In meinem Roman geht es um Bären aus versch. Epochen (1910-1990) die sich - in einem Antiquariat sitzend - die Geschichten ihrer erlebten und begleiteten Kindheiten erzählen. Ich bin sehr berührt von deinem Text. Danke dafür.
Hallo ihr Lieben. Ich war eine Weile still, heute habe ich aber mal wieder eine neue Perspektive dabei.
ich freue mich auf euer Feedback
Festgewurzelt
Stumm stehe ich an meinem Platz.
Festgewurzelt.
Eingewachsen.
Dreihundert Jahre, zwei Monate und einen Tag.
Ich stehe. Gähne. Schweigend.
Nichts ist schlimmer als die Langeweile. Beinahe nichts.
Es ist ein milder Tag im Frühjahr und die Sonne scheint kräftig genug, um an meiner Rinde zu kitzeln. Die ersten Blätter treiben an meinen verästelten Armen bereits aus. Sie verjagen die Spuren des langen Winters. Nur meine Augen sind noch zu müde.
Ich lasse sie geschlossen und lausche.
Flink ist wach.
Flink ist eine Blaumeise. Sie ist flink und wendig und aufgekratzt, deswegen nenne ich sie so. Wie sie wirklich heißt, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie auch keinen Namen. Normalerweise hopst sie überschwänglich von Ast zu Ast zu Ast, doch gerade sitzt sie still.
„Schau, es ziehen neue Menschen ins Haus.“
Deswegen also.
„Sie sehen nett aus.“
„Menschen sind nicht nett“, murre ich. Könnte ich, würde ich mich wegdrehen.
Ich will weiterschlafen. Will mich der Langeweile hingeben; sie hassen und lieben und verteufeln. Aber das wirklich Letzte, was ich will, ist, mich um die Menschen scheren.
„Jetzt sei nicht wieder so ein Griesgram!“ Tadelnd pickt Flink mich mit ihrem Schnabel in den Stamm. Das war es endgültig mit meinem Schlaf.
„Ich sehe drei große Menschen. Zwei Kinder. Und schöne alte Möbel“, berichtet die Blaumeise mir rasch, „Einen Hund haben sie auch.“
„Wunderbar“, seufze ich und öffne resigniert das rechte Auge.
Das Bauernhaus auf der anderen Seite der Wiese stand jahrelang leer. Ich bemerke sofort, dass es renoviert wurde. Im November, bevor ich einschlief, waren die Fenster verstaubt gewesen und das Dach hatte Ziegel verloren, doch davon sehe ich nichts mehr. Gerade schleppen zwei Männer einen Schrank in die frisch gestrichene Stube. Aus ihrer Richtung weht der Wind einen beißenden Geruchsmix aus Farbe und Putzmitteln in meine Richtung.
Wunderbar, denke ich nochmal.
Ich hatte gehofft, nie wieder Menschen sehen zu müssen.
Menschen bringen nur Ärger.
„Was hast du denn immer nur gegen die Menschen?“, fragt Flink, gerade so als könnte sie meine Gedanken lesen, aber vermutlich liest sie in meinem Gesichtsausdruck.
„Was weißt du schon?“
„Ich finde sie spannend. Sie sind bestimmt nett.“
„Menschen sind nicht nett.“
„Das sagtest du bereits.“
Eine Weile Schweigen wir. Ich versuche, mich von der Langeweile einfangen zu lassen, die mir, so unliebsam sie auch ist, immerhin nicht schaden kann, aber die Menschen durchbohren sie mit Rufen. Und ihrem Mief. Nach den Schränken tragen sie noch eine Couch und zwei Tische und mehrere Kübel mit Pflanzen ins Haus. Die Kinder rennen im Garten.
„Ich denke wirklich, dass sie nett sind“, wiederholt Flink schließlich, „Ich werde hinfliegen und sie begrüßen.“
„Bist du wahnsinnig?“ Es schüttelt mich. Flink rutscht von meinem Ast, fängt sich geradeso und flattert auf meine Wurzeln.
„Sie werden dir weh tun. Und wenn es nicht die Menschen tun, wird der Hund dich fressen.“
„Das glaube ich nicht“, antwortet Flink und lacht. Sie hört gar nicht mehr auf damit.
„Wenn es nicht die Langeweile ist, die mich zerfrisst, dann ist es der Mensch! Sieh dir die Schnnitte an meinem Stamm an. Dort haben sie mich als Zielscheibe benutzt, ihr Kämpfen zu trainieren.
Menschen kämpfen. Sie streiten und schreien und bekriegen sich, Flink.
Sie arbeiten sich zu Grunde auf dem Feld, und schreien sich dann an. Erwürgen sich für ein Kalb, oder für Geld. Sie marschieren und sie schießen mit Waffen aufeinander und werfen Bomben vom Himmel, wenn ihnen danach ist. Einmal hat alles hier in Flammen gestanden. Ich werde den Schrecken nie vergessen, und die Hitze und den Lärm.
Da lobe ich mir die Langeweile, wenn sie fort sind.
Menschen hassen sich.
Und wenn sie sich einmal nicht hassen, sondern lieben, ja dann zerstören sie uns. Sie lieben es, zu zerstören. Einmal haben sie einen kleinen Vogel von meinen Ästen geschossen, naiv wie du ist er gewesen. Und gelacht haben sie dabei.
Ihren Müll werfen sie mir vor die Füße; ihren Gestank lassen sie in der Luft.
Menschen sind Monster. Du findest sie spannend? Flieg nur hin zu ihnen. Vielleicht schießen und braten sie dich auch, dann muss ich dein Krächzen nicht mehr ertragen.“
Ich bereue es in dem Moment, als ich es sage und ich hoffe, Flink tut es nicht.
„Es tut mir Leid, dass sie dir weh getan haben“, flüstert die Blaumeise.
Die Pause, die sie macht, erstickt mich.
„Ich glaube nicht, dass alle Menschen so sind. Sie sehen nett aus“
Ich will Flink aufhalten, suche nach Worten, aber ich schaffe es nicht.
Schon schwingt sie sich in die Luft und dann sehe ich nur noch einen winzigen blauen Punkt, der irgendwo hinter dem Dach des Hauses aus meinem Sichtfeld verschwindet.
Ich warte.
Stumm stehe ich an meinem Platz.
Festgewurzelt.
Eingewachsen.
Angespannt.
Starre zum Haus.
Bis die Langeweile mich wieder umarmt.
Von Flink nichts zu sehen.
Gerade glaube ich, sie haben das dumme Vögelchen tatsächlich verspeist, als ich Flink auf einmal wieder über den Giebeln flattern sehe. Sie kommt zurück, stelle ich erleichtert fest.
Aber sie kommt nicht alleine.
Einer der Männer und die Kinder kommen geradewegs auf mich zu. Erst hoffe ich noch, sie laufen an mir vorbei, aber als sie den Schotterweg verlassen und dann quer über den Acker laufen, ist die Sache klar und meine Wurzeln vibrieren; versuchen, sich selbst rasch auszugraben. Fight, flight or freeze. Wenn ich nur rennen könnte. Bloß weg!
Vielleicht kann ich ihnen einen Ast auf den Kopf fallen lassen?
Meine Blätter kampfbereit aufplustern?
Am Ende wird mir wieder nur die Starre bleiben.
Festgewurzelt.
Eingewachsen.
Fort mit euch, Menschen! Hättet ihr doch lieber den Vogel gefressen!
Der Mann und die Kinder kommen schnell näher. Flink tänzelt zwitschernd zwischen ihnen.
Leichtgläubiges Ding.
Furchtbarer Mensch.
Dem Mann klemmt etwas unter dem Arm, das ich erst erkenne, als er schon sehr nah ist. Sicher eine Waffe. Ein Beil. Sicher Müll, den er loswerden will, überlege ich noch. Doch es ist aus Holz. Ein Vogelhaus. Tatsächlich. Kurz erwarte ich mindestens den Schmerz eines Nagels, der mich durchbohrt, als der Mann dicht bei mir stehen bleibt, doch er hängt das Häuschen nur behutsam an den niedrigsten meiner Äste, den er auf Zehenspitzen erreichen kann. Dann schmeißt er ein paar Kerne hinein und tätschelt unerwartet sanft meine Rinde: „Sei unserer Maisenfreundin ein gutes zuhause, ja?“
Überrascht nicke ich.
Überrascht lächle ich.
Festgewurzelt.
Eingewachsen.
Der Mann wechselt noch ein paar Worte mit seinen Kindern, dreht sich um und geht.
Der Junge und das Mädchen bleiben. Sie sehen wirklich nett aus, denke ich.
„Siehst du,“ ich höre den Triumph aus Flinks piepsiger Stimme, „Glaubst du mir jetzt?“ Sie lässt sich auf der kleinen Sitzstange nieder, die aus dem Vogelhaus herausragt.
Wind rauscht durch mein Blätterdach, mild wie der Frühlingstag. Ich bin wach.
Die Kinder setzen sich in den Schatten meines dicken Stammes auf den Ackerboden. Ich beobachte sie. Misstrauisch. Mutiger. Lausche, den Geschichten, die sie sich erzählen. Geschichten von Freundschaft. Von Liebe und von Helden. Vom Beschützen und von Frieden. Geschichten ohne Hass und ohne Bomben. Die Langeweile löst sich auf.
Und vielleicht, ganz vielleicht, bin ich das erste Mal gerne an diesem Ort festgewurzelt.
Wieder mal eine sehr schöne berührende Geschichte von dir.
Wenn du mal ein Buch mit deinen Kurzgeschichten rausbringst, kauf ich eins. Versprochen!
Ich kann mir den knurrigen alten Baum richtig gut vorstellen. Und ich verstehe auch seine Bedenken und seine vergangenen Schmerzen. Wie schön, dass er endlich mal das Glück erfährt, von liebenden Menschen umgeben zu sein.
Hat mich sehr an den alten Walnussbaum erinnert, der im Garten unseres ersten Hauses gestanden hat. Als wir das Haus verkauften und umgezogen sind, hätte ich den Baum am liebsten mitgenommen, weil er für uns wie ein Freund war. Am letzten Tag habe ich lange im Garten gestanden und hatte ihn fest im Arm. Und ich glaube, er mich auch.
Vielen Dank ich freue mich sehr!
Wow, ein wundervoller Text. Fängt mich, zieht mich mit, voller Weisheit und Gefühl.
Zu Beginn hat es mich sehr an das Lied „The Circle“ von Blackmore’s Night erinnert.
Schöne Idee, tolle Perspektive, passende Umsetzung
Zwei Sachen nur:
Das kommt mehrmals vor und ich vermute, so sagt man das in deiner Gegend, aber ich habe diese Formulierung noch nie gehört und nur eine Ahnung, was es bedeuten könnte
Und ein Laubblatt zerbröseln, im April? Vielleicht versetzt du die Geschichte lieber in den Herbst?
Jetzt hab ich begriffen, dass nur der letzte Text aktuell ist … aber ich antworte trotzdem auf alle, weil sie mich wirklich berühren.
Das Kuscheltier ist auch bezaubernd und süß geworden, hat mich zu Tränen gerührt
Hier würde ich Punkt nach der wörtlichen Rede machen und dann Ich brenne.
Hier auch, nicken ist kein Aussprechen. Entweder: „Ich meine nicht, ich weiß“, antwortet er und nickt. Oder: „Ich meine nicht, ich weiß.“ Er nickt.
Den dritten finde ich auch schön, aber nicht ganz so gut gelungen. Ich fühle den Baum nicht. Du sagst meistens nur, was du nicht kannst. Nicht was sich in diesem Lebewesen alles abspielt, was und wie es wahrnimmt. Und ich glaube kaum, dass einem Baum langweilig ist, nur weil es ein normaler Tag ist. Das ist das Leben einer Pflanze und sie wird ihr Dasein akzeptieren und lieben, weil es alles ist, was sie kennt. Dein Baum hingegen klingt eher wie ein Mensch, der in einen Baum verwandelt wurde