Rosenkrieg
»Was? Wer ist das?«, fragte Dorothea mit Blick auf beide, aber eigentlich interessierte sie viel mehr, wie ihr Mann auf diese Frage reagieren würde.
Christian Pfeiffer war fassungslos. Er fühlte viel zu viel gleichzeitig und sein Kopf wollte denken, aber er war zu benebelt. Wie als wäre er ins Leere geworfen worden und da schwebte er nun rum.
Es war erst das Geheule Richard Bergers, als dieser an einer verschlossenen Tür rüttelte, das Pfeiffer nun etwas wacher machte. »Dorothea, warum ist die Tür zu? Gib mir sofort den Schlüssel«, hörte Pfeiffer Berger rufen, in einem bestimmten, aber gleichzeitig verzweifelten Ton. »Richard, nein, du bleibst jetzt hier und sprichst! Lauf nicht wieder weg«, antwortete seine Frau und stellte sich zwischen ihn und die Kellertür, zu der ihr Mann immer verschwand, wenn er von seinem alltäglichen Leben Abstand brauchte. Berger wandte sich wieder dem Laptop-Bildschirm zu, seine Hände umklammerten diesen. Was ist denn mit denen? Was hat der Berger mit meiner Ex-Frau zu tun?, fragte sich Pfeiffer, während Dorothea beim Anblick ihres verzweifelten Richards nur eins dachte, erbärmlich. »Richard, was ist in dich gefahren? Sag mir, wer ist diese Frau?« Sie kannte die Antwort, was ihr Mann aber nicht wusste. Pfeiffer, etwas verwundert darüber, wie sich die Bergers aufführten, wollte etwas sagen, doch wie ein Kind, das seinen Eltern ehrfürchtig beim Diskutieren zuschaute, wusste er nicht wie und wann. Was die beiden Männer zu diesem Zeitpunkt nicht erahnten, war, dass Dorothea auch über die Verbindung von Pfeiffer und der gefesselten Frau Bescheid wusste. Sie zeigte mit einer präzisen Bewegung auf den Bildschirm. Dorothea wollte nur eins, ein Fünkchen Reue in Richards Augen sehen, damit sie noch an ihre Liebe nach 35 Jahren Ehe glauben konnte. Doch sie merkte ihm an, er hatte keine Reue. Mit jeder vergangenen Sekunde wurde sie ungeduldiger.
Anfang bis Mitte 40, schätzte Dorothea die blonde Frau ein, als sie im Keller in das private Arbeitszimmer ihres Mannes einbrach und diese eingesperrt in einem versteckten Nebenzimmer fand. Sie sah erschöpft aus. Als er anfing, die Tür seines Arbeitszimmers abzuschließen, fing auch Dorotheas Skepsis an zu wachsen. »Ich brauche einen Ort für mich, nur für mich, Dorothea«, sagte er ihr.
Sie wusste, es war falsch, war er tat. Doch Dorothea liebte ihren Mann so sehr, dass ihre Wut für seine Taten langsam abperlten. Wie Wasser auf einer wasserfesten Jacke, die er trug. Was würde aus ihr werden, wenn er hinter Gittern wäre. Das würde sie nicht überstehen, dessen war sie sich sicher. Vielleicht gäbe es ja noch andere Wege. Sie wollte doch nur, dass alles wieder so wird wie früher.
Pfeiffer spürte die Spannung, sie war so dicht, man hätte sie durchschneiden können und für einen kurzen Augenblick vergaß er, was gerade seiner Ex-Frau widerfuhr, denn irgendetwas anderes war hier los. Damals kritisierte Marlene an Christian genau das. »Manchmal frage ich mich, ob ich für dich existiere, ob ich dir wichtig bin«, sagte sie und dann brach er ihr das Herz, als er sie verließ, für Maria. Doch er musste damals auf sein Herz hören. Sie hatte sich gehen lassen, sie hatten fast jeden Tag gestritten und ihr Atem stank irgendwann nur noch nach Zigarettenrauch und Alkohol. Die Wände der Wohnung färbten sich langsam gelb und er verliebte sich in jemand anderen. Ja, er war ein Arschloch, er hätte sie nicht betrügen sollen. Sie hatte ihn angefleht, zu bleiben. Sie könnte ihm verzeihen. Ja, vielleicht hätte er liebevoller sein sollen. Mehr für sie da sein sollen.Vielleicht bin ich einfach ein schlechter Mensch. Was soll ich tun.
Während Pfeiffer in eine Gedankenspirale des Selbstmitleides überging, erkannte Dorothea an Richards Verzweiflung, dass es zu spät war. Sowas konnte sie nach den vielen Jahren Ehe erkennen. Ihr Mann liebte diese Frau mehr als sie. Idiot, dachte sie sich. Sie fühlte sich aber selbst wie einer. Was machte sie hier überhaupt? Sie tat alles für die Liebe zu ihm, Unvorstellbares. Was sollte sie noch tun? Sie fühlte sich bereits wie eine leere Schale ohne jeglichen verbleibenden Sinn für Moral. Diese Grenze hatte sie schon längst überschritten, als sie Marlenes neuen Mann vor ihrer Haustür dazu gebracht hatte, sich zu erschießen.Wenigstens war er ein gewalttätiges Schwein, dachte sie sich. Es war riskant, aber alles lief nach Plan, so wie es Frank vorgeschlagen hatte. Der junge Mann, mit dem Dorothea auf einer zwielichtigen Seite in Kontakt trat und gegen Bezahlung beauftragte, manipulierte die Waffen so, dass sie ungeladen und nicht funktionsfähig wirkten. »Wir wollen hier nur Angst machen, ein Zeichen setzen. Also drück ab, sobald du das Signal erhältst. Wenn du das nicht machst, lernst du eine echte Waffe am eigenen Leib kennen«. Dorothea musste nur den Kopf schütteln, als ihr Mann sie an der Haustür fragend anschaute. Nach dem viralen Video schlug sie Richard vor, umzuziehen, weg von dem ganzen Trubel, von den Erinnerungen und der Gefahr. Das war der Plan, ein Neuanfang. Sie könnten sich nicht ewig isolieren. Dorothea wusste, dass ihr Mann das Blutbad vor der Haustür nicht mehr vergessen könnte. Doch ihr Mann bestand darauf, dass sie genau dort bleiben würden. Er würde ihr gemeinsames Haus nicht aufgeben. Er wirkte überzeugend. Doch Dorothea wusste, es ging um etwas anderes, um jemand anderen. Und sie war nicht Teil davon. War die ganze Mühe, der ganze Schaden etwa umsonst? Dorothea ging zum Plattenspieler. Nach einem kurzen Rauschen ertönte eine Melodie. »Sag mir, wo die Liebe ist? Wo ist sie geblieben?«, Marlene Dietmars rauchige und weltbekannte Stimme umhüllte den Raum. Dorothea summte mit.
Wieso bin ich so? Warum verletze ich alle Menschen in meinem Leben? Moment mal. Musik? Was macht Frau Berger da? Pfeiffer fühlte sich auf einen Schlag unwohl. Auch Richard schaute auf. Das Lied bedeutete ihm viel, doch warum machte seine Frau in so einer Situation Musik an, als wäre nichts? Okay, was läuft hier? Das Ehepaar verhielt sich auffällig, bemerkte Pfeiffer. Maria liebte Psychothriller und Pfeiffers Bauchgefühl sagte ihm, dass er sich mitten in einem befinden könnte. Er musste schlauer sein als die Protagonisten dieser Filme. Er blickte sich im Raum um. Wonach könnte er greifen, wenn er sich schnell verteidigen müsste. Einen Bilderrahmen? Naja, man könnte ihn werfen, aber dafür bräuchte er mehrere, damit es was brachte. Moment mal, ist das nicht ein Bild von…? Er sah sich weiter um und blickte auf den singenden Plattenspieler. Pfeiffer wusste nicht wirklich, wie schwer ein Plattenspieler war, also konnte er nicht einschätzen, ob er als schnelle Waffe taugte. Er fragte sich nur gerade, ob vorher auch schon so viele Marlene Dietmar Fanartikel im Haus verteilt waren.
»Richard, ich weiß, dass du sie im Keller versteckt hattest. Du musst sie loslassen. Für uns«, setzte Dorothea an und unterbrach dabei Pfeiffers Überlebensplanung. »Du hast doch mich! Bedeutet das denn gar nichts?«, sagte sie mit flehenden Augen zu ihrem Mann.
»Dorothea!«, schrie Richard auf. Plötzlich wirkte er ganz anders auf Pfeiffer. Richard packte seine Frau an den Schultern. »Dorothea, wo ist sie, warst du das? Wo ist meine Marlene? Was hast du mit ihr gemacht?«
Meine Marlene? Keller? Loslassen? Was geht hier vor sich?, fragte sich Pfeiffer. Er kam zu den Bergers für Antworten und jetzt hatte er noch mehr Fragen.
»Meine Marlene?«, wiederholte Dorothea Pfeiffers Gedanken. Man merkte, dass in ihrem Kopf etwas passierte. Sie dachte intensiv nach. »Ich habe alles versucht, Richard, ich kann nicht mehr. Ich wollte dich niemals verletzen, dafür liebe ich dich viel zu sehr. Ich flehe dich an, komm zurück! Liebst du mich denn gar nicht mehr?«
»Was hast du getan! Ich brauche sie! Ich liebe sie! Bring sie zurück…!« Keine genaue Antwort auf ihre Frage, aber dennoch sehr deutlich. »Richard, hör bitte auf, ich flehe dich an.« Dorothea wollte die Hoffnung nicht aufgeben, sie musste ihm doch noch wichtig genug sein. »Sag mir, wo sie ist. Sonst bist du für mich gestorben«, die Worte ihres Mannes trafen sie wie ein Blitz. Ihre Miene änderte sich langsam. Sie wirkte nun ruhiger und gefasster. Eigentlich sollte die Entscheidung erst am Abend fallen. Idealerweise würde Pfeiffers Ex-Frau, die nach Dorothea nur minimal aussah wie die Stilikone des 20. Jahrhunderts, Pfeiffer in die Arme fallen, er wäre ihr Held, ihr gewalttätiger Mann war Geschichte, ihr Ex-Mann hätte sie gerettet und dieser hatte seine Maria nicht mehr, darum hatten sich Dorothea und Frank ebenso gekümmert und es ging schneller als gedacht. Sie mussten Pfeiffer nicht einmal eine zweite Aufgabe geben. Marias Schicksal war von Anfang an besiegelt. Ein perfekter Plan, eine zweite Chance für die Ehe. Doch Dorothea erkannte in diesem Augenblick die bittere Wahrheit, dass auch das Richard nicht dazu bringen würde, sie wieder so zu lieben wie früher. Das verstand sie jetzt. »Dann sei es so!«, sagte sie, nahm ihr Handy zur Hand, öffnete ein Fenster, sah auf dem Bildschirm Pfeiffers und Bergers Marlene, drückte auf einen Knopf und das Kamerabild verfärbte sich nach einem lauten Knall rot. Ich erlöse dich vom Leid der Liebe. Sei es ein zu wenig oder ein zu viel. Du bist frei, betete Dorothea für sie, während der Körper parallel zur Musik des Plattenspielers in sich einsackte.
Dann nahm sie eine Waffe aus einer Schublade heraus und schoss ohne zu zögern auf ihren geschockten Mann. Seine Augen weit aufgerissen wie die der Frau, die er entführte, liebte und zwang, Lieder für ihn zu singen. Ihre Ehe war verloren, Dorothea war nur zu blind es zu erkennen. Er liebte sie nicht mehr und würde es auch nicht mehr tun. Ich erlöse dich vom Leid der Liebe. Sei es ein zu wenig oder ein zu viel. Du bist frei. Bis dass der Tod uns scheidet. Tränen der Erkenntnis und des Verlustes kullerten ihre Wange hinunter.
Es ging alles so schnell, anders als in diesen Psychothrillern. Aber das hier war kein Film, das war pure Realität und genau jetzt stand er in Schockstarre? Beweg dich, du Nichtsnutz, los, ermahnte Pfeiffer sich selbst. Dorothea wandte sich nun direkt zu ihm. Verdammt, jetzt ist es soweit. War das das Ende? Er machte sich bereit und versuchte an etwas Schönes zu denken. Er sollte nicht in Angst sterben. Maria, ich komme zu dir, wiederholte er mehrmals in seinem Kopf und versuchte nicht darauf zu warten, dass es passierte.
Nach 60 Sekunden fiel ein letzter Schuss.