es als kleine Schreibübung, der ich unregelmäßig nachgehen werde; vielleicht sammelt sich auf Dauer genug für ein kleines Büchlein an. Vielleicht ist nach drei Geschichten Schluss. Wir werden sehen. Ich freue mich, wenn ihr reinlest :slight_smile:

Für Feedback bin ich jederzeit dankbar.
Und falls jemand sich inspiriert fühlt, dürfen gerne eigene Perspektiven-Geschichten zugesteuert werden :slight_smile:

Meine erste Perspektiven Geschichte folgt gleich… Viele Grüße schonmal von mir :slight_smile:

Zeitgefühl

Als es knallte, war ich schon da. Ich war Zeuge der zehntausend schillernden Farben, die sich im Licht brachen, bevor irgendjemand sonst sie bemerkte. Beobachter des Wassers und der Landmassen, die sich schwerfällig bewegten, und des ersten Lebens.
Sekunde für Sekunde.
Tag für Tag.
Jahrmillionen.
Es dauerte, aber meine Geduld zahlte sich aus.
Ich sah die Fische aus dem Wasser kriechen und bejubelte, wie sie wuchsen. Sah zu, wie sie starben, ein Vieh nach dem anderen; und der nächsten Rasse Platz machten.
Ichthyostega, Velociraptoren, Iguanodon, Mammuts. Und schließlich die Menschen.
Durch die Menschen wurde es spannend auf der Erde.
Denn sie mampften und jagten und schliefen und wanderten nicht nur durch die Wälder. Sie dachten nach. Sie bauten und forschten. Manchmal bekriegten sie sich auch.
Minute für Minute.
Ich hing mich an sie, wie an alle vor ihnen, wie ihr Schatten. Ich lief ihnen hinterher und lief ihnen ab; und merkte rasch, dass sie besonders waren.
Sie beachteten mich.
Sie sahen zu mir auf, bis sie auf mich zurückblicken mussten. Sie befüllten mich bis zum Rand mit Sinnen und Zwecken und enggetakteten Terminen. Sie teilten mich ein. Maßen mich aus. Sie vermuteten eine Ewigkeit in mir, planten und machten Listen, und trauerten dann jedes mal am Ende des Tages oder ihres Lebens um meine jähe Kürze.
Sie gaben mir sogar einen Namen. „Die Zeit ist knapp“, sagten sie.
Tik. Tak.
„Die Zeit kommmt nie wieder zurück“.
Tik. Tak.
Seufzend springe ich mit den Zeigern mit. Tik. Tak. Im Kreis. Für immer.
Es ist halb Neun und die trauernde Frau am Fenster mit dem schwarzen Mobiltelefon in der Hand, bespricht seit vierzig Minuten die Details der Beerdigung ihrer Großmutter.
Das Leben ist endlich und es ist unendlich schnell rum. Ich aber renne immer weiter.
Im Kreis.
Stunde für Stunde.
Jahr für Jahr.
Für immer.
„Wir kommen zu spät“, ruft ihr Mann vom Korridor. Er steckt mir dem linken Arm schon im Ärmel seiner Jacke. „Max ist noch nicht fertig. Du wolltest doch nur kurz-“
„Ich weiß. Ich weiß ja.“ Sie gestikuliert eine Entschuldigung.
Ich hetze. Ich rase. Ich rinne durch ihre Finger feiner als Wüstensand.
Wieder seufze ich.
„Geh schon vor“, raunt sie ihm schließlich zu.
Immer muss es schnell gehen. Immer stopfen sie mich voll, bombardieren mich mit Meetings und Dates und Stichtagen und Abfahrtszeiten, bis ich fast breche.
Gefeiert sei das mampfende Iguanodon, das mich nie zur Eile antrieb.
Endlich legt die Frau auf. Stille. Tik. Tak.
Sie schließt die Augen, atmet tief ein, tiefer als sonst, nur einen Moment lang, dann spult sie ihr Programm weiter ab. Ich renne mit, wie immer, klemme mich an ihre Ferse.
Renne ihr nach, bis ich ihr ablaufe.
Heute.
Morgen.
Zweiundsiebzig Jahre.
Eilig holt sie den kleinen Jungen, der die kurze lange Weile damit verbracht hat, mit drei zufälligen Buntstiften die Wände in seinem Zimmer rot – gelb – pink zu verzieren.
Diesmal seufzt seine Mutter.
„Wir haben doch keine Zeit, wir müssen uns doch beeilen“, flüstert sie. Es ist wirklich nicht mehr als ein Flüstern.
Sie nimmt ihn, zieht ihm Jacke und Schuhe an, dann sich selbst, und greift ihre Tasche. „Komm!“
„Nun komm schon“, wiederholt sie.
Es ist ein herrlicher Apriltag.
Max, der kleine Junge, denkt nicht daran, sich zu beeilen. Nach ein paar Metern schon verweilt er auf einem kleinen Stück Wiese. Während seine Mutter mit dem Fuß wippt, auf der Unterlippe kauend, und es heute nicht schafft, ihn anzutreiben, setzt er sich hin. Mitten auf das Gras. Als gäbe es keinen Grund zur Eile. Als liefe ich nicht weiter, und erst recht niemals ab. Max lacht und beginnt entzückt ein Laubblatt zu zerbröseln.
Ich husche hinter ihn, eng an das unschuldige Ding.
Er hat mich noch nicht begriffen.
Keinen Terminkalender.
Keine Uhr am Handgelenk.
Er lacht und zerbröselt weiter sein Laubblatt.
Moment für Moment. Vergeht.
Doch kurz.
Stehe ich still.
Höre auf zu rennen, höre auf zu hetzen, fast zu brechen, zu stressen und zu enden.
Hier und Jetzt.
Geduldig beobachte ich ihn und ein warmes Gefühl macht sich in mir breit. Nicht nur ich fühle es, auch seine Mutter, die sich neben ihn setzt, und lächelnd eine Träne weint.

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Wunderbar :slightly_smiling_face:

1 „Gefällt mir“

vielen Dank :slightly_smiling_face:

Ein sehr schöner Text. Vor allem das Ende mit der kindlichen Sicht auf die Zeit und die Reaktion der Zeit darauf fangen mich ein, machen die Szene dicht und nimmt auch etwas von der Traurigkeit, die in der Geschichte schwingt.

2 „Gefällt mir“

Ich danke dir für dein Feedback :blush:

Hallo scrittura.

Ich kann mich meinen Vorlesern nur anschließen, eine bezaubernde und ergreifende Geschichte, die du da geschrieben hast.
Während des Textes überrollt einen der Stress, das Gehetze und eine innere Nervosität baut sich auf. Aber das Ende lässt genau diese ungestümen Gefühle ersticken.
Wir sollten hin und wieder die Welt aus Kinderaugen sehen und die Zeit, die uns hier auf diesem wunderschönen Planeten gegeben wird besser schätzen.
Deswegen gefällt mir dein Ende sehr gut und hat mich dann auch kurz innehalten lassen.
Danke für diese schöne und wichtige Erzählung.
Ein imaginäres Büchlein für dich. :+1:
Freue mich auf weitere Erzählungen von dir. :wink: :muscle:

P.S.:
Die Idee finde ich sehr schön, dass du ein Buch aus deinen Geschichten machen möchtest. Ich drücke dir die Daumen, dass es klappt. :crossed_fingers:

3 „Gefällt mir“

Vielen Dank. Ich freue mich sehr! :blush:

Hallo Zusammen :slight_smile:
Ich habe eine neue Geschichte für euch dabei.
Ich freue mich über Feedback.

Beste Freunde

Ich bin der erste Freund, dem du in die Augen schaust. Knopfaugen. Tiefschwarz, glänzend, treu. Ich weiß nicht genau, was du darin siehst, doch es muss gewaltiger sein als das Universum.
„Du kannst mir vertrauen.“
Mein Leben gehört dir. Du gibst mir einen Namen. Eine Stimme. Wir sind unzertrennlich.
Ich bin der erste Freund, dem du ein Knopf ans Ohr plapperst. Dem du das Ohr fast abknabberst. Und der Erste, dem du deine allergeheimsten Sorgen erzählst.
Deine Tränen trocknen in meinem Fell, wenn du mich an dein Gesicht drückst.
„Ich bin immer für dich da.“
Kein Blatt passt zwischen uns. Kein Tag ohne Abenteuer. Keine Nacht ohne Einander. „Wir gehören zusammen.“
Du hältst mich. Du wirfst mich. Du fängst mich. Du nimmst mich überall mit. Auf die Rutsche. Auf die Schaukel. Ins Auto. Ins Bett. Auch in deinem türkisfarbenen Schulranzen bekomme ich einen Platz; ich luge daraus hervor, beobachte den Lehrer genau.
„Ich passe auf dich auf.“
Jahrelang.
Du und Ich.
Ich sehe dich wachsen. Und ich freue mich unsagbar darüber, bis ich es hasse.
Du siehst mich immer noch an, aber anders.
Manchmal gehst du ohne mich weg, aber wenn du wieder kommst, drückst du mich an dich. Manchmal. Hin und wieder. Ziemlich oft. Immer häufiger, gehst du weg.
Immer häufiger beachtest du mich nicht.
Immer häufiger beobachte ich dich vom Bett aus, wenn du hier bist, und nicht fort.
„Kannst du mich noch sehen?“
Ich bin dein erster Freund. Aber nicht dein Letzter.
Immer häufiger nimmst du mich nachts nicht mehr in den Arm.
Stattdessen nimmst du mich aus dem Bett und steckst mich in eine Kiste.
Es ist dunkel.
Ich kann nichts mehr sehen. Ganz besonders nicht dich. Meine Augen gewöhnen sich nur sehr langsam daran. Es ist still. Außen, aber nicht in mir. In mir tobt es. In mir trauert es.
„Das hast du nicht wirklich getan? Das soll es gewesen sein?“, flüstere ich. „Das soll es gewesen sein mit mir? Mein Ende in einem stickigen Karton?“
Einatmen. Ausatmen. „Du schmeißt mich aus deinem Leben?“
Niemand da, der mich tröstet.
Einatmen. Ausatmen. Traurigkeit schlägt in Wut um.
„Das soll es gewesen sein mit uns? Und du glaubst, das lasse ich auf mir sitzen? Du glaubst, ich wehre mich nicht?“ Die Knopfaugen brennen. Ich rase. „Lass mich nur einen Weg hieraus finden, dann komme ich. Dann hole ich dich. Dann nehme ich dir alles, wie du mir.“
„Welche Laus ist dir denn über das Fell gekrochen?“
Die Stimme erschreckt mich kurz. Sie klingt rau und etwas kratzig, aber nicht unfreundlich. Ich halte inne.
Mir war nicht aufgefallen, dass ich nicht alleine bin. Erst jetzt erkenne ich in der Dunkelheit Silhouetten. Puppen und Tierfiguren sitzen um mich herum. Ich erkenne die Rassel, die mit mir in der Babywiege gelegen hatte. In der Ecke liegt ein Xylofon.
Die raue Stimme, die meinen Monolog unterbrochen hat, gehört zu einem alten Spielzeugauto, das wachsam ein kleines Stück näher auf mich zurollt. Nicht zu nah, nur nah genug.
Einatmen. Ausatmen. „Was weißt du schon?“, ich brenne. Mein Mund zieht eine zornige Grimasse, die mit Zähnen sicher noch eindrucksvoller aussähe, „Weggeschmissen hat er mich, weg, weg, in diese elendsschwarze Kiste zu euch, wie ein wertloses Ding.“
„Das glaube ich nicht.“
„Was weißt du schon?“, wiederhole ich, „Seid ihr doch fröhlich in eurem schwarzen Loch. Ohne mich.“
Ich wende mich ab.
Ich suche einen Ausweg. Links nichts. Rechts nichts. Wenn ich ihn gefunden habe, werde ich es ihm heimzahlen. Ich strecke mich wutüberschäumend. Ich recke mich.
Es muss ein Herankommen an den gottverdammten Deckel geben.
„Mehr als du auf jeden Fall“, antwortet das alte Auto nach einer langen Pause stoisch, „Du bist hier. Und wenn du hier bist, dann bist du wertvoll.“ Ein weises Lächeln liegt in seiner Stimme. „Du bist ein bester Freund. Wohlwahr ein dümmlicher, aber ein echter.“
Wieder halte ich inne.
Einatmen. Ausatmen. Meine Wangen glühen.
„Die, die keine Freunde sind, werden gleich verschenkt oder verkauft“, fährt er fort, „Und sie werden nicht liebevoll geflickt, so wie wir.“ Er deutet auf sein geklebtes linkes Hinterrad und dann mit wohlwollend hochgezogener Augenbraue auf meinen Bauch, wo eine stümperhafte Nähnahtnarbe zu sehen ist. Ich erinnere mich, wie die Mutter mich nähte.
Ich fasse vorsichtig daran.
„Meinst du?“, frage ich zögerlich. Die Wut ebbt ab.
„Ich meine nicht, ich weiß“, nickt er und rollt seitlich ein Stück an mir vorbei, „Du hast deine Aufgabe gut gemacht. Dein Kind ist groß geworden. Sie werden groß und dann brauchen sie uns nicht mehr so nah bei sich, aber sie brauchen uns trotzdem für immer.“
Ein Seufzen entweicht ihm, in Gedanken woanders. Dann sieht er wieder mich an. Direkt in die Knopfaugen. „Ich bin schon lange hier und von Zeit zu Zeit werde ich heraus geholt.“
„Ich werde ihn wiedersehen?“ Mein Herz hüpft.
„Gewiss.“
Also warte ich.
Lange.
Jahrelang.
Bis die Kiste sich tatsächlich eines Tages öffnet.
Du schaust mich an. Dein Gesicht ist kantiger geworden und übersäht mit kratzigen Bartstoppeln, die Haare sind kürzer, die Hände größer, aber ich erkenne dich sofort. Als du mich hochnimmst und nah an dein Gesicht hältst, sehe ich darin das Universum leuchten.
„Schön dich zu sehen.“
Du nimmst mich mit, und setzt mich in ein Bettchen neben ein winziges glucksendes Mädchen. Sie hat deine Augen, und ich bin mir sicher, wir werden gute Freunde sein.

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Das Thema der „ab-geliebten“ Spielsachen ist kein neues. Aber du hast es wieder geschafft eine besonders emotionale Stimmung zu erzeugen. Dass das Stofftier in der Kiste auf Rache sinnt, ist ein guter Spannungsmoment. Man kann das Ende zwar erahnen - vielleicht auch eher erhoffen.
Schön, diese Reise in die kindliche Erlebniswelt. :slightly_smiling_face:

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Ich danke dir :slight_smile:

Wunderschön!

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Wunderschön und Bewegend.

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Vielen Dank euch beiden. Ich freue mich :blush:

Sehr schön geschrieben. Besonders berührt hat mich das Spielzeugauto. Weil es so weise und geduldig ist. :smiling_face_with_three_hearts: :+1:

2 „Gefällt mir“

Vielen Dank :slight_smile:

Beide Geschichten rühren mich!

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Vielen Dank :slight_smile:

Wunderschön erzählt! Das hat mich sofort an meinen eigenen Plüschteddy erinnert! Und ich fühle mich noch nicht zu alt dazu, ihn zu knuddeln!

Gruß

Super Girl

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Vielen Dank @SuperGirl :smiling_face: