Offene Enden Teil 3: Schreib Teil 4

Rosenkrieg

»Was? Wer ist das?«, fragte Dorothea mit Blick auf beide, aber eigentlich interessierte sie viel mehr, wie ihr Mann auf diese Frage reagieren würde.

Christian Pfeiffer war fassungslos. Er fühlte viel zu viel gleichzeitig und sein Kopf wollte denken, aber er war zu benebelt. Wie als wäre er ins Leere geworfen worden und da schwebte er nun rum.

Es war erst das Geheule Richard Bergers, als dieser an einer verschlossenen Tür rüttelte, das Pfeiffer nun etwas wacher machte. »Dorothea, warum ist die Tür zu? Gib mir sofort den Schlüssel«, hörte Pfeiffer Berger rufen, in einem bestimmten, aber gleichzeitig verzweifelten Ton. »Richard, nein, du bleibst jetzt hier und sprichst! Lauf nicht wieder weg«, antwortete seine Frau und stellte sich zwischen ihn und die Kellertür, zu der ihr Mann immer verschwand, wenn er von seinem alltäglichen Leben Abstand brauchte. Berger wandte sich wieder dem Laptop-Bildschirm zu, seine Hände umklammerten diesen. Was ist denn mit denen? Was hat der Berger mit meiner Ex-Frau zu tun?, fragte sich Pfeiffer, während Dorothea beim Anblick ihres verzweifelten Richards nur eins dachte, erbärmlich. »Richard, was ist in dich gefahren? Sag mir, wer ist diese Frau?« Sie kannte die Antwort, was ihr Mann aber nicht wusste. Pfeiffer, etwas verwundert darüber, wie sich die Bergers aufführten, wollte etwas sagen, doch wie ein Kind, das seinen Eltern ehrfürchtig beim Diskutieren zuschaute, wusste er nicht wie und wann. Was die beiden Männer zu diesem Zeitpunkt nicht erahnten, war, dass Dorothea auch über die Verbindung von Pfeiffer und der gefesselten Frau Bescheid wusste. Sie zeigte mit einer präzisen Bewegung auf den Bildschirm. Dorothea wollte nur eins, ein Fünkchen Reue in Richards Augen sehen, damit sie noch an ihre Liebe nach 35 Jahren Ehe glauben konnte. Doch sie merkte ihm an, er hatte keine Reue. Mit jeder vergangenen Sekunde wurde sie ungeduldiger.

Anfang bis Mitte 40, schätzte Dorothea die blonde Frau ein, als sie im Keller in das private Arbeitszimmer ihres Mannes einbrach und diese eingesperrt in einem versteckten Nebenzimmer fand. Sie sah erschöpft aus. Als er anfing, die Tür seines Arbeitszimmers abzuschließen, fing auch Dorotheas Skepsis an zu wachsen. »Ich brauche einen Ort für mich, nur für mich, Dorothea«, sagte er ihr.

Sie wusste, es war falsch, war er tat. Doch Dorothea liebte ihren Mann so sehr, dass ihre Wut für seine Taten langsam abperlten. Wie Wasser auf einer wasserfesten Jacke, die er trug. Was würde aus ihr werden, wenn er hinter Gittern wäre. Das würde sie nicht überstehen, dessen war sie sich sicher. Vielleicht gäbe es ja noch andere Wege. Sie wollte doch nur, dass alles wieder so wird wie früher.

Pfeiffer spürte die Spannung, sie war so dicht, man hätte sie durchschneiden können und für einen kurzen Augenblick vergaß er, was gerade seiner Ex-Frau widerfuhr, denn irgendetwas anderes war hier los. Damals kritisierte Marlene an Christian genau das. »Manchmal frage ich mich, ob ich für dich existiere, ob ich dir wichtig bin«, sagte sie und dann brach er ihr das Herz, als er sie verließ, für Maria. Doch er musste damals auf sein Herz hören. Sie hatte sich gehen lassen, sie hatten fast jeden Tag gestritten und ihr Atem stank irgendwann nur noch nach Zigarettenrauch und Alkohol. Die Wände der Wohnung färbten sich langsam gelb und er verliebte sich in jemand anderen. Ja, er war ein Arschloch, er hätte sie nicht betrügen sollen. Sie hatte ihn angefleht, zu bleiben. Sie könnte ihm verzeihen. Ja, vielleicht hätte er liebevoller sein sollen. Mehr für sie da sein sollen.Vielleicht bin ich einfach ein schlechter Mensch. Was soll ich tun.

Während Pfeiffer in eine Gedankenspirale des Selbstmitleides überging, erkannte Dorothea an Richards Verzweiflung, dass es zu spät war. Sowas konnte sie nach den vielen Jahren Ehe erkennen. Ihr Mann liebte diese Frau mehr als sie. Idiot, dachte sie sich. Sie fühlte sich aber selbst wie einer. Was machte sie hier überhaupt? Sie tat alles für die Liebe zu ihm, Unvorstellbares. Was sollte sie noch tun? Sie fühlte sich bereits wie eine leere Schale ohne jeglichen verbleibenden Sinn für Moral. Diese Grenze hatte sie schon längst überschritten, als sie Marlenes neuen Mann vor ihrer Haustür dazu gebracht hatte, sich zu erschießen.Wenigstens war er ein gewalttätiges Schwein, dachte sie sich. Es war riskant, aber alles lief nach Plan, so wie es Frank vorgeschlagen hatte. Der junge Mann, mit dem Dorothea auf einer zwielichtigen Seite in Kontakt trat und gegen Bezahlung beauftragte, manipulierte die Waffen so, dass sie ungeladen und nicht funktionsfähig wirkten. »Wir wollen hier nur Angst machen, ein Zeichen setzen. Also drück ab, sobald du das Signal erhältst. Wenn du das nicht machst, lernst du eine echte Waffe am eigenen Leib kennen«. Dorothea musste nur den Kopf schütteln, als ihr Mann sie an der Haustür fragend anschaute. Nach dem viralen Video schlug sie Richard vor, umzuziehen, weg von dem ganzen Trubel, von den Erinnerungen und der Gefahr. Das war der Plan, ein Neuanfang. Sie könnten sich nicht ewig isolieren. Dorothea wusste, dass ihr Mann das Blutbad vor der Haustür nicht mehr vergessen könnte. Doch ihr Mann bestand darauf, dass sie genau dort bleiben würden. Er würde ihr gemeinsames Haus nicht aufgeben. Er wirkte überzeugend. Doch Dorothea wusste, es ging um etwas anderes, um jemand anderen. Und sie war nicht Teil davon. War die ganze Mühe, der ganze Schaden etwa umsonst? Dorothea ging zum Plattenspieler. Nach einem kurzen Rauschen ertönte eine Melodie. »Sag mir, wo die Liebe ist? Wo ist sie geblieben?«, Marlene Dietmars rauchige und weltbekannte Stimme umhüllte den Raum. Dorothea summte mit.

Wieso bin ich so? Warum verletze ich alle Menschen in meinem Leben? Moment mal. Musik? Was macht Frau Berger da? Pfeiffer fühlte sich auf einen Schlag unwohl. Auch Richard schaute auf. Das Lied bedeutete ihm viel, doch warum machte seine Frau in so einer Situation Musik an, als wäre nichts? Okay, was läuft hier? Das Ehepaar verhielt sich auffällig, bemerkte Pfeiffer. Maria liebte Psychothriller und Pfeiffers Bauchgefühl sagte ihm, dass er sich mitten in einem befinden könnte. Er musste schlauer sein als die Protagonisten dieser Filme. Er blickte sich im Raum um. Wonach könnte er greifen, wenn er sich schnell verteidigen müsste. Einen Bilderrahmen? Naja, man könnte ihn werfen, aber dafür bräuchte er mehrere, damit es was brachte. Moment mal, ist das nicht ein Bild von…? Er sah sich weiter um und blickte auf den singenden Plattenspieler. Pfeiffer wusste nicht wirklich, wie schwer ein Plattenspieler war, also konnte er nicht einschätzen, ob er als schnelle Waffe taugte. Er fragte sich nur gerade, ob vorher auch schon so viele Marlene Dietmar Fanartikel im Haus verteilt waren.

»Richard, ich weiß, dass du sie im Keller versteckt hattest. Du musst sie loslassen. Für uns«, setzte Dorothea an und unterbrach dabei Pfeiffers Überlebensplanung. »Du hast doch mich! Bedeutet das denn gar nichts?«, sagte sie mit flehenden Augen zu ihrem Mann.

»Dorothea!«, schrie Richard auf. Plötzlich wirkte er ganz anders auf Pfeiffer. Richard packte seine Frau an den Schultern. »Dorothea, wo ist sie, warst du das? Wo ist meine Marlene? Was hast du mit ihr gemacht?«

Meine Marlene? Keller? Loslassen? Was geht hier vor sich?, fragte sich Pfeiffer. Er kam zu den Bergers für Antworten und jetzt hatte er noch mehr Fragen.

»Meine Marlene?«, wiederholte Dorothea Pfeiffers Gedanken. Man merkte, dass in ihrem Kopf etwas passierte. Sie dachte intensiv nach. »Ich habe alles versucht, Richard, ich kann nicht mehr. Ich wollte dich niemals verletzen, dafür liebe ich dich viel zu sehr. Ich flehe dich an, komm zurück! Liebst du mich denn gar nicht mehr?«

»Was hast du getan! Ich brauche sie! Ich liebe sie! Bring sie zurück…!« Keine genaue Antwort auf ihre Frage, aber dennoch sehr deutlich. »Richard, hör bitte auf, ich flehe dich an.« Dorothea wollte die Hoffnung nicht aufgeben, sie musste ihm doch noch wichtig genug sein. »Sag mir, wo sie ist. Sonst bist du für mich gestorben«, die Worte ihres Mannes trafen sie wie ein Blitz. Ihre Miene änderte sich langsam. Sie wirkte nun ruhiger und gefasster. Eigentlich sollte die Entscheidung erst am Abend fallen. Idealerweise würde Pfeiffers Ex-Frau, die nach Dorothea nur minimal aussah wie die Stilikone des 20. Jahrhunderts, Pfeiffer in die Arme fallen, er wäre ihr Held, ihr gewalttätiger Mann war Geschichte, ihr Ex-Mann hätte sie gerettet und dieser hatte seine Maria nicht mehr, darum hatten sich Dorothea und Frank ebenso gekümmert und es ging schneller als gedacht. Sie mussten Pfeiffer nicht einmal eine zweite Aufgabe geben. Marias Schicksal war von Anfang an besiegelt. Ein perfekter Plan, eine zweite Chance für die Ehe. Doch Dorothea erkannte in diesem Augenblick die bittere Wahrheit, dass auch das Richard nicht dazu bringen würde, sie wieder so zu lieben wie früher. Das verstand sie jetzt. »Dann sei es so!«, sagte sie, nahm ihr Handy zur Hand, öffnete ein Fenster, sah auf dem Bildschirm Pfeiffers und Bergers Marlene, drückte auf einen Knopf und das Kamerabild verfärbte sich nach einem lauten Knall rot. Ich erlöse dich vom Leid der Liebe. Sei es ein zu wenig oder ein zu viel. Du bist frei, betete Dorothea für sie, während der Körper parallel zur Musik des Plattenspielers in sich einsackte.
Dann nahm sie eine Waffe aus einer Schublade heraus und schoss ohne zu zögern auf ihren geschockten Mann. Seine Augen weit aufgerissen wie die der Frau, die er entführte, liebte und zwang, Lieder für ihn zu singen. Ihre Ehe war verloren, Dorothea war nur zu blind es zu erkennen. Er liebte sie nicht mehr und würde es auch nicht mehr tun. Ich erlöse dich vom Leid der Liebe. Sei es ein zu wenig oder ein zu viel. Du bist frei. Bis dass der Tod uns scheidet. Tränen der Erkenntnis und des Verlustes kullerten ihre Wange hinunter.

Es ging alles so schnell, anders als in diesen Psychothrillern. Aber das hier war kein Film, das war pure Realität und genau jetzt stand er in Schockstarre? Beweg dich, du Nichtsnutz, los, ermahnte Pfeiffer sich selbst. Dorothea wandte sich nun direkt zu ihm. Verdammt, jetzt ist es soweit. War das das Ende? Er machte sich bereit und versuchte an etwas Schönes zu denken. Er sollte nicht in Angst sterben. Maria, ich komme zu dir, wiederholte er mehrmals in seinem Kopf und versuchte nicht darauf zu warten, dass es passierte.

Nach 60 Sekunden fiel ein letzter Schuss.

Marlene. Das konnte kein Zufall sein. Herr Berger beschlich ein ungutes Gefühl. Es war lange her. Schon längst hatte er es verdrängt. Abgelegt und archiviert in eine entfernte Schublade seiner Erinnerungen. Eine Krawatte als einziges übergebliebenes Erinnerungsstück.
Und nun? Und nun wurde das Bild des Geschehenen klarer. Es war kein Zufall. Aber wer war es, der dahinter steckte. Wer hatte sich an dem Archiv seiner Erinnerungen zu schaffen gemacht? Zwischen ihm und dem Täter bestand eine Verbindung. Doch welche das war, konnte er noch nicht erahnen. Egal wie sehr er sich auch anstrengte, er konnte die Verbindung nicht finden. Wer war es, der ihm an diesem Tag gegenüberstand und ihm vorwarf, ein ausbeuterischer Mörder zu sein.
Er stand Gedanken versunken im Flur. Herr Pfeiffer war gerade dabei sein Auto vorzufahren. Er hatte es paar Häuser weiter an der Straße geparkt. Er hatte ihn dazu überredet, dass sie gemeinsam der Aufforderung des Unbekannten folgen würden. Viel Überredungskunst hatte aber Herr Pfeiffer nicht aufbringen müssen, denn die Tatsache, dass Marlene irgendwie mit in der Sache verwickelt war, konnte nur bedeuten, er war kein zufälliges Opfer gewesen. Der Unbekannte hatte es auf ihn abgezielt. Er musste wissen, was hinter dem gesamten Geschehen steckte. Was er jedoch nicht verstand, war, wie Christian Pfeiffer, ein Online-Redakteur in Verbindung zu dem Ganzen stand.
Er starrte das Kreuz an, welches über ihren Schuhschrank hing. Wohin würde er sich nur gerade begeben? Was würde ihn erwarten? Weder Herr Pfeiffer noch seine Frau Dorothea waren gerade bei ihm. Was wäre, wenn er die Polizei doch informieren würde. Heimlich. Niemand sah ihm gerade dabei zu. Nein. Das konnte er nicht. Es war zu riskant. Wer weiß schon, welche Konsequenzen es nach sich gezogen hätte. Schließlich hatte der unbekannte Täter bereits deutlich gemacht, dass mit ihm nicht zu spaßen wäre.
Er hörte die Schritte seiner Frau, die gerade die Treppe herunter kam. In ihrer Hand hielt sie einen dickeren Umschlag. Sie hielt ein paar Schritte vor ihm an, den Umschlag fest in ihrem Griff, und schaute mit einem besorgten Blick in seine Richtung. Er dreht sich zu ihr. Sie schwieg ihn an.
„Ich muss gehen, Dorothea.“
„Bist du dir sicher?“
„Ja. Ich will wissen, wer dahinter steckt. Ich muss es wissen. Irgnedjemand hat es auf mich abgesehen, Schatz.“
„Gerade deshalb solltest du dir es vielleicht nochmal überlegen. Vielleicht solltest du doch lieber zur Polizei.“
Seine Frau erschrak, als sie die Hupe des Redakteurs hörte. Ein Signal, welches bedeutete, dass ihr man sich nun auf den Weg machen musste. Was wäre, wenn er nicht mehr zurückkehren würde.
„Nein, mir wird schon nichts passieren.“
Er ging auf ihr zu und nahm ihr den Umschlag aus der Hand und steckte sich ihn in die Tasche seines Mantels. Dann schaute er sie sich nochmal an und umarmte sie nochmal fest, bevor ihr einen Kuss auf die Stirn gab und durch die Tür verschwand. Auch, wenn er entschlossen schien, war er nicht weniger beängstigt und nervös, als seine Frau. Sie folgte ihm noch und schaute zu, wie er in das Auto von Herrn Pfeiffer stieg, der vor ihrem Gittertor auf ihren Mann gewartet hatte. Die Uhr zeigte 19:40 Uhr, als sie losfuhren. Sie wollten unter keinen Umständen zu spät sein. Darauf hatte Herr Pfeiffer gedrängt, der nur zu gut wusste, was auf dem Spiel stehen würde, wenn sie nicht pünktlich um 20:05 Uhr an dem vereinbarten Ort sein würden.
Marlene. Seine Kollegin von seiner vorherigen Stelle, bevor er von Magnus strafversetzt wurde. Kurz vor seiner Versetzung noch arbeitete er gemeinsam mit ihr an einer Story. Warum war sie scheinbar von diesem Unbekannten entführt worden? Und woher kannte Herr Berger sie? Dieser saß gerade neben ihm auf dem Beifahrersitz. Während er seine anfängliche Nervosität beiseitegelegt hatte, indem er sich Maria wieder in Gedanken gerufen hatte, schien es seinem Leidensgenossen immer noch gleich zu gehen. Dieser strotzte nur so vor Nervosität. Gleichzeitig hielt er beständig seine eine Hand in seiner Manteltasche versteckt. Was befand sich darin, dachte sich Pfeiffer. Seit dem Video mit Marlene schien er anders zu sein als zuvor. Irgendwas wühlte ihn auf. Er war sehr nachdenklich und still.
Die Fahrt verging und sie fuhren auf ein Gelände eines verlassenen Kleinunternehmens. Das Tor stand weit offen.
„Das ist der Ort.“
Es herrschte eine beängstigende Atmosphäre. Die Uhr zeigte 19:55 Uhr an. Niemand schien in der Nähe zu sein. Es war ruhig und es waren bis auf ihr Auto in der Nähe auch kein anderes Auto zu sehen. Pfeiffer schaute sich um. Er versuchte, das gesamte Gelände zu studieren. Er musste vorbereitet sein. Der Unbekannte durfte ihn nicht überraschen. Während er sich umschaute, blickte Herr Berger lediglich stumpf auf das herabgekommene Firmenschild, welches an dem Gebäude hing.
„Kennen sie diese Firma?“
„Nein.“, kam abrupt die Antwort, die sich nicht gerade nach der Wahrheit anhörte.
Komisch, dachte sich Pfeiffer. Während all seiner Zeit als Redakteur hatte er ein Gespür dafür entwickelt, wenn jemand ihm etwas verschwieg. Irgendwas verheimlichte ihm Herr Berger. Auch seine Frau musste davon wissen. Beide reagierten sehr komisch nach dem Video. Nicht wie zuvor. Wenn er hinter dem Ganzen kommen wollte, so musste er auch dahinter kommen, was ihm der Herr neben ihm verschwieg.
Herr Berger zeigte in Richtung einer Außentreppe, die zu einer Tür hinaufführte.
„Da. Die Tür steht offen.“
Herr Pfeiffer öffnete seine Autotür.
„Was? Wollen sie da etwa einfach so rein?“
„Was sollten wir sonst tun? Hier ist sonst weit und breit niemand. Und das ist die Adresse.“
„Sie können doch da nicht einfach rein.“
Er hatte sich in der Vergangenheit schon in ähnlich gefährlichen und ungewissen Situationen begeben.
„Doch, kann ich.“
Für Maria dachte er sich. Er musste aufdecken, warum alles passieren musste. Warum seine Maria sterben sollte. Er stieg entschlossen aus seinem Wagen. Herr Berger tat es ihm gleich. Er ging vor und Herr Berger folgte ihm.
Während sie auf die Tür zugingen, schauten sie sich stetig um. Als sie vor der Tür standen, schaute Herr Pfeiffer langsam hinein. Niemand zu sehen, geschweige denn zu hören. Waren sie etwa zu früh? Die Wände jedoch glichen den Wänden im Video und dies war die richtige Adresse, wie in dem Dokument. Sie mussten also zumindest am richtigen Ort sein. Entschlossen aber mit leisen Schritten trat er ein. Hinter ihm Herr Berger. Auf dem Boden lagen zahlreiche Gegenstände herum. Während sie weiter vordrangen, begannen sie, leise Geräusche zu vernehmen. Sie folgten dem Geräusch. Vor ihnen befand sich nun eine von der Decke herabhängende Plane. Dahinter schien Licht. Vorsichtig schob er die Plane zur Seite und vor ihm fand er tatsächlich eine fällig verängstigte Marlene, gefesselt auf dem Boden vor. Erschrocken und doch irgendwie erleichtert ihn zu sehen, bat sie ihn mit ihren Bewegungen und dumpfen Schreien, sie von ihren Fesseln zu befreien. Er schaute sich schnell um und es schien so, als wäre niemand anderes da. Er ging schnellen Schrittes auf sie zu und nahm ihr als ersten das Tape vor ihrem Mund weg.
„Ist er noch hier?“, fragte er sie nach ihrem Entführer aus.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich hatte ihn wegfahren gehört. Ich soll euch eine Botschaft übermitteln.“
Plötzlich machte sie erneut ein erschrockenes Gesicht, während sie hinter ihm blickte. Doch er konnte nicht schnell genug zurückblicken. Er spürte nur noch einen heftigen Schlag an seinem Hinterkopf und fiel direkt zu Boden. Dabei war das Letzte, was er sehen konnte, bevor ihm schwarz vor Augen wurde, Herr Berger der eine Metallstange zu Boden fallen lies.

Kopflos

„Woher kennen Sie denn Marlene?“, fragte Dorothea, die alles über die Schulter der beiden beobachtet hatte.

Pfeiffer erwachte aus seiner Schockstarre. „Sie war Marias Mentorin aus der Klinik. Maria hat sich gerne um Menschen gekümmert, die unter schwerer Schizophrenie litten. In diesem Bereich hat Marlene schon seit Jahren geforscht, und die beiden haben sich oft bei uns getroffen, über ihre Arbeit gesprochen und gefachsimpelt. Aber woher kennen Sie sie denn?“

Richard Berger rutschte leicht verlegen auf seinem Stuhl herum.

„Nun sag es ihm schon Richard, wer weiß, vielleicht können wir Marlene damit helfen!“

Berger nahm einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse und begann stockend zu erzählen.

„Wissen Sie, ich komme aus einer Zeit, da wurde gar nicht über sowas geredet. Solche Leute haben wir damals einfach totgeschwiegen. Die meisten wussten natürlich trotzdem davon, aber man hat die dann einfach nicht nach draußen gelassen. Die meisten hatten trotzdem ein ganz schönes Leben, glaube ich. Andere Zeiten eben.“

Pfeiffer sah ihn verständnislos an.

„Richard, jetzt drück dich doch mal etwas klarer aus, das versteht doch so kein Mensch.“

„Ach so, ja. Also, ich erzähle das nur selten, eigentlich fast nie, aber ich habe eine Schwester. Lilian. Das wissen gar nicht so viele, weil, also wie gesagt, damals waren das einfach andere Zeiten –“

„Richard!“

„Entschuldige. Ja, also wir wussten damals gar nicht, wie man mit sowas umgeht, mit so – Behinderungen. Viele haben Ihre Kinder dann zuhause versteckt, wenn sie gemerkt haben, dass die nicht ganz normal sind. Grade bei uns auf dem Land. Auf Dachböden oder in den Kellern. Manche haben sie auch misshandelt, geschlagen, oder zur Arbeit gezwungen. Das gab es bei Lilian natürlich nicht. Aber raus durfte sie trotzdem nicht. Meine Eltern haben sich immer sorgen gemacht, was wohl passieren könnte, wenn die Nachbarn sie sehen. Ich war ihr einziger Freund. Jeden Nachmittag habe ich zusammen mit ihr auf dem Speicher gespielt. Ja, aber irgendwann hat sie angefangen, richtig komisch zu werden. Sie wollte nicht mehr spielen, essen, sie hat sich sogar geweigert, auf die Toilette zu gehen. Irgendwann ging es dann nicht mehr, und wir mussten Sie in ein Heim geben. Das war vor zehn Jahren. Und Marlene, die war die Pflegerin von meiner kleinen Lilian. Sie hat sich wirklich gut um die gekümmert. Also bis sie letztes Jahr gestorben ist. Aber Lilians Zustand hat sich wirklich nochmal stark verbessert, und ich glaube, das verdanken wir in erster Linie Marlene und ihrer Arbeit. Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht schlecht von mir, weil ich zugelassen habe, dass man meine kleine Schwester wegsperrt. Es war eben wirklich eine andere Zeit.“

Zu seinem eigenen Erstaunen dachte Pfeiffer tatsächlich nicht schlecht von Berger. Generell dachte er eigentlich nur darüber nach, dass mit diesem Detail, mit dieser Verbindung, nun endlich etwas gefunden war, was eine Art roten Faden herstellte. Das alles hing zusammen. Vermutlich mit Marlene. Er konnte immer noch nicht erkennen, was genau hinter der Sache steckte, aber er hatte doch eine Vermutung. Was, wenn Maria auch den Mann kannte, der sich vor Bergers Haus erschossen hat? Was, wenn der Mann auch Marlene kannte? Was war das verbindende Element zwischen all diesen Menschen? Konnte es die Psychiatrie sein? Hatte Lilian während ihres Aufenthaltes dort vielleicht etwas ausgeplaudert, was besser niemand erfahren sollte? So viele Fragen …

„Herr Berger, wir müssen zu diesem Treffen erscheinen.“

„Ich weiß“, sagte Berger, „Sonst wird Marlene bestimmt die nächste sein.“

„Die nächste, aber bestimmt nicht die letzte“, raunte Pfeiffer, und steckte sich eien Zigarette an. Er sah auf seine Armbanduhr.

„Wir haben noch knappe drei Stunden. Kommen Sie, lassen Sie uns alles zusammentragen, was wir über Lilian, Marlene und Maria wissen. Es muss einige Gemeinsamkeiten geben, durch die sich das Rätsel aufklären lässt. Wir dürfen nicht unvorbereitet zu diesem Treffen erscheinen. Wer weiß, was dieser anonyme Täter mit uns vor hat.“

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Berger und Pfeiffer sahen sich an, Frau Pfeiffer war bereits unterwegs, um die Tür zu öffnen. Ihr Mann hielt sie zurück und legte den Finger auf die Lippen. Pfeiffer folgte ihm auf einen Wink hin Richtung Tür. Pfeiffer drückte sich in eine Ecke, während Berger öffnete und nach draußen sah.

„Sie?“ Das Erstaunen in Bergers Stimme war nicht zu überhören. Dann erklang ein Zischen und ein dumpfes Pochen. Eine Sekunde später stürzte Bergers Körper leblos zu Boden. Ohne Kopf.

Pfeiffer riss die Tür auf. Das erste, was er sah, war der leblose Kopf Bergers, der ihn aus kalten Augen vom Boden entgegenstarten. Dann suchte sein Blick den Täter. Doch die Straße war gänzlich leer. Zu sehen war alleine ein weißer Transporter, der gerade um die Ecke bog und davon fuhr. Pfeiffer konnte ihn grade noch Lange genug sehen, um den Schriftzug der Firma erkennen zu können, der der Wagen gehörte.

Psychiatrisches Zentrum Frankfurt

Stand dort in dicken schwarzen Buchstaben geschrieben. Die Klinik, für die sowohl Marlene, als auch Maria gearbeitet hatten.

»Sie sollte doch in Köln sein!« Berger raufte sich die Haare. Er sprang auf, lief um den Tisch und verließ die Umlaufbahn des Sofas. Auf und ab, auf und ab. Mit beiden Händen fuhr er sich über das Gesicht. »Sie hat mir vergangenen Sonntag erst auf WhatsApp geschrieben!« Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Christian Pfeiffer verfolgte das Auf- und Abgehen des Mannes. Wie ein Bär mit Käfigkoller. Beiläufig registrierte er das Christus-Kreuz über der Wohnzimmertür und den Weihwasserbehälter neben den Türrahmen.
»Woher -«, setzte Berger an und warf ihm im Gehen einen Blick zu.
»Grundgütiger, das habe ich nicht gewollt.« Dorothea Berger bekreuzigte sich und faltete die Hände wie zum Gebet. Aschfahl sank sie in das Sofa.
»Was soll das heißen, Dorothea?!« Bergers Auf und Ab kam abrupt zu einem Stillstand. Seine Hände packten die lederne Sofalehne.
Pfeiffer vertagte seine Antwort auf später. In was für einen Albtraum war er hier bloß gelandet?
»Richard«, flehend öffnete sie ihre Hände, »Sie hat vor ein paar Tagen erst wieder angerufen.« Nervös schweifte ihr Blick zu Pfeiffer, als ob sie sich unsicher war, vor ihm fortzufahren.
»Raus damit. Was. Wollte. Marlene?«
»Kannst du dir das nicht denken?!«, platzte es aus Dorothea heraus. »Mal ist es die Miete, dann wieder das Auto! Mit 45 Jahren übernehmen andere Verant-.«
»Verdammt noch mal, sie ist meine Tochter!« Speicheltröpfchen flogen. Bergers Hand schlug mit einem dumpfen Schlag auf die Sofalehne.
Pfeiffer und Dorothea Berger zuckten zusammen.
Wenn sie aus dieser Nummer heile herauskommen wollten, mussten sie einen kühlen Kopf bewahren. Zittrig sog er die Luft ein.
»Herr Berger, bitte, setzen Sie sich. Wenn wir Ihrer Tochter helfen wollen, dann sollten wir zusammentragen, was wir wissen.«
Richard Berger rang zittrig nach Atem. Und setzte sich – auf die Dorothea Berger gegenüberliegende Seite.
Nun gut, wer fragt, führt, dachte sich Christian Pfeiffer. »Um was für einen Geldbetrag ging es Ihrer Tochter?«, wandte er sich an Dorothea.
»Sie ist nicht ihre Tochter«, fuhr Berger dazwischen, »Ansonsten würde sie es verstehen.«
Dorothea Berger betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch und schnäuzte sich. »Es ging ihr um 5.000 € – angeblich für eine neue Waschmaschine. Sie bräuchte das Geld sofort. - Wer’s glaubt!« Sie schnaubte unfein. »Richard, ich … wie hätte ich ahnen können, dass …« Sie hob entschuldigend die Arme.
»Ich verstehe.« Allerdings. Ein paar hundert Euro hier, dann ein paar hundert Euro dort. Spritkosten, eine Finanzspritze für den Wocheneinkauf, ein neues Abendkleid, Schmuck. Marlene und Christian hatten sich grundsätzlich bei ihr getroffen. Damals, vor seiner Degradierung. Maria blieb ahnungslos – sie wusste weder von seiner Versetzung noch von Marlene.
Christian versuchte nicht daran zu denken. Es war schäbig, nicht richtig. Und trotzdem kam er nicht von Marlene los. Sie war sein Kryptonit.
»Und wie lange geht das schon so?«
»Herrschaftszeiten! Das führt doch zu nichts! Mein Mädchen liegt geknebelt in irgendeinem Keller! Wer weiß, was dieser Mistkerl mit ihr macht!«
»Woher kennen Sie Marlene?«, erkundigte sich Dorothea Berger.
Jetzt war es also an der Zeit, Farbe zu bekennen.
»Marlene und ich waren … wir hatten – vor einiger Zeit – eine Affäre.« Damit war es raus und beschmutzte post mortem das Leben, das er mit Maria geführt hatte.
»Vor einiger Zeit«, wiederholte Richard Berger. »Und wie lange ist das her?«
Die Augen der Bergers bohrten sich anklagend in seine. Ehebrecher war darin abzulesen.
Christian Pfeiffer schloss für einen Moment die Augen und atmete hörbar ein.
»Sie hat sich kurz vor Marias Tod nicht mehr gemeldet.«
Dorothea Berger schüttelte tadelnd den Kopf.
»Sie haben Recht«, begehrte Christian Pfeiffer auf, »das führt zu nichts. Der Täter ist uns immer einen Schritt voraus. Es gibt bereits zwei Tote.« Maria. Mittlerweile war sie nur das: eine weitere Tote. Die Presse hatte sich ein paar Tage daran geweidet und war dann zum Tagesgeschäft zurückgekehrt. Pfeiffer schluckte den bitteren Beigeschmack herunter. Vielleicht war wirklich etwas dran an der Unterstellung des Täters. Die Presse war eigennützig. »Wir sollten die Polizei informieren.«
»Auf gar keinen Fall!«, polterte Berger los. »Im Schreiben steht explizit keine Polizei! Wenn Sie zu feige sind, steht es Ihnen frei zu gehen. Aber ICH riskiere nicht das Leben meiner Tochter!«
Christian Pfeiffer griff nach seinem Mantel und wühlte in der Tasche nach seinem Smartphone. Die Pflicht, immer und überall erreichbar zu sein … Wer hätte gedacht, dass sich dieser Fluch einmal als Segen herausstellte …
»Haben Sie die Person gesehen, die das Päkchen abgelegt hat, Frau Berger?«
Sie schüttelte den Kopf. Natürlich nicht.
»Keine Polizei«, stimmte er Berger zu, »jedenfalls nicht offiziell.«
Kommissar Knepp war seine zuverlässige Quelle, wenn es um Informationen über Verkehrsunfälle ging. Es war nicht viel, aber besser als nichts.
»Pfeiffer mit drei F hier, grüß dich.« Christian Pfeiffer bemühte sich um einen leichten, unbekümmerten Tonfall und bedeutete den Bergers mit einem Zeigefinger, zu schweigen.
Ein schnarrendes Auflachen am anderen Ende.
»Pass auf, ich habe einen anonymen Hinweis erhalten, dass im Industriegebiet Höchst regelmäßig im großen Stil Drogen übergeben werden. Hast du Zugriff auf die umliegenden Verkehrsampeln?«
Knepp lachte trocken auf. »Da ist standardmäßig alles verpixelt. Datenschutz. Vielleicht lässt sich über die Firmengelände was abfangen. Wann soll der nächste Deal denn stattfinden?«
»Mein Informant war recht vorsichtig, er schien Angst zu haben. Wie weit lässt sich in den Aufzeichnungen zurückgehen? Wenn dir was auffällt: Fahrzeuge, die dort nicht hingehören … na ja, du weißt schon.«
»Ist unterschiedlich. Mit etwas Glück zwei Wochen. Ich mach mich mal schlau und melde mich.«
»Vielen Dank. – Und wir zwei sollten endlich mal wieder ein Bier zusammen trinken.« Knepp trank kein Bier, und auch sonst keinen Alkohol. Nur Schwarztee. Mit Milch. Das wusste Pfeiffer.
Knepp stutze am anderen Ende. »Mh. Klingt gut. Wann?«
»Wie wär’s heute Abend, wir könnten uns das Fußballspiel ansehen? Nach all dem, was passiert ist, sollten wir’s nur nicht direkt übertreiben. Ich mag nicht gleich mit der kompletten Mannschaft los, das wird zu viel.« Pfeiffer betete, dass Knepp den Wink mit dem Zaunpfahl verstand. Nicht übertreiben, keine sichtbare Polizei.
»Verstehe. Eintracht gegen Dortmund – klingt vielversprechend. Da kocht der Kessel.«
Pfeiffer atmete erleichtert aus. Von wegen gegen Dortmund. Knepp hatte verstanden. Mit ein paar weiteren, scheinbar harmlosen Floskeln beendeten sie das Gespräch.
Mit dieser Rückendeckung würde er sich mit Berger ins Industriegebiet wagen.

Die Stille im Raum war drückend, als die beiden Männer sich in die Augen sahen. Ein unausgesprochenes Verständnis schwang zwischen ihnen mit, eine Verbindung, die durch Schmerz und Verlust genährt wurde. Christian Pfeiffer fühlte, wie sich das Adrenalin in seinen Adern aufstaute. Marlene, die Tochter der Bergers, war seit Wochen verschwunden. Ihr Bild hatte er unzählige Male in den Nachrichten gesehen, das Lächeln, das nun von der grausamen Realität des Videos überschattet wurde.

„Wir müssen sofort handeln“, sagte Pfeiffer, während er aufsprang und den Laptop schloss. „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

„Wohin?“, fragte Berger, der sichtlich blass geworden war. „Was, wenn wir ihn damit provozieren?“

„Das Risiko müssen wir eingehen. Wenn er Marlene hat, hat er die Kontrolle. Wenn wir die Polizei informieren, könnte es zu spät sein. Wir müssen selbst herausfinden, was hier vor sich geht.“

Dorothea fiel die Kaffeetasse aus der Hand, als sie die schreckliche Wahrheit begriff. „Das kann nicht sein, das darf nicht sein!“

„Wir müssen uns beeilen!“ Pfeiffer griff nach dem Zettel mit der Adresse und studierte sie eingehend. „Das Industriegebiet. Es ist nicht weit von hier.“

„Ich komme mit“, entschied Richard Berger, der sich nun aufgerafft hatte, als wäre ihm ein neuer Mut eingehaucht worden. „Es geht um meine Tochter. Ich lasse sie nicht im Stich.“

„Das Risiko ist hoch“, warnte Pfeiffer, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu argumentieren. Ihnen blieb keine Wahl. Sie würden zusammen gehen, als Verbündete in dieser Dunkelheit.

Der Regen hatte nachgelassen, als sie in Bergers Auto stiegen. Die Straßen schimmerten unter den sporadischen Straßenlaternen, die wie gespenstische Augen in die Nacht starrten. Christian konnte das Klopfen seines Herzens hören, während er den Zettel mit der Adresse fest in der Hand hielt. Er war kein Unbeteiligter mehr; er war Teil eines Spiels, dessen Regeln ihm unbekannt waren und dessen Preis möglicherweise das Leben eines unschuldigen Menschen war.

„Hast du eine Waffe?“, fragte Berger mit einer plötzlichen Schärfe in seiner Stimme.

„Nur das hier.“ Pfeiffer hielt einen kleinen Taschenmesser hoch. „Ich bin kein Kämpfer. Aber ich werde alles tun, um Marlene zu retten.“

„Das ist nicht genug!“, entgegnete Berger, seine Stimme war fest und entschlossen. „Sie ist meine Tochter. Ich werde nicht aufgeben, egal was passiert!“

Die Spannung im Auto war greifbar, als sie die letzten Straßen zum Industriegebiet durchquerten. Unvermittelt sah Pfeiffer auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war 19:47. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die Zeit dachte, die ihnen blieb.

„Wir müssen einen Plan haben“, sagte er hastig. „Wir können nicht einfach hineinplatzen. Wir wissen nicht, was uns erwartet.“

„Wir müssen den Ort auskundschaften und herausfinden, ob es einen Ausgang gibt“, erwiderte Berger. „Wir müssen alle Optionen abwägen.“

Als sie schließlich vor dem verlassenen Lagerhaus hielten, war es schon beinahe dunkel. Das Gebäude wirkte wie ein gespenstischer Riese, der im Nebel verschwand. Die Fenster waren dreckig, und die Tür hing schief in den Angeln, als wäre sie ein Wächter, der über ein verborgenes Geheimnis wachte.

„Hier“, sagte Pfeiffer leise und deutete auf eine schmale Seitentür. „Wir sollten dort hineingehen.“

Sie schlichen sich vorsichtig aus dem Auto, das Geräusch ihrer Schritte wurde von der kühlen Nachtluft verschluckt. Der Geruch von feuchtem Beton und rostigem Metall stieg ihnen in die Nase, während sie sich der Tür näherten. Mit einem tiefen Atemzug drückte Pfeiffer die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt breit.

Dunkelheit empfing sie, nur durch einen schmalen Lichtstrahl, der durch einen Riss in der Decke fiel, beleuchtet. „Bleib hinter mir“, flüsterte Pfeiffer und trat vorsichtig ein.

Im Inneren war es still, zu still. Ein Gefühl der Unbehaglichkeit durchzog ihn, als sie langsam weitergingen. Plötzlich hörten sie ein Geräusch, ein leises Wimmern, das durch die Stille schnitt. Es kam aus einem Raum am Ende des Flurs.

„Marlene!“, rief Berger, seine Stimme war voller Verzweiflung.

„Sei leise!“, zischte Pfeiffer und zog ihn zurück. „Wir wissen nicht, ob er da ist.“

Sie schlichen näher, das Wimmern wurde lauter, die Angst drückte sich wie ein kalter Stein in Pfeiffers Magen. Er wusste, dass sie jetzt keine Fehler machen durften. Die Wahrheit lag in diesen Wänden verborgen, und mit jedem Schritt traten sie weiter in die Dunkelheit ein, bereit, das Unbekannte zu konfrontieren.

Die Schatten des Verborgenen

Christian Pfeiffer und Richard Berger starrten auf den Bildschirm des Laptops, auf das Standbild der verängstigten Marlene. Ihre Blicke trafen sich, voller Fragen und wachsender Panik. Die Nachricht auf dem USB-Stick war eindeutig – und zugleich unheimlich kryptisch. Die Adresse führte in das Herz eines Industriegebiets, das seit Jahren verlassen war. Doch es war nicht nur die Anweisung, die sie beunruhigte. Es war der Ton der Worte, die sie lasen, die spürbare Drohung, die zwischen den Zeilen lauerte.

„Das hier ist nicht nur Erpressung“, sagte Pfeiffer leise, mehr zu sich selbst als zu Berger. „Das ist … etwas anderes.“

Der Weg ins Ungewisse

Das Industriegebiet empfing sie mit einer eigenartigen Stille. Die Stellten den Mietwagen, einen unauffälligen Skoda Octavia am Randstein ab. Der Regen, der vorher noch auf die Stadt niedergeprasselt war, hatte aufgehört. Die Luft schien schwer, fast erstickend, und die Straßenlaternen flackerten in unregelmäßigen Abständen, als würden sie sich gegen das Unheil wehren, das in den Schatten lauerte.

Die Adresse führte zu einem gewaltigen Betonbau, dessen Fenster blind und dunkel waren. An der Tür hing eine rostige Kette, die sich bei der bloßen Berührung von Bergers Hand löste und klirrend zu Boden fiel. Es war, als hätte jemand sie erwartet.

„Das ist eine Falle“, flüsterte Berger, aber Pfeiffer trat bereits ein, seine Taschenlampe fest umklammert.

Das Innere war nicht besser. Die Luft war stickig, und das schwache Licht ihrer Taschenlampen reichte kaum aus, die langen Flure auszuleuchten. Irgendwo tropfte Wasser, und in der Ferne schien sich ein Schatten zu bewegen – oder war es nur eine Täuschung?

Die Enthüllung

In der Mitte der Halle war ein Kreis aus Kreide auf den Boden gezeichnet, durchzogen von fremdartigen Symbolen, die Pfeiffer nicht zuordnen konnte. Im Zentrum kniete Marlene, gefesselt und mit weit aufgerissenen Augen.

„Marlene!“ schrie Berger und stürzte auf sie zu, doch Pfeiffer hielt ihn zurück.

„Warte“, sagte er. „Schau dir das an.“

Die Kreide schien zu glühen, als Berger näherkam, als würde sie auf seine Anwesenheit reagieren. Die Luft vibrierte, ein tiefes Summen erfüllte die Halle, und plötzlich begann Marlene zu schreien – nicht aus Angst, sondern aus purer Verzweiflung.

„Ihr müsst gehen!“ schrie sie. „Es ist noch nicht zu spät! Sie kommen! Sie kommen!“

Doch bevor sie erklären konnte, wen oder was sie meinte, hallte eine tiefe, verzerrte Stimme durch die Halle, obwohl niemand zu sehen war.

„Ihr seid gekommen wie bestellt“, sagte die Stimme. „Und nun wird die Wahrheit offenbar.“

Das Unheimliche nimmt Gestalt an

Die Kreidesymbole leuchteten grell auf, und eine unnatürliche Dunkelheit breitete sich aus, als wäre das Licht selbst verschluckt worden. Aus den Schatten traten Gestalten hervor – humanoid, aber mit grotesken Zügen: verlängerte Gliedmaßen, leere Augenhöhlen, und ein ständiges Flüstern, das sich wie eisige Finger um ihre Gedanken legte.

„Das ist nicht real“, flüsterte Pfeiffer, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass es keine Illusion war.

Die Gestalten blieben am Rand des Kreises stehen, als ob sie von den Symbolen zurückgehalten würden. Doch das Flüstern wurde lauter, schärfer, durchdrang jede Barriere des Verstandes.

„Ihr habt euch selbst gewählt“, sagte die Stimme erneut, diesmal nah und eindringlich. „Eure Gier, eure Schuld, euer Egoismus – sie haben euch hierhergebracht. Und jetzt werdet ihr Teil von etwas Größerem.“

Das Unbekannte enthüllt sich

Pfeiffer taumelte zurück, als eine der Gestalten ihre Hand hob. In ihren dürren Fingern hielt sie einen alten, vergilbten Brief. Als er nach vorne trat, erkannte er seinen eigenen Namen darauf, handgeschrieben in einer Schrift, die er nie zuvor gesehen hatte.

„Was ist das?“ fragte er, doch die Gestalt schwieg.

„Es ist dein Urteil“, sagte die Stimme. „Du warst Teil von etwas, das du nie verstanden hast. Und nun wirst du begreifen.“

Die Luft begann sich zu verzerren, als die Kreidesymbole auseinanderbrachen. Die Dunkelheit verschlang die Halle, und Pfeiffer sah nur noch Bruchstücke: Marlene, die weinend zusammenbrach, Berger, der sich mit verzweifelter Kraft gegen eine der Gestalten wehrte, und das Flüstern, das immer deutlicher wurde, bis es schließlich eine Botschaft formte:

„Es gibt keine Zufälle. Ihr seid nur Spielfiguren in einem Spiel, das niemals endet.“

Der Morgen danach

Pfeiffer wachte in der Nähe des Industriegebiets auf, seine Kleidung durchnässt vom Tau. Die Sonne war aufgegangen, doch sie brachte keine Wärme. Neben ihm lag Berger, bewusstlos, aber lebendig. Von Marlene war keine Spur zu sehen.

Als er sich aufrichtete, bemerkte er einen seltsamen Gegenstand in seiner Hand – ein kleiner, polierter Stein, in den ein Symbol eingeritzt war, das ihm bekannt vorkam. Es war eines der Symbole aus dem Kreidekreis.

„Was ist passiert?“ murmelte Berger, der langsam zu sich kam.

Pfeiffer wusste keine Antwort. Doch tief in seinem Inneren spürte er, dass etwas auf sie wartete. Etwas, das sie nicht verstehen konnten.

Zurück in der Stadt war alles normal. Keine Spur von der Halle, keine Nachricht über Vermisste oder seltsame Ereignisse. Doch als Pfeiffer die Nachrichtenseiten durchforstete, entdeckte er etwas, das ihn erstarren ließ:

Eine alte Zeitung, eine kleine Randnotiz, die von einem Ritual sprach, das vor Jahrzehnten an exakt derselben Adresse durchgeführt worden war. Die Schlagzeile lautete: „Opfer gesucht: Der Kreis muss vollendet werden.“

Darunter ein Bild von drei Personen. Einer von ihnen sah aus wie Richard Berger.

Und einer wie er selbst.

Pfeiffer schloss die Augen und hörte wieder das Flüstern. Diesmal war es klar, als wäre es nur für ihn bestimmt:

„Es hat erst begonnen.“

Pfeiffer ließ sich in den Fahrersitz plumpsen. Die Polster des Sitzes fingen ihn sanft auf. Er blickte rüber zu Berger, der mit seinem Hintern langsam an der Rücklehne entlang glitt, bis er ordentlich auf dem Beifahrersitz saß.

„Wie starte ich dieses Geschoss?“ Pfeiffer hielt den fremden Schlüsselanhänger mit der offenen Hand in Bergers Blickfeld.

Der schüttelte wortlos den Kopf, nahm den Anhänger und knallte ihn übertrieben hart an die Lenksäulenverkleidung. „Drücken Sie das Bremspedal.“

„Ist durchgetreten.“ Pfeiffer rollte die Augen. Ein Jaguar F-Type, inklusive grandiosem Theater bis man endlich losfahren konnte.

Berger drückte die Starttaste.

Jetzt war Pfeiffer doch beeindruckt. Der Jaguar schnurrte kaum hörbar vor sich hin. Bereit zum Sprung.

„Vierradantrieb. 300 PS. Innerhalb von sechs Sekunden bringt man dieses Wunder auf 100 Sachen.“

„Und passend zum Image einen Bowlerhut, oder was?“ Pfeiffer nahm seinen Fedora ab und warf ihn nach hinten. Berger sah mit seinem Hut aus wie ein Banker, der mit seiner Steifheit grotesk deplatziert wirkte.

„Das ist der Wagen meiner Frau.“ Berger schaute aus dem Beifahrerfenster auf die akkurat geschnittene Thujahecke, die sein Grundstück umgab. „Ich bin ein starker Befürworter der öffentlichen Verkehrsmittel. Sehen Sie es als ein subtiles Zeichen einer gewissen Bereitschaft für weitere Verhandlungen zwischen Dorothea und uns, dass sie ihn uns zur Verfügung stellt und Sie mich kutschieren, nicht umgekehrt.“

„Sicher, Ihrer Doro sollten wir eine Weile aus dem Weg gehen. Das ist mir ähnlich klar wie Ihnen.“

„Was wissen Sie schon von meiner Frau? Für Sie übrigens Frau Berger.“

„Was Autos angeht, imponiert sie mir. Darüber hinaus bin ich sicher, dass wir sie im Augenblick weder mit der Wahrheit noch mit sonstwas wegen Marlene überzeugen können. Und sie versteht es, eine Tasse Kaffee in ein erinnerungswürdiges Erlebnis zu verwandeln.“

„Herr Pfeiffer, von Kaffee und Autos haben Sie nicht die geringste Ahnung. Allerdings haben Sie und ich das gleiche Ziel. Nur deswegen mache ich mit Ihnen gemeinsame Sache. Und ja, wenn wir das nicht erreichen, kann ich mich, zumindest, was meine Frau betrifft, nun ja – eintüten.“

Pfeiffer schnallte sich an, schaltete von P auf D. „Raketenstart“, rief er und trat das Gaspedal durch. Sehr tief.

„Wollen Sie uns umbringen?“ Berger klammerte sich mit einer Hand an einem Steg in der Mittelkonsole fest. Mit der anderen stützte er sich am Handschuhfach ab.

Im gleichen Augenblick schlug Pfeiffer das Lenkrad nach links ein und bog, ohne auf irgendwelchen Verkehr zu achten, von der Ausfahrt auf die Straße ab. Der Wagen hielt stur die Spur. Pfeiffer beschleunigte. „Wir fahren als erstes zu Marlenes Praxis.“

„Ausgerechnet die Praxis? Was erhoffen Sie sich davon?“

„Mensch, Richard, haben Sie eine bessere Idee?“

„Wir informieren Herrn Schröder. Er ist ein durchaus kompetenter Ermittler. Er hat mir sein Kärtchen dagelassen. Ausserdem nennen Sie mich bitte bei meinem Nachnamen.“ Berger fackelte nicht lange. Er zückte sein Smartphone und einen Bedienstift.

„Sind Sie irre? Schröder und seine Jungs halten uns nur auf.“ Pfeiffer zog scharf Luft ein und riss das Lenkrad rum. Gleichzeitig griff er dahin, wo er eine Handbremse vermutete. Ein Griff ins Leere. Geistesgegenwärtig trat er die Bremse voll durch. Diesmal schleuderte der Wagen mitten auf einer Kreuzung um seine eigene Achse und hielt dann schnurrend inne, als wäre nichts gewesen.

„Sie wollen nicht nur, Sie bringen uns um. Machen Sie das bitte nicht noch einmal. Sonst lernen Sie mich kennen.“ Berger fischte mit den Armen hinter seinem Sitz nach dem Telefon. Kein Erfolg.

„Okay, Richi, nur weil ich die unheilvolle Vermutung habe, dass du mehr weißt, als du selbst ahnst, schmeiße ich dich hier nicht raus. Klar soweit?“

„Herr Pfeiffer, warum sind Sie so gereizt? Das hilft uns nicht im geringsten. Würden Sie jetzt bitte weiterfahren?“

Christian Pfeiffer atmete dreimal tief und langsam durch. Das reichte aus, um das Beben in seinen Muskeln zu besänftigen. Nur Übung machte den Meister.

Diesmal sah er sich um, ehe er den Wagen wieder in Bewegung setzte. „Was hat dich, hat Sie zu Marlene geführt?“

Berger knirschte einen langen Moment mit seinen Zähnen. „Doro kauft sich kurzentschlossen so einen Schlitten. Sie will noch mal einen drauf machen, ehe die Party rum ist. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich passe nicht mehr ins Bild. Das will ich mit Marlenes Coaching ändern.“

„Verstehe. Danke für die Offenheit. Bei mir war es genau andersrum.“

„Hier lang ist es kürzer zu ihrer Praxis.“ Berger zeigte auf eine Seitenstraße. „Andersrum? Ich verstehe nicht.“

Pfeiffer nickte und bog nach allen Regeln der Kunst rechts ab. Nichts quietschte. Kein Schleudern. Nur Schnurren.

„Wie präsentiere ich mich als solide, lebenslange Anlage, die nicht den geringsten Zweifel an Loyalität und Treue zulässt? Hört sich einfach an. Aber das fängt schon an schwierig zu werden, wenn es um die Disziplin beim regelmäßigen Staubsaugen geht. Verstehen Sie?“

„Sie haben sich von Marlene das Staubsaugen beibringen lassen? Nicht wirklich.“

„Doch. Tatsächlich sollte ich ihr eine Kostprobe liefern. Sie hat erst den Kopf geschüttelt, dann die Hände gerieben und wahrscheinlich nachgerechnet, wie lange ich ihr Coaching in Anspruch nehmen muss, bis ich Maria und mich vor den Ausgang vom Römer gebracht habe.“

„Römer? Was heißt das denn?“

„Junge, Junge, Sie wissen ja gar nichts. Der Römer, das ist das Gebäude, auf dessen Balkon sich Weltmeister nach dem Rückflug vom Finalspiel feiern lassen. Dort gibts den Trausaal. Kapiert soweit?“ Pfeiffer stoppte den Wagen und parkte in zweiter Reihe. „Wir sind da.“

„Aber die Radfahrer?“

„Sie haben echt keine Ahnung, was es bedeutet, um diese Uhrzeit im Herzen von Frankfurt am Main einen freien Parkplatz zu finden.“

Mit einem Seufzer schob Berger die Schaltung zurück auf P und nahm den Schlüsselanhänger wieder an sich.

Beide stiegen aus und gingen zu einer vierstöckigen Gründerzeitvilla mit zahlreichen Messingschildern im Eingangsbereich. Pfeiffer drückte mehrere Klingelknöpfe. Nichts geschah.

„Sie kennen den Trick nicht“, erkannte Berger. „Natürlich nicht.“

„Welchen Trick?“

„Die Klingel ist kodiert.“ Berger drückte eine unregelmäßige Folge von langen und kurzen Klingelsignalen. Plötzlich brummte der Türöffner. „Voila!“

„Sie haben freien Eintritt?“

„Ich habe eine genaue Vorstellung von Disziplin, von Loyalität und Aufrichtigkeit. Das hat mir Marlenes Vertrauen eingebracht.“

„Aha“, entfuhr es Pfeiffer, mehr geraunt als gesprochen.

Gemeinsam eilten sie über die Treppe in den dritten Stock. Die Eichenholztür mit den Milchglasscheiben war einen winzigen Spalt breit offen. Im Foyer vor der Tür scharten sich schlagartig vier hochgezogene Augenbrauen.

„Jetzt mal bitte im Ernst. Was erhoffen Sie sich, hier zu finden?“, flüsterte Berger. „Vielleicht ist da noch jemand drin, der nicht reingehört?"

„Marlene liegt gefesselt in einem Raum mit kahlen Betonwänden. Die gibt es hier oben nicht. Um sie zu finden, brauchen wir eine Spur. Wie beim Wizard of Oz. Follow the yellow brick road. Ganz einfach. Und da drin geht es los. Nur wohin? Okay. Denken Sie nach. Was, außer Marlene und die Fahrt hierher verbindet uns? Was haben wir noch gemein?“, zischte Pfeiffer.

„Also, um ehrlich zu sein, erleichternd wenig“, gestand Berger. „Was gut ist, denn wer einen Fedora trägt, macht sich sofort verdächtig.“

„Ach?“, erwiderte Pfeiffer und schnickte den Bowlerhut von hinten so an, dass er Berger auf die Nase rutschte. „Aber der Deckel verspricht Abenteuer und Leidenschaft, oder was?“

Berger schob den Bowlerhut zurecht, holte tief Luft und stieß mit der Fußspitze die Eichentür auf.

Der knallrote Teppich im Empfangsbereich war übersät mit Fachliteratur.

„Der Empfangstresen ist komplett abgeräumt“, erkannte Berger.

„Das Regal mit ihren Büchern ist halbleer. Ich wette, sie hat sich einem Übergriff widersetzt, indem sie ihren Gegner mit schwerer Literatur eingedeckt hat.“ Pfeiffer zeigte auf einige Bücher, deren Ecken am Einband leicht eingedrückt waren. „Lauter Volltreffer.“

„Hoffentlich war es der Kopf des Angreifers, nicht die Wand“, flüsterte Berger.

Berger zeigte in das Wartezimmer. Beide gingen hinein.

Der hohe Raum war wegen der riesigen Fenster lichtdurchflutet. Vor jeder Ecke stand jeweils ein Sessel. Über jedem Sessel hing quer über die Ecke ein Bild. Humphrey Bogart, James Cagney, James Dean und Robert Redford.

„Wie viele Stunden habe ich hier wohl verbracht?“, wisperte Berger und zeigte dabei auf den Sessel unter James Dean. „Dabei habe ich mich oft gefragt, ob Marlene noch ein zweites Büro führt. Mit Bildern von Frauen. Wie auch immer, Sie habe ich hier nie getroffen.“

Pfeiffer hob abrupt die Hand. „Das ist es!“

„Was?“ Berger wandte den Kopf ruckartig hin und her und suchte nach etwas Auffälligem. Dabei sah er auch unter den vier Wartesesseln nach.

„Wen haben Sie hier getroffen? Regelmäßig? Außer Marlene natürlich.“

„Nur Cagney. Immer wieder derselbe Kerl. Ungefähr so groß wie das Original und genauso schmächtig. Hat viele Fragen gestellt. Wir haben über unsere Erfolge gesprochen. Ich war nach jedem Gespräch sicher, ihn das letzte Mal getroffen zu haben. So überzeugend war er.“

Berger hielt inne, kniff die Lippen zusammen und starrte auf Cagneys Konterfei. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was sein echter Name ist.“

„Ich bin überzeugt, Cagney ist ein komplett gestörter Vollblutnarzisst.“ Pfeiffer schlug leicht mit einer Faust in seine andere Hand. „Ich mochte ihn nicht. Er war so sehr von sich selbst überzeugt und ließ sich nur coachen, weil er eine Wette verloren hatte. So ein Geschwätz.“

„Sie sind ebenfalls von sich überzeugt. Auch ein Narzisst?“

„Berger, treibs nicht auf die Spitze!“

„Getroffene Hunde bellen.“

Pfeiffer schloss die Augen und atmete erneut drei Mal tief durch.

„Also gut. Haben Sie Ihren Kalender mit?“

„Hey, ist der Papst katholisch?“, erwiderte Berger und eilte zurück in den Empfangsbereich.

„Na, na, na, Berger. Plötzlich so salopp?“, wunderte sich Pfeiffer, ging hinterher und zückte sein Smartphone.

„Vergleichen wir unsere Termine“, schlug Christian Pfeiffer vor.

„Dazu brauchen Sie ihren Kalender? Ich habe meine wichtigen Termine im Kopf. Also?“ Berger hielt den Terminkalender der Praxis hoch und ging das jeweilige Datum durch, an dem er die Praxis besucht hatte.

„Pfeiffer, Herghammer, ich. Immer in dieser Reihenfolge“, Berger blickte Pfeiffer an. „Herwig Herghammer.“

Wie auf ein Signal hin wandten sich beide gleichzeitig um und starrten gemeinsam auf einen halbhohen Aktenschrank, dem verchromte Schlösser einen besonderen Glanz verliehen.

„So blöd ist Herwig nicht“, flüsterte Pfeiffer vorsichtig. „Der hat dran gedacht.“

„Ne, ganz sicher ist der nicht blöd. Andererseits …“ Berger ging tatsächlich auf Zehenspitzen zu dem Aktenschrank hinüber und zog an Schublade A – H.

Die Schublade gab ein Klicken von sich und fuhr selbstständig auf.

Die Hängemappe Herwig Herghammer war leer.

Berger ließ spontan die Schultern hängen. Gab sich aber wieder einen Ruck. „Einen Moment!“

Er klapperte die B-Akten durch, bis er auf Richard Berger stieß. „Hah“, stieß er aus und zog die Akte aus der Hängemappe.

Pfeiffer las den Namen Herwig Herghammer. Sie schlugen die Akte auf. Name, Adresse, Telefonnummer. Klar und deutlich.

„Gimmi five“, forderte Berger und hielt seine Rechte hoch. Pfeiffer klatschte schwungvoll Bergers Hand ab.

„Knutschen können wir unterwegs“, sagte Berger, zwinkerte Pfeiffer zu und reichte ihm den Schlüsselanhänger des Jaguars. „Die Akte nehmen wir mit. Auf ins Westend. Im Tiefflug.“

Wer ist Marlene?

Die Verwunderung war groß: Woher kannte Christian Pfeifer Marlene? Es dauerte, bis Herr Berger Christian danach fragte und es vorwurfsvoll aus ihm herausbrach.

„Woher kennen Sie Marlene?“ Das Ehepaar schaute Christian mit großen Augen erwartungsvoll an.

„Das Gleiche möchte ich Sie fragen“, erwiderte Christian und wartete ebenfalls auf eine plausible Antwort. Herr Berger überlegte. Es war ein Geheimnis, das er all die Jahre streng gehütet hatte, und nun sollte er es so einfach preisgeben? Es war kein Geheimnis mehr, wurde ihm in diesem Moment bewusst. Er sah seine Frau hilfesuchend an, die ihm durch Kopfnicken ihre Zustimmung gab.

„Sie ist unsere Adoptivtochter. Sie wurde von uns adoptiert, als sie acht Jahre alt war.“ Mit allem hatte Christian gerechnet, aber nicht mit so etwas. Was ist mir entgangen? , fragte er sich als Journalist. Er war immer darauf bedacht, gut zu recherchieren, was ihm bisher auch immer gelang. Kleinlaut stellte er seine Frage, die fast wie eine Entschuldigung klang:

„Das ist nirgends vermerkt. Ich hatte mit ihr ein Interview, damals, als man versuchte, sie zu entführen. Sie verlor kein Wort darüber, dass sie adoptiert wurde.“ Christian wirkte unsicher, als er sich diese Blöße gab.

„Das wundert mich nicht“, antwortete Berger. „Das sollte auch streng geheim bleiben und ist deswegen aus den Protokollen entfernt worden. Auch in den Akten der Adoptionsbehörde wurde ein Pseudonym eingetragen, um zu verschleiern, wer sie adoptiert hat.“
Christian fiel es wie Schuppen von den Augen. Das Zeugenschutzprogramm! Wie konnte er das vergessen?

„Ungefähr vor zwei Monaten habe ich sie einmal getroffen. Sie hatte mich angesprochen. Ich habe sie nicht wiedererkannt; sie sah so anders aus. Ein komplett anderer Typ von Frau stand da vor mir. Wir sind dann in ein Café gegangen, und ich habe sie gefragt, wie es ihr so geht. Sie hat sich recht zufrieden geäußert. Marlene wirkte so frei, als wäre nichts gewesen.“

„Sie war ja auch zufrieden. Es hatte sich alles normalisiert. Ich habe sie aber immer wieder darauf aufmerksam gemacht, deswegen nicht leichtsinnig zu werden. Ihr Aussehen zu verändern, war ihr bester Schutz. Eine Gefahr bestand jedoch, wenn sie irgendjemanden kennenlernen würde, dem sie ihr Vertrauen schenkt, dass sie sich alles irgendwann von der Seele redet. Leider ein menschliches Bedürfnis“

Christian runzelte die Stirn.
„Kam Ihnen eigentlich nie der Gedanke, dass die Sache mit dem Selbstmord vor Ihrer Tür mit Marlene in Verbindung stehen könnte?“

„Das mit dem Entführungsversuch von Marlene ist jetzt zwölf Jahre her“, sagte Berger, selbst nicht fähig, einen Zusammenhang zu knüpfen.

„Und außerdem herrschte strengstes Stillschweigen. Im Nachhinein, weil Sie das jetzt ansprechen, macht mich das doch sehr nachdenklich, muss ich ehrlich zugeben. Das mit den Beiden vor der Tür war so unwirklich… es erinnerte mich mehr an Süßes oder Saures zu Halloween. Entschuldigen Sie den Vergleich, aber es war irgendwie… nicht echt… bis es knallte.“

„Es geht um Blut und Ehre, das hört niemals auf – davor habe ich damals gewarnt“, sagte Christian eindringlich.

„Diese osteuropäischen Clans sind dafür bekannt, nichts zu verzeihen. Marlene war ein Tauschobjekt, um eine Fehde zwischen zwei Clans zu beenden. Sie war die Tochter eines der Clanchefs. Doch als es so weit war, war sie verschwunden. Ihr Bruder hatte sie mitgenommen. Er hatte das Abkommen seines Vaters nicht akzeptiert und selbst entschieden – eine Todsünde, im wahrsten Sinn des Wortes, nach dem Kodex des Clans.“

Stille trat ein. Jeder dachte über das Ausgesprochene nach und wie es so weit kommen konnte, dass Marlene wieder aufgespürt wurde. Die Bemerkung von Herrn Berger, dass Marlene sich irgendwann einmal einer Vertrauensperson öffnen könnte, zermarterte Christians Gehirn.

„Ich habe noch sämtliche Zeitungsartikel, aus dieser Zeit, die ich ausgeschnitten habe.“ Unterbrach Berger die Stille. Er stand auf, ging zu seinem Sideboard, und holte aus der untersten Schublade einen Ordner heraus, kehrte zurück und legte ihn vor Christian auf den Tisch. Christian schlug den Ordner auf, blätterte kurz und zog schließlich sein eigenes Interview heraus und schaute es nachdenklich an.

„Was machen wir jetzt? Wir haben keine Zeit, in der Vergangenheit zu graben, da draußen ist ein Verrückter!“ ging Dorothea ärgerlich dazwischen.

„Ich werde die Polizei verständigen“, erwiderte Christian.

„Das werden Sie nicht! Der Typ will keine Polizei! Jetzt sag du doch auch mal was!“ fauchte Dorothea ihren Mann an.

„Meine Frau hat recht. Wir sollten die Polizei nicht verständigen“, sagte Berger nach einem kurzen Zögern.
„Jetzt überlegen Sie doch mal! Wir sollen dort hinfahren – ohne Schutz? Er hat diesmal nicht von Geld gesprochen. Das ist sehr merkwürdig, finden Sie nicht auch? Wenn wir dort aufkreuzen, sind wir unseres Lebens nicht sicher, wir alle drei: Marlene, ihr Mann und ich.“

Dorothea und ihr Mann tauschten besorgte Blicke. Christian hatte recht – der Erpresser hatte tatsächlich kein Geld gefordert. Was will der Erpresser dann eigentlich? Nur Angst machen und das auf die Spitze treiben? Christian hatte seine Freundin verloren, und die Bergers? In Christian keimte ein Verdacht auf, den er mit den Bergers nicht teilen wollte.

Christian schaute auf die Uhr. 17 Uhr. Noch drei Stunden.

„Ich mache jetzt Folgendes: Ich rufe Kommissar Beermann an und erkläre ihm die Situation, vielleicht hat er eine Idee wie wir uns verhalten sollen.“

Mordkommission

Das Büro des Kommissars war durch eine Tür und eine große Scheibe von einem größeren Büro abgetrennt, durch die man das Nebenbüro und sämtliche Mitarbeiter sehen konnte. Die Tür stand offen, und die Geräusche der Klimaanlage, das Tastaturgeklapper, Stimmengewirr der Mitarbeiter und der Duft von Kaffee sowie der Zigarettenrauch, den die Raucher an ihren Klamotten haftend, aus dem Raucherzimmer mitbrachten, lagen in der Luft. Benno Klimm, der Assistent von Kommissar Alfons Beermann, saß an seinem Schreibtisch, in seine Arbeit vertieft.

Das Telefon am Schreibtisch des Kommissars, der nicht anwesend war, klingelte. Benno stand auf und nahm den Hörer ab.
„Mordkommission, Benno Klimm.“ Ein immer wiederkehrender Spruch, der abgedroschen wie von einem Anrufbeantworter klang.

„Pfeifer, Christian Pfeifer. Kann ich Kommissar Beermann sprechen?“

„Nein, der ist momentan nicht im Büro. Kann ich etwas ausrichten?“

„Dieser Wahnsinnige hat sich gemeldet. Er will ein Treffen mit Herrn Berger und mir. Er hat eine Geisel.“

Benno schaltete sofort den Lautsprecher an, sodass die anderen Kollegen mithören konnten.

„Wo sind Sie jetzt?“, fragte er.
„Bei Herrn Berger. Ich hatte ein Interview mit ihm vereinbart.“

„Wir kommen sofort vorbei.“
„Nein, das werden Sie nicht!“, widersprach Christian heftig. „Keine Polizei! Ich habe den Verdacht, dass wir beobachtet werden. Auf dem Päckchen, das ein Bote oder vielleicht sogar ein Komplize brachte, stand keine Empfängeradresse. Das hatten wir leider nicht sofort bemerkt. In dem Päckchen war ein USB-Stick mit einem Video, das die Geisel gefesselt zeigt. Er hat gedroht, Marlene zu töten, falls er auch nur einen Polizisten sieht.“

Benno drehte sich zu seinen Kollegen und rief aufgeregt:

„Sucht mir Alfons! Ich brauche ihn dringend!“

„Marlene ist die Adoptivtochter der Bergers“, sagte Christian.

„Adoptivtochter?“, wiederholte Benno überrascht. „Warum weiß ich nichts davon? Wir haben doch die Akten der Bergers auf dem Tisch liegen!“

„Vielleicht gibt es dazu eine spezielle Akte. Es gab damals ein Zeugenschutzprogramm. Alles, was dazu geeignet war, um eine Spur zu Marlene wieder aufzunehmen, wurde vernichtet oder landete in dieser speziellen Akte, denke ich mir. Eine Familie Berger wurde nie erwähnt, was heißen soll, ich wusste nicht, dass die Bergers eine Adoptivtochter haben. Ich fiel aus allen Wolken, als ich dieses Video sah.“

„Ist mir auch unverständlich“, sagte Benno.

„Es ist eine Weile her. Kontaktieren Sie Kommissar Manfred Schuster und fragen Sie nach dem Fall. Kommissar Wiesner von der Mordkommission, der im Zusammenhang den Mord an Marlenes Bruder Artan Amrisi bearbeitete, ist ja mittlerweile in Pension. Aber die Akten haben sie. Übrigens, Marlene hieß damals Ardita Amrisi. Danach, bei der Adoption, wurde ihr Name in Marlene Berger umbenannt, und als sie auszog, hat sie ihren Namen nochmals geändert. Die Bergers sprechen aber immer noch von Marlene, ich übrigens auch. Ihnen wird ein Licht aufgehen, wenn Sie die Akten studieren. Soll ich die Namen noch einmal wiederholen?“
„Brauchen Sie nicht, das Gespräch wird aufgezeichnet.“

In diesem Moment betrat Kommissar Beermann das Büro.

„Geben Sie mir den Hörer!“, forderte er aufgeregt.

Christian schilderte noch einmal Beermann die Situation.
„Der Treffpunkt ist im Industriegebiet um zwanzig Uhr fünf. Wir bekommen dort wahrscheinlich weitere Anweisungen. Ich bleibe bei den Bergers und fahre von hier aus los. Ich schicke Ihnen das Video rüber.“
„Ja, machen Sie das und halten Sie Ihr Handy griffbereit. Ich sage Ihnen gleich, wie wir vorgehen“, antwortete Beermann.

Er wandte sich an seine Kollegen im Raum; er blühte regelrecht auf.
„Alle mal herhören!
Jeder von euch sucht jetzt im Internet nach Firmen im Industriegebiet. Ich brauche Unternehmen, die Lieferwagen mit Aufschrift besitzen. Diese werden kontaktiert. Wir brauchen die Fahrzeuge, um unser Einsatzteam zu tarnen. Wenn das Personal auffällige Firmenklamotten hat, nutzen wir diese ebenfalls. Und passt auf, dass ihr nicht zweimal dieselbe Firma anruft. Los, an die Arbeit!“

Mit fokussiertem Blick setzte sich Beermann an seinen Computer, um das Industriegebiet genauer zu inspizieren. Er wollte Vorarbeit leisten für die nächste Abteilung, die diesen Einsatz übernimmt.

Ein lauter Knall durchbrach die Stille der kleinen Betonkammer. Natürlich war er es – wer sonst? Es knallte erneut, als die Tür wieder ins Schloss fiel.
Mit angsterfüllten Augen blickte sie zu ihm auf. Seine seelenlosen Augen durchbohrten sie. Einsamkeit und Kälte hatten an ihr gezehrt, doch sie zwang sich, keine Schwäche zu zeigen – koste es, was es wolle.
»Du frierst?«, fragte er ruhig.
Marlene versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch ihr Zittern verriet sie.
»Keine Sorge, es dauert nicht mehr lang.«
Sie verstand nicht, was er meinte. War sie schon einen Tag hier gefangen? Zwei? Ihr Zeitgefühl hatte sie längst verloren. Immer wieder zermarterte sie sich den Kopf, warum ausgerechnet sie in dieser Zelle gelandet war. Sie wusste nichts. Wer war dieser Wahnsinnige? Was wollte er? Die Ungewissheit nagte an ihr, unerträglich wie ein schleichendes Gift.
Jedes Mal, wenn er erschien, war es, als würde er ein neues Rätsel aufgeben. Auf was wartete er? Was plante er?
Er beugte sich zu ihr hinunter. Sein glattes, makelloses Gesicht – so unpassend zu der Kälte in seinen Augen – kam ihr bedrohlich nah. Sein blumiger Duft kontrastierte mit der beklemmenden Atmosphäre. »Wie möchtest du sterben?«
Marlene riss die Augen auf und stöhnte.
Er lachte, ein hämisches, schneidendes Lachen, das ihr den Atem raubte. Seine unnatürlich weißen Zähne blitzten im Neonlicht. »War nur Spaß, Marlene.«
Das ist nicht witzig, Sie Wahnsinniger!, wollte Marlene schreien, doch durch das Klebeband, das ihre Lippen verschloss, drang nur ein gedämpftes Gurgeln.
»Möchtest du mir etwas sagen, Marlene?«, fragte er mit übertriebener Freundlichkeit.
Eifrig nickte sie. Erst dann fragte sie sich, woher der Mann ihren Namen kannte.
»Aber gib dir keine Mühe, hier kann dich niemand hören.« Mit einem kräftigen Ruck zog der Mann das Tape ab.
Marlene rang nach Luft. Sie hatte vorgehabt zu schreien, doch jetzt hatte sie der Mut verlassen.
»Du erkennst mich nicht«, fuhr der Mann fort.
So war es. Sie hatte diesen Schönling noch nie im Leben zuvor gesehen. Da war sie sich sicher.
»Es hat auch ziemlich lange gedauert, bis ich so ausgesehen habe.«
Sie verstand nicht. Verwirrt drückte sie sich noch fester gegen die kalte Wand.
Der Mann schnaubte und grinste sie an. »Und die Kosten erst. Plastische Chirurgie ist ein Geschenk Gottes … wenn es denn einen Gott gäbe.«
»Was wollen Sie von mir?«, presste Marlene schließlich hervor.
»Ich will, dass ihr für eure Taten bezahlt. Ich will, dass ihr leidet, so wie ich gelitten habe.«
Die Stimme des Wahnsinnigen hatte einen kalten, rauen Ton angenommen, sodass sich Marlenes Eingeweide zusammenzogen.
»Ich weiß nicht …«
»Natürlich nicht«, unterbrach sie der Mann. Das makellose Gesicht zu einer Grimasse verzogen. »Es ist ja auch schon so lange her. Wer kann sich schon daran erinnern, was er als Jugendlicher getan hat?«
Als Jugendlicher? Marlene versuchte sich zu erinnern, doch da war nichts.
»Ich sehe das Feuer jeden Tag und jede Nacht. Die Flammen, die mich verschlungen haben. Die Schreie, der Schmerz … und die Gewissheit, dass man verraten wurde.«
Es explodierte vor Marlenes innerem Auge: Flammen schossen empor, sengende Hitze, Rauch in der Lunge. Sie hörte Schreie – ihre Schreie. Doch da waren noch andere Schreie. Ein Junge, in Panik, um Hilfe rufend. Harald! Sie hatten ihn zurückgelassen.
»Du kannst dich erinnern.« Sein höhnisches Grinsen verzerrte sein Gesicht zu einer Maske.
Marlene nickte vorsichtig. Ihr Atem beschleunigte sich. Er war es. Dieser Mann war Harald. Wie konnte das sein?
»Du bist überrascht.«
Immer mehr Erinnerungen strömten nach oben. Wie ein feuerspeiender Vulkan, der so heiß loderte, wie das brennende Krankenhaus – sie und Harald und …
»Du hast mich verraten.«
Das hatte sie. Aber es sollte nur ein Spaß sein, ein harmloser Streich.
Stumme Tränen liefen an ihren Wangen hinab. Es war ihre Schuld. Sie hatte Harald in das Krankenhaus gelockt. Sie war es die den Kanister umgestoßen hatte. Wer hätte ahnen können …
»Ich … ich wollte das nicht.«
»Ihr habt das geplant. Ihr wolltet mich umbringen.«
»Nein«, entfuhr es Marlene. »Bitte …«
»Du, Johannes und Richard, ihr seid schuldig.«
Johannes? Richard? Sie hatte diese Namen seit Jahrzehnten nicht mehr gehört. Jetzt ergab alles einen Sinn. Johannes, ihr damaliger Freund, hatte sie zu einem Abenteuer überredet. Eine Erkundungstour, wie er es genannt hatte. Es war Nacht gewesen und ziemlich neblig. Richard hatte sie gefahren. Da waren Zweige und Äste, die an der Karosserie gekratzt hatten. Vom Wald eingenommen, konnte sie es deutlich sehen, das verlassenes Krankenhaus.
Marlene presste die Augen zusammen, aber sie konnte der Erinnerung nicht entkommen. Zu lange hatte sie diese verdrängt und jetzt sprudelte sie wie ein Geysir aus ihrem Unterbewusstsein empor.
»Ihr habt mich eingesperrt und zum Sterben zurückgelassen.«
Nein, wollte sie schreien, doch er hatte Recht. Zu viert hatten sie sich aufgemacht die Ruine zu erkunden. Irgendwie war Johannes auf die dumme Idee gekommen Harald einen Schrecken einzujagen. Marlene hatte ihn in den Operationssaal gelockt. Als sich Harald die Instrumente ansah, war sie davon gerannt. Johannes hatte die Tür verbarrikadiert. Sie hatten diebisch gelacht, während Harald verzweifelt gegen die Tür geklopft hatte.
Jetzt ratterte das Lachen wie ein Presslufthammer auf ihrem Gewissen.
Beim Verlassen des Raums, war sie über einen Kanister gestolpert. Der Inhalt hatte sich entzündet. Es ging alles so schnell. Flammen schossen nach oben. Mit allen Mitteln hatten sie versucht die Tür wieder zu öffnen, doch sie hatte sich verklemmt. Ein Inferno brach aus. Richard hatte sie überredet zu fliehen und die Feuerwehr zu rufen. Aber es hatte einfach zu lange gedauert.
Marlene weinte vor Verzweiflung. Was hatte sie nur getan?
Harald hatte schwere Verbrennungen davon getragen. Johannes und Marlene mussten die Schule wechseln. Ob Richard sein Studium hatte? Sie haben sich nie wieder gesehen. Wie hatte sie das vergessen können?
»Hör auf zu flennen. Das hilft dir nun auch nicht mehr«, sagte Harald kalt und zog ein Skalpell hervor.
Entgeistert sah sie dem Mann in die Augen, der keinerlei Ähnlichkeit mit dem Jungen aus ihrer Erinnerung hatte. Sie schniefte und presste die Augen zusammen.
Ein Schnitt, ein Knacken und plötzlich waren ihre Beine frei.
»Lass uns die anderen begrüßen.«
Mit einem kräftigen Ruck zog er sie nach oben. Von dem langen sitzen, waren ihre Beine wie Wackelpudding. Unsicher stolperte sie nach vorne. Harald schob sie nach draußen und was sie sah ließ ihr den Atem stocken.
Da saßen sie. Richard und Johannes – gefesselt, Rücken an Rücken.

Marlenes Vater

Nein.
So durfte es nicht weitergehen.
Nicht mit Marlene. Es durfte überhaupt nicht mehr weitergehen. Er würde es beenden.
Pfeiffer zwang sich zur Ruhe, verbannte die Schuld und die aufkeimende Angst irgendwo in ein hinteres Eckchen in seinem Verstand. Nicht hilfreich, sagte er sich.
„Sie kennen Marlene?“, fragte er an Berger gerichtet.
Berger nickte, doch es war seine Frau, die antwortete. „Ist das nicht diese Kollegin von dir? Die …“ Sie brach ab und ihr Blick huschte verlegen zu Pfeiffer.
Eine Arbeitskollegin also.
„Nettes Mädchen“, murmelte Berger. Er klang, als wäre ihm schlecht. „Bisschen verloren, immer auf der Suche nach … irgendetwas.“
„Nach ihrem Vater.“ Pfeiffer nickte abwesend. Daher war sie ja zu ihm gekommen. Hatte angenommen, er als Journalist könnte etwas in Erfahrung bringen. Stattdessen hätte es ihn fast seinen Job gekostet. Online-Redaktion.
Pfeiffer konnte nicht verhindern, dass er abfällig die Mundwinkel verzog, doch die Bergers waren zu sehr in eine Diskussion verstrickt, um etwas zu bemerken. Als Journalist sollte er definitiv besser aufpassen. Vielleicht hatte Magnus doch in einem Punkt recht.
„Du schuldest ihr gar nichts“, sagte Frau Berger, leicht angesäuert.
Berger schaute sie gequält an, dann blickte er auf seine Hände.
Nachdem er Marlene gestanden hatte, dass er rein gar nichts für sie hatte, war sie spurlos verschwunden. Aus Frustration war seine Vermutung gewesen. Dass sie nichts mehr mit ihm zu schaffen haben wollte. Oder … sie war nicht freiwillig gegangen.
Er erschauderte und zwang sich, die Bergers wieder wahrzunehmen.
„Richard!“ Frau Berger hatte einen scharfen Unterton, doch ihre Stimme wackelte wie ein angesägter Stuhl. „Du hast es mir versichert.“
Pfeiffer sah auf die Uhr. Viertel nach sechs. „Nun denn“, meinte er und erhob sich. „Wir sollten los.“
Berger murmelte seinen zitternden Händen etwas zu.
Lässig, als würde er sich für einen normalen Arbeitstag kleiden, zog er den Mantel über. „Wir sollten uns vorbereiten. Ich habe eine Besorgung zu erledigen, aber ich könnte Sie abholen. So in einer halben Stunde?“
Wieder nuschelte Berger etwas und diesmal verstand Pfeiffer die Worte. „Ich komme nicht mit.“
Pfeiffer verharrte auf der Türschwelle, als habe man die Wohnzimmertür zugeknallt. „Und was wird aus Marlene?“ Seine Stimme klang ruhig, kontrolliert. Als wütete in seinem Inneren kein Tornado aus brennender Bitterkeit.
Berger wich seinem Blick aus, wand sich und hob hilflos die Schultern.
„Nein“, sagte Pfeiffer entschieden. „So darf es nicht weitergehen. Sie werden Marlene nicht aufgeben.“ Er beugte sich vor, seine Hand glitt wie beiläufig in seine Manteltasche. „Und sich werden Sie auch nicht aufgeben.“
„Es tut mir leid“, flüsterte Berger heiser.
„Mir auch.“ Pfeiffer zog die Hand aus der Manteltasche – und den kleinen Revolver, richtete ihn auf Berger. „Sie werden mich begleiten.“

Um 20:05 Uhr betraten Pfeiffer und Berger gemeinsam ein Gebäude auf dem stillgelegten Fabrikgelände. Früher einmal hatte man hier etwas mit Papier verarbeitet. Dunkelheit empfing sie. Und Stille.
Berger neben ihm atmete hektisch. Laut. Fast bereute Pfeiffer, ihn mitgenommen zu haben.
„Halten Sie sich an den Plan“, raunte er Berger zu, meinte ein Rascheln zu vernehmen, als würde Berger nicken und schlich selbst tiefer hinein. Tastete sich an der Wand entlang. Hinter dem Beton rauschte es. Hinter einer Ecke brannte Licht.
Dicht an die Wand gedrängt, als könne sie ihm Rückendeckung geben, lief er weiter, bis er in einen Raum sehen konnte, der ursprünglich wohl als Großraumbüro gedient hatte. An den Wänden standen zugestaubte Schreibtische.
Die Mitte war allerdings freigeräumt. Und von einem einzelnen Scheinwerfer beleuchtet. Jemand musste irgendwo oben befestigt haben.
Im Spotlight stand ein Stuhl. Darauf saß Marlene, augenscheinlich bewusstlos, das Haar verbarg ihr Gesicht.
Schritte.
Pfeiffer sah auf. Oben war eine Galerie und darauf lehnte sich jemand übers Geländer. Er erkannte nur einen Schemen, doch als der Schemen sprach, war es die Stimme vom Video. Die Stimme des Anrufers. „Willkommen zum Finale.“
Und diese Stimme warf in zurück. Zurück zu seinem Versagen. Zurück zu Maria.
Wie durch einen Nebel nahm er die nächsten Worte wahr.
„Halten Sie sich für clever?“
Unfähig zu antworten. Unfähig sich zu rühren. Unfähig, Marlene zu helfen.
Der Schemen machte eine Handbewegung. Und eine grobschlächtige Gestalt schleifte jemanden heran. Berger.
Wem hatte er etwas vorgemacht?
Er hatte Maria nicht retten können und Marlene würde er auch nicht retten.
„Muskeln und Nervenbahnen sind ein fragiles Konstrukt.“ Irgendwie war die Stimme verzerrt. „So anfällig.“
Entsetzt wanderten Pfeiffers Augen umher. Das Rauschen. Die Luft. Die verzerrte Stimme des Mannes. Als spräche er durch eine Maske.
Pfeiffer schlug sich den Ärmel vor Mund und Nase.
Etwas zischte, als würde ein Gas freigesetzt.
Entgegen seiner Instinkte stürzte er vor, wollte den Stuhl erreichen. Zu spät sah er, dass da keine Fesseln waren.
Marlene sah auf und begegnete seinem Blick.

Offene Enden – vierter Teil von
@ Literally

„Woher kannten Sie, Marlene?“, rief Pfeiffer.
„Warum ist Marlene jetzt in dieser fürchterlichen Situation?“, fragte Frau Berger mit tonloser Stimme. Fassungslos schaute sie auf das Video, denn sie wusste, dass die Frau in dem Video die Bankangestellte Frau Marlene Burghaus war.
Den Namen kannte sie von einem Schreiben der Bank, dass mit Burghaus unterschrieben war.
Ihr Mann erzählte ihr damals noch, dass Frau Burghaus den Kredit für das Südafrika Projekt bewilligt hatte. Frau Berger erinnerte sich noch daran, dass sie wissen wollte, ob sie Frau Burghaus kenne. Sie erkundigte sich auch nach dem Vornamen, daher, wusste sie, dass Frau Burghaus Marlene mit Vornamen hieß.
Auch deshalb konnte sie sich noch gut an den Vornamen Marlene erinnern, doch persönlich kannte sie Marlene Burghaus nicht.

In Dorothea Burghaus stieg ein unangenehmes Gefühl hoch, so ein Verdacht kam ihr leise in den Sinn.
„Sag mal, warst Du etwa mit Marlene Burghaus auf Geschäftsreise in Südafrika wegen Deines Safari-Projekts? Oder soll das der ältere Bankangestellte sein, mit dem Du angeblich in Südafrika warst, der im Video am Boden liegt?“, erzürnte sich Dorothea Berger.
Erstaunt sah Berger seine Frau an, so wütend und eifersüchtig hatte er sie noch nie erlebt.
„Ist das so, warst Du mit Marlene Burghaus fünf Tage in Südafrika?“, die Stimme von Frau Berger überschlug sich fast, als sie fragte.

„Ich muss jetzt eine rauchen!“, sagte Pfeiffer. Berger ging mit ihm auf die Terrasse. Seine Frau Dorothea blieb schockiert im Wohnzimmer.
Pfeiffer zog nervös an seiner Zigarette. Berger hatte sich noch rasch einen Whisky eingeschenkt. Pfeiffer wollte nichts trinken
„Wir sollen doch heute Abend 20:05 Uhr bei dieser Adresse im Industriegebiet sein!“, murmelte Berger vor sich hin und schaute teilnahmslos auf den Boden.
Pfeiffer rauchte zügig, in der Hoffnung, dass ihm irgendetwas Gescheites einfiel.
„Keine Polizei, sagten die Entführer! Wann erfahren wir endlich um was es hier eigentlich geht? Herr Berger, Sie müssen doch etwas wissen!“,sagte er und drückte die Zigarettenkippe auf dem Terrassenboden aus.
„Sie doch auch! Was haben Sie denn für eine Verbindung zu Marlene Burghaus gehabt?“, fiel er Pfeiffer ins Wort.
„Ich arbeitete mit ihr sozusagen undercover wegen einer geplanten Dokumentation
über Südafrika zusammen. Wir hatten schon einiges recherchiert. Es ging um Diamantenschmuggel. Ich weiß nicht, in was Marlene da hinein geraten ist, aber offensichtlich ist es eine absolut fürchterliche Situation! Und Sie waren so wie es aussieht, fast eine Woche mit Marlene in Südafrika! Sie müssen doch auch etwas wissen!“, antwortete Pfeiffer ungeduldig.

Herr Berger setzte sein Pokerface auf, innerlich war er kurz vor dem explodieren.
Wann hörte das endlich auf! Erst der Verrückte, der sich vor seiner Tür erschoss. Anschließend der brutale Mord an Maria. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Okay Herr Pfeiffer, folgendes: Marlene hatte mir einen größeren Geschäftskredit bewilligt. Vordergründig wegen meines Reisebüros, um Safarireisen nach Südafrika zu
finanzieren. Doch tatsächlich war ich auch in dumme Geschäfte verwickelt.
Es fällt schwer, darüber zu sprechen!“ erwiderte Berger.
„Über was für dumme Geschäfte reden Sie? Etwa von Diamantenschmuggel?“
schrie Pfeiffer empört.
„Schmuggel würde ich es jetzt nicht nennen, sagen wir einfach Sonderangebote!“, spielte Berger die Angelegenheit runter.

Dieser Kerl hatte einfach kein Unrechtsbewusstsein, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Dieser Mistkerl! Seine geliebte Maria war tot! Marlene, in dieser verzwickten Situation gefangen und misshandelt! Er dachte an die bezaubernde Marlene und an die kurze Afffäre, die sie miteinander hatten. Maria hatte er davon nichts erzählt.

„Habe ich das richtig verstanden Herr Pfeiffer, Sie arbeiteten mit Marlene an einer Dokumentation über Südafrika wegen Diamenatenschmuggel?“,vergewisserte sich ungläubig Berger.
„Ja! Marlene war auf unrechtmäßige Geldtransfers aufmerksam geworden.Kurz gesagt:
Schmuggel von Diamanten.Der Betrug lief,wie sie mir erzählte, im großen Stil ab. Sie kannte einige Personen, die an diesem Schmuggelgeschäft beteiligt waren. Was für eine desaströse Geschichte!“,sagte Pfeiffer resignierend.
„Wir fahren heute Abend zu der genannten Adresse. Ich hole sie ab! Sagen Sie mir wo?“,entschied Berger.
„Alles klar Herr Berger um 19:30 Uhr am Hauptbahnhof! Wir werden pünktlich da sein bei der genannten Adresse um 20::05 Uhr!“,erwiderte Pfeiffer mit ruhiger gefasster Stimme.

Ihre Spekulationen wurden unterbrochen durch das Klingeln von Pfeiffers Handy.
„Hallo Herr Pfeiffer!“,diese grausame Stimme kannte er.
„Sie haben erfahren, was passiert, wenn Sie nicht hören! Maria könnte noch leben! Keine Polizei! Kommen Sie mit Herrn Berger zusammen 20:05 Uhr zu der angegebenen Adresse und noch etwas! Herr Berger soll alle Diamanten mitbringen und alles Bargeld, was er besitzt. Sein Schwarzgeld auch! Keine weitere Diskussion sonst ist Marlene Geschichte!“
Ehe Pfeiffer etwas erwidern konnte, hatte das Gespräch auch schon geendet.
Zuvor hatte er noch schnell auf die Lauttaste gedrückt und so konnte Berger alles mithören.
Währenddessen stand Frau Berger an der offenen Terrassentür und hatte das
Gespräch mitbekommen.
„Hast Du mit Marlene Burgheim etwas gehabt?“, bohrte sie weiter mit ihrer Fragerei.
Das Verbrechen Diamantenschmuggel interessierte Dorothea Berger im Moment nicht.
Die pure Eifersucht hatte sie fest im Griff.
„Hast du mit Marlene Burgheim etwas gehabt frage ich Dich?“, um ihrer Wut mehr Ausdruck zu verleihen, fuchtelte sie mit einem Küchenmesser in der Luft herum.
„Dorothea, ich bitte Dich um alles in der Welt, lege das Messer weg! Für wen hältst Du mich?“,beschwichtigte Herr Berger seine Frau.
„Du bist ein Volltrottel! Du setzt alles auf`s Spiel! Noch einmal hast du mit ihr was gehabt? Gestehe!“, schrie sie wutentbrannt.
„Das ist doch jetzt völlig egal!“, brüllte Berger zurück.
„Egal, ist hier mal gar nichts!“, wütete Bergers Frau weiter, wie eine Furie.
Sie ging einen Schritt nach vorne auf ihren Mann zu und stolperte am Absatz der
Terrassentür. Unglücklicherweise hielt sie zu diesem Zeitpunkt noch immer das Küchenmesser furchtelnd vor sich und rammte sich beim Sturz selbst das Messer in die Brust.

Die Situation lief wie in der Zeitlupe ab. Pfeiffers Ohren rauschten, als er Bergers lauten Entsetzensschrei hörte.
Dorothea Berger lag in ihrem Blut. Beide Männer drehten sie vorsichtig um. Sie blutete schwer aus ihrer Stichwunde.
„Warum nur?“, flüsterte sie ihrem Mann zu.

Marlene !
Cristian sah Berger fragend an, dieser ihn ebenso.
„Meine Friseurin.“erklärte er überrascht und verwundert.
„Gleichfalls.“
„Ich muß gleich mal im Salon anrufen und fragen,was passiert ist“,rief Bergers Frau aufgeregt und ging zum Telefon.
„Nicht!“,riefen die Männer wie aus einem Mund.
Dorothea („Dortel“) blieb stehen.
„Die rufen gleich die Polizei,das sollen wir doch nicht“,erinnerte sie Christian.
„Er hat Recht“,meinte ihr Mann.“Wenn sie es noch nicht wissen, sollten wir es dabei belassen.“
Und an Christian gewandt: „Wann brechen wir auf?“

Sie waren früher am Ort des Geschehens eingetroffen, wollten erstmal, wie Berger es nannte, die Lage peilen.
Zu dieser Jahreszeit war es um 20.05 Uhr bereits dunkel. Das Industriegelände, an dem sie sich eingefunden hatten, war unbeleuchtet, die Gebäude standen leer.
Eingeworfene Fenster, Müll. Das volle Programm.
Sie standen neben dem Wagen, die Handys in den Händen, die sie als Taschenlampen nutzen würden.
Die Tür zu dem Gebäude vor ihnen stand offen.
Christian sah auf die Uhr.
„Gehen wir?“
Berger besah sich nochmals das Gebäude, das einfach keinen einladenderen Eindruck machen wollte und nickte dann.
„Gehen wir.“

Christian ging vor („Sie können sich besser wehren“) und der Weg führte sie an leeren Büroräumen und Abstellkammern vorbei, sie wussten zunächst nicht, wohin sie sollten. Vielleicht hatten sie ja sogar draußen warten sollen. Es ging halt nichts über detaillierte Informationen.
„Da vorn“,sagte Christian,als er den schwachen Lichtschein sah, der von rechts kam. Sie näherten sich einer Treppe, die nach unten führte.
„Auch noch im Keller“,meinte Berger unbehaglich.
„Der Klassiker“,erwiderte Pfeiffer.
Kurz darauf standen sie in einem fensterlosen Raum, an dessen Decke eine vergitterte Neonröhre funzelte. Den abgeranzten Wandkalender gegenüber erkannten sie beide. Sie hatten ihn auch auf dem Video mit Marlene gesehen.
Nur eben mit Marlene. Hier war der Raum leer.
„Es war doch hier,oder?“fragte Berger, der jetzt nicht mehr hinter, sondern neben Christian stand.
„Ja, hier lag sie.“ Dem Jüngeren der beiden war mehr und mehr unbehaglich zumute. Berger ging es nicht besser. Am liebsten wäre er gegangen. Was sollten sie überhaupt hier? Sich jetzt auch umbringen?
„Warum ist sie nicht mehr hier? Was hat er mit ihr gemacht nach dem Video?“ Seine Stimme klang brüchig.
„Hat er sie…?“
„Er hat nicht und es geht mir gut.Danke der Nachfrage.“
Wie vom Blitz getroffen zuckten die Männer zusammen und drehten sich um.
Im Türrahmen stand Marlene!

Hantierte sie sonst mit Kamm und Schere, hielt sie nun eine Waffe in der Hand. Sie ging einen Schritt vor und zur Seite, sodass eine weitere Person in den Raum treten konnte.
Berger zeigte zittrig mit dem Finger auf den Mann. Er war blass geworden. „Das ist er! Der hat den Selbstmord gefilmt.“
Christian nickte mit zusammengepressten Lippen. Er hatte den Mann bisher nie gesehen, nur gehört, aber eines wusste er: Dieser Kerl hatte Maria auf dem Gewissen.

Die alte Dame nahm den Flacon in ihre zittrigen Hände und versprühte einen leichten Nebel Chanel Nr. 5 über ihre akkurat sitzende Frisur. Sie gab dem Chauffeur mit wenigen Worten die Anweisung zu der alten Papierfabrik zu fahren und lehnte sich in dem alten Mercedes zurück. Die Zeiger ihrer goldenen Armbanduhr standen auf 19.40 Uhr und in knapp einer halben Stunde würden die zwei Männer vor ihr stehen, die sie so abgrundtief hasste.
Ihr Blick fiel auf die Skyline, den nicht abreißenden Autoverkehr und die hetzenden Menschen, die noch die letzten Besorgungen an diesem Dienstagabend erledigten.
Sie hatte ihre Tochter Maria endlich davon überzeugt , dass es besser für sie wäre, wenn sie Christian verlässt. Aber nicht ohne ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen, das war ihre Bedingung gewesen.
Die Trauerfeier für Maria bedurfte einiger Anstrengungen, das falsche Getue von ihrem Schwiegersohn machte ihr ziemlich zu schaffen. Ihr schauspielerisches Können und die lange Bühnenerfahrung am Städtischen Theater in Frankfurt kamen ihr zugute, Christian tätschelte ihre Hand und nahm ihr die Trauer und Zerbrechlichkeit ab.
Diese Marlene Eulenbach von der Commerzbank AG, die nicht nur die Ehe ihrer Tochter zerstört hatte, sondern auch die der Bergers sollte heute dran glauben. „Die zwei Chaoten werden es auf jeden Fall wieder vermasseln.“ , zischte sie leise vor sich hin.
„Habgier, Trägheit und Wollust , drei der sieben Todsünden in der Theologie……Berger, Pfeiffer und diese Eulenbach haben eine Strafe verdient.“
„Ist alles in Ordnung Frau Smolensky?“ Der Chauffeur warf einen fragenden Blick in den Rückspiegel. „Jaja, nun geben sie schon Gas, sonst kommen wir noch zu spät zu der Aufführung.“

Pfeiffer fand als Erster Worte.

„Woher kennen Sie Marlene? Jetzt bin ich aber mal sehr gespannt auf die Antwort, die Sie mir geben werden.“

Berger zögerte, rieb nervös seine Finger.

„Also, das ist jetzt sehr privat, was ich Ihnen anvertraue. Marlene ist meine Psycho-Therapeutin. Sie begleitet mich in dem Wunsch, mein Leben neu zu ordnen. Sagen wir mal, es sind Umstände eingetreten, die genau das erfordern. Marlene hilft mir, die richtigen Fragen zu stellen. Damit der Neustart gelingt und mich vor finanziellen Abenteuern bewahrt.“

Pfeiffer horchte auf.

„Was Sie da sagen beschreibt genau meine Situation! Genau deshalb war ich zu Sitzungen bei Marlene. Die Versetzung in die Online-Redaktion hat man mir reingewürgt, weil die hofften, das ich bald hinschmeisse. Und in dieser Situation habe ich geerbt. Reich geerbt! Mit dem Geld will ich neu durchstarten. Mit Maria, so war jedenfalls der Plan“.

Pfeiffers Augen wurden feucht. Er räusperte sich und nahm einen Schluck Kaffee. Berger fuhr fort.

„Geerbt habe ich nicht, bei mir waren es Bitcoins, die ich noch halb vergessen auf dem Rechner hatte. Beim derzeitigen Höhenflug kam ein stolzes Sümmchen heraus.“

Dorothea Berger meldete sich zu Wort.

„Wenn ihr beide bei Marlene wart, um über die neue Situation mit einem neuen Vermögen nachzudenken, dann könnte es doch sein, dass der Täter aus dem Umfeld der Praxis kommt. Und das er als nächstes Geld verlangen wird.“

„Ich weiß nicht so recht“, erwiderte Pfeiffer, „ Was sollte dann der Auftritt hier vor der Haustür und der Tod von Maria? Das passt nicht zu einer Erpressung! Zwei Tote, und keine Geldforderung!“

„Wir haben es möglicherweise mit einem Sadisten zu tun, der erst mordet, um seine Opfer gefügig zu machen“, überlegte Frau Berger.

„Das ist durchaus möglich“, resümierte Pfeiffer,“aber eins ist ganz sicher. Wenn wir heute Abend nicht pünktlich um fünf nach acht in der Halle sind, wird er Marlene töten. Ich schlage daher vor, wir treffen uns dort um acht Uhr. Einverstanden?“

Die Bergers sahen einander an und nickten.

Als sie am Abend an der Lagerrhalle eintrafen, war es bereits dunkel. Sie gingen die Treppe zur Rampe hoch. Die Rolltore waren verschlossen, also probierten sie es an der Tür am Ende der Halle. Sie ließ sich leicht öffnen. Langsam betraten sie das Innere, blieben zunächst stehen und gewöhnten ihre Augen an das dämmerige Licht. Es war inzwischen vier Minuten nach acht. Das Gebäude schien weitestgehend leer zu sein.

Am hinteren Ende des Lagers flammte das Licht einer Taschenlampe auf und leuchtete in ihre Richtung. Es war der junge Mann, der vor dem Haus der Bergers mit dem Handy gefilmt hatte. Auch jetzt hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu verkleiden. Hinter ihm an der Wand lag Marlene, immer noch gefesselt und geknebelt.

„Schön das sie es so pünktlich einrichten konnten, meine Herren!“, sagte er mit einer Stimme, die beinahe erfreut klang,“ich will´s kurz machen. Links von Ihnen an der Wand steht eine Kiste mit einem geladenen Revolver darauf. Laufen Sie dorthin. Der Schnellere tötet den Langsameren. Mit dem Überlebenden verhandele ich das Lösegeld für Marlene. Sollten Sie auf dumme Gedanken kommen, erschieße ich Sie beide und setze das Spiel später mit ihren Hinterbliebenen fort. Auf die Plätze, fertig, los!“

Er schob die Panoramatür zur Seite und ein Schwall frischer Nordseeluft füllte denRaum. William Changeling trat auf die Terrasse und blickte über die aufgewühlte Nordsee. Der Sturm der vergangenen Nacht war abgeflaut, die Wellen brachen sich aber noch mit dumpfem Grollen. Hoch lief das Wasser auf den Strand, Schaumspitzen erreichten den Dünenfuß, den William nur erahnen konnte. Das Haus stand auf der Düne, kaum 20 Meter blieben bis zu den Ausläufern der Wellen. Er strich sich nachdenklich über seinen gänzlich kahlen Schädel, atmete noch einmal tief durch und trat in den Raum zurück.Die Tür zog er wieder zu und abrupt verstummte das Wellendonnern
. Gut, dass die Befestigung der Düne zum Schutz des Hauses rechtzeitig abgeschlossen war vor Beginn der stürmischen Jahreszeit. Mindestens fünf Jahre sollte die Armierung mit massiven Metallplatten, tief in die Erde eingegraben und auf 500 Meter Länge eingebaut, dem Haus, seinen Benutzern nebst der gesamten Elektronik Schutz bieten.

Er warf einen Blick auf die Monitore der Überwachungsanlage. Der Wanderweg, der fünfzig Meter entfernt hinter der Friesenmauer verlief, war an diesem Sonntagmorgen leer, am Strand zeigten sich nur die immer selben Frühaufsteher auf ihrem Morgenspaziergang. Zwei Spaziergänger in Funktionskleidung begegneten einander in Höhe des Hauses. William registrierte das fast unmerkliche Nicken, mit dem sich beide grüßten.
Er wandte sich einem Laptop zu, der auf einem Stehpult gegenüber dem Fenster vor der Wand Glockentöne von sich gab.
Rasch scrollte er durch die neu eingetroffenen Emails. Die jüngste druckte er aus, löschte sie auf seinem MacBook und setzte sich auf die schneeweiße Ledercouch. Er las sie langsam durch:

Phase 1 erfolgreich. Phase 2 angelaufen. Wir konnten jede Meldung über M.’s Verschwinden unterbinden. Das Personal der Abteilung ist ausgewechselt, in sensiblen Bereichen durch abschließende Maßnahmen

Das Board schlägt Sokotra als Headquarter vor, Nusantara soll Fernost verantworten.
Das Problem Travel agency und Presse wird absprachegemäß geklärt, wenn M nicht funtioniert. M hat behauptet, das B und P von nichts wissen. Angeblich reine Zufallsbegegnungen.
Wir bleiben dran, noch sind nicht alle Datenträger entschlüsselt.
Board wünscht Sachstand alle 24 Stunden.
Wegen Diversifizierung kommt gesondert Stellungnahme. Nicht unsere Baustelle.
Mehr morgen 1800CET
PS habt Ihr Wimbledon?

Changeling ging mit dem Ausdruck zu dem altertümlichen Kachelofen, öffnete die Klappe zum Feuerraum und warf das Papier hinein. Er wartete, bis die Flammen es vollständig verzehrt hatten, schloss die Klappe und ging zur Garderobe im Flur. Er setzte eine Pudelmütze auf, warf sich einen Kaschmirschal um den Hals und ging zur massiven Eingangstür. Aals er gerade den schweren Metallriegel entsperrt hatte und die Alarmanlage scharf stellen wollte, signalisierte ein akustisches Signal des Computers, dass eine dringende Nachricht eingetroffen war. Rach ging er zum Laptop und rief die Nachricht auf. Dann griff er zu seinem Smartphone und wählte eine Nummer :
„Schatz, ich komme direkt zum Spielplatz. Sag den Kindern, dass ich mich etwas verspäte. Wir gehen aber bestimmt nachher Crèpes essen. Ich habe es den beiden versprochen“

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In Frankfurt brach der Verkehr auf den Straßen in Richtung Waldstadion zusammen, der übliche Feierabendverkehr wurde verstärkt durch Fußballfans, die zum Stadion drängten. Wegen eines Streiks der Busfahrer verstopften jetzt die Autos der Eintracht-Anhänger alle Wege Richtung Süden. Pfeiffer und Berger saßen auf dem Rücksitz des Taxis. Pfeiffer fluchte über die Idiotie, Spiele der Bundesliga freitags abends nach Feierabend anzusetzen. Berger beugte sich zum Fahrer und wies ihn an, bei der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen und am Ende der Straße über das Betriebsgelände einer Gartenbaufirma zu fahren.
„Was soll das“, fragte Pfeiffer, der nach den furchtbaren Ereignissen der letzen Tage immer noch benommen wirkte.
„Ich kenne diese Gegend sehr gut als Schleichweg zum Flugplatz“, erwiderte Berger. Unser Spezialgebiet sind Reisen zu Sportveranstaltungen. Wir müssen oft Sportler oder auch Schiedsrichter pünktlich zu den Wettkampfstätten oder zum Flieger bringen, da kenne ich jede Abkürzung. So habe ich übrigens Marlene kennen gelernt.“
„Marlene und Sport ?“ Pfeiffer war erstaunt.
„Wieso, woher kennst du sie denn?“
„Bevor der neue Chef mich zur Online-Redaktion versetzt hat, war ich in der Wirtschaftsredaktion Verbindungsmann zum Team „Papyrus-Papiere“, das sich mit internationalen Betrügereien befasst. Ich sollte nächste Woche eine erste eigenen Recherche beginnen und einen Kroaten interviewen, der sich Zlatko nennt und früher ein sehr prominenter Sportler war und jetzt irgendwo in Finnland lebt. Den Auftrag habe ich vor etwa zehn Tagen von Marlene erhalten, die als Freelancer für das Redaktions-Netzwerk arbeitet“

Das Taxi bog in eine Nebenstraße ein und bremste abrupt. Der Fahrer schimpfte lauthals: Was muss dieser Depp seine schwarze Kiste so dämlich abstellen, dass keiner vorbei kommt.“

Marlene, den Namen hatte er lange nicht mehr gehört. Jetzt war seine Vergangenheit wieder da, hier in dem Wohnzimmer der Bergers. Christian Pfeiffer fasste sich als erster wieder: “Woher kennen Sie Marlene?” Er stellte den Laptop auf den Glastisch und nahm wieder den Notizblock in die Hand.

Die neumodische Kuckucksuhr an der Wand tickte laut. Sekunden verstrichen. “Du hast gesagt, du hast keinen Kontakt mehr mit ihr!” Dorotheas Stimme durchbrach die Stille. Pfeiffer musste sich umdrehen, um die beiden zu sehen. “Ich hatte keinen Kontakt mehr mit ihr! Das ist ein krankes Spiel. Haben Sie sich das ausgedacht?” Richard Berger starrte Pfeiffer mit einem hochroten Kopf an. “Ich wiederhole nochmal meine Frage, woher kennen Sie Marlene?” Pfeiffer ließ nicht locker. Er war Journalist verdammt noch mal. Er würde herausfinden, was hier los war.

“Wenn du es nicht sagst, sag ich es. Marlene arbeitet in einem Tanzbetrieb. Ich hatte gedacht, du gehst da nicht mehr hin.” Dorothea wischte sich hastig mit der Hand über ihre Augen. Richard Berger ignorierte seine Frau und konzentrierte sich nur auf Pfeiffer. “Sie haben sich das ausgedacht. Kommen hierher und reden davon, dass wir von Opfer zu Opfer reden! Woher kennen Sie Marlene? Das will ich jetzt wissen!” Sein Kopf war so rot, dass Berger unwillkürlich an eine rote, viel zu reife Tomate dachte.

Pfeiffer hatte genug Menschenkenntnis, um zu sehen, dass es Richard Berger nicht gut ging. Er stützte sich bereits auf dem Sofa ab. So ruhig er konnte, sagte er: “Ich habe über die Bedingungen der Frauen in diesen Tanzbetrieben, wie Ihre Frau sie genannte hat, berichtet. Marlene war mein Kontakt.” Wie es ausgegangen war, damals, tat nicht zur Sache. Richard Berger atmete schwer. Seine Frau fasste ihn immer wieder am Arm an und er schlug ihre Hand weg. Dann brach er zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er an die Decke. Dorothea Berger schrie: “Richard, Richard! Was ist?” Sie klammerte sich an seinen Arm, wie eine Ertrinkende. “Sie, das sind Sie Schuld!”

Pfeiffer brauchte einen Moment, bis er die Worte und das Bild vor ihm realisierte: Richard Berger lag hinter der Couch auf dem Boden und seine Frau hielt seinen Arm fest. Er stand von der Couch auf und zog sein Handy heraus. Er wählte den Notruf.

Die Rettungskräfte mussten Dorothea Berger mit Gewalt von dem Arm ihres Mannes loslösen. Pfeiffer hatte ihnen die Tür geöffnet. Er hatte seinen Mantel genommen und stand vor der Tür, als die Bahre mit Richard Berger von den Rettungskräften Richtung Krankenwagen geschoben wurde. Dorothea Berger war neben ihrem Mann in den Krankenwagen gestiegen. Ihr roter Mantel war das Letzte, was er sah, als sich die Türen schlossen.

Der rote Mantel. Das Bild von Maria mit ihrem Mantel war vor seinen Augen. Die letzten Augenblicke, bevor auch sie zusammengebrochen war. Wie Richard Berger. Er hatte mehr Glück. Er hatte noch eine Chance. Der rote Mantel. Er erinnerte sich an etwas anderes: Marlene, wie sie mit einem roten Mantel diese Tanznummer aufgeführt hat. Das war ihre Nummer gewesen, in dem schäbigen Nachtclub, den Pfeiffer damals so oft besuchen musste.

Er schaute auf seine Uhr. Um 20:05 Uhr musste er an der Adresse in dem Industriegebiet sein. Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung. Als er mit Blaulicht davonfuhr, sank für Christian Pfeiffer die Hoffnung, dass er irgendetwas für Marlene hätte ausrichten können. Er war allein.

Offene Enden - Teil 4

Das PAPEROS in Eschbach

Es war eine ganze Weile still.

„Wer ist Marlene?“ Frau Bergers Stimme war kaum zu hören. Doch ihre Blicke trafen die beiden Männer wie lähmende Giftpfeile. Berger und Pfeiffer schauten sich betreten an.

„WER ist diese MARLENE??“, kreischte die Frau plötzlich so laut, dass es die Männer tiefer in die Ledersitze drückte. „Was habt ihr mit dieser Frau zu tun?“ Sie war aufgesprungen, hatte ihre Fäuste vor sich auf den Sofatisch gestemmt; ihr verzerrtes Gesicht schwebte bedrohlich nahe über den beiden Protagonisten.

„Diese Geschichte …“, stammelte Berger schließlich betreten in seine Kaffeetasse. „Ich … Ich komme mir vor wie eine Figur in einem schlechten Kriminalroman.“

Pfeiffer nickte. Er hatte mal für einen Artikel mit ChatGPT herumgespielt. Am Anfang hatten die Sachen immer ganz vielversprechend geklungen. Aber je weiter man das Ding mit Fragen in die Enge trieb, desto mehr Quatsch war herausgekommen. So fühlte sich das gerade an. Er kratzte sich den Kopf unter seinem schütteren grauen Haar und sah Berger von unten heraus an. „Was hat der vor?“, flüsterte er gepresst.

Berger zuckte nur die Schultern und stieß ein langgezogenes Stöhnen aus.

„So, das reicht mir jetzt!“ Frau Berger richtete sich mit einem Ruck auf. „Ich ruf’ die Polizei.“ Sie drehte sich weg, um zum Telefon zu gehen. „Wenn ihr mir nicht verraten wollt, was dieser ganze Irrsinn soll – denen werdet ihr es schon sagen müssen!“

„Tu das nicht, Dorothea.“ Berger sprang auf und griff nach ihrem Arm. „Es geht um alles! Um Leben und Tod. Und nicht nur um das dieser Frau.“ Er zog sie sanft zurück an den Tisch. „Dorothea, hör zu.“

Widerwillig setzte sie sich wieder hin.

Berger ließ sich ebenfalls zurück in seinen Sessel sinken und senkte den Kopf. Nach einem tiefen Atemzug schaute er zuerst Pfeiffer, dann seine Frau an. „Ich glaube, ich weiß jetzt, was hier los ist. Dorothea, erinnerst du dich an das Motivationstraining bei der IHK, an dem ich Anfang des Jahres teilgenommen hatte? ‚Kreatives Storytelling für Führungskräfte aus der Wirtschaft‘? Hat mir nicht wirklich was gebracht, aber … Herr Pfeiffer hier und seine Kollegin Maria waren auch dabei, für einen Artikel über die Veranstaltung, und weil die IHK ein sehr guter Anzeigenkunde bei seiner Zeitung ist. Nicht wahr, Herr Pfeiffer?“

Pfeiffer runzelte die Stirn; dann nickte er vorsichtshalber. Worauf wollte Berger hinaus?

Der sah ihn nachsichtig an: „Sie erinnern sich nicht an mich, oder? Wie denn auch, wir waren ja über hundert Teilnehmer.“ Berger presste die Augen zusammen und sagte verschwörerisch: „Aber ich bin mir jetzt sicher, dass auch der Mann, der sich vor unserer Haustür erschossen hat, unter den Teilnehmern war.“ Er holte tief Luft und nickte seinen Zuhörern bedeutsam zu. „Und ebenso der Kerl, der für diesen ganzen Wahnsinn hier verantwortlich ist! Und – das habe ich noch gar nicht erwähnt, Dorothea: Diese Marlene auf dem Video hier – Marlene war die Dozentin.“

Mit einem auffordernden Blick zum Journalisten sagte er: „Vielleicht erinnern Sie sich noch an das, Herr Pfeiffer: Es gab in diesem Seminar mal dieses Rollenspiel. Es ging darum, Kreativität beim Geschichtenerzählen gegenüber Kunden einzuüben. Die Aufgabe war: Denken Sie sich möglichst absurde Storys aus, um Ihrem Gegenüber das Geld aus der Tasche zu ziehen, oder um ihn argumentativ auf Ihre Seite zu bringen, oder so ähnlich. Weil solche unerwarteten Geschichten besonders wirksam seien, um Aufmerksamkeit zu binden; der übliche gruppendynamische Blödsinn. Aber es gab da einen lustigen Moment: als nämlich einer der Teilnehmer behauptet hat, er hätte eine todsichere Methode, um Menschen alles tun zu lassen, was er von ihnen wollte. Es war ein junger Mann, von dem keiner wusste, woher er kam oder wo er arbeitete. Als Marlene ihn gefragt hat, was denn diese Wundermethode sei, sagte er ganz geheimnisvoll: ‚Hypnose.‘ Alle haben gelacht, aber Marlene ist darauf eingestiegen. Sie hat ihn gebeten, ob er das mal demonstrieren könnte. Und sie hat sich dafür als ‚Opfer‘ zur Verfügung gestellt.“ Berger rieb sich den Nacken und kramte weiter in seinem Gedächtnis. „Und soweit ich mich erinnern kann, hat sich der Junge dann hingestellt und ein Gespräch mit Marlene angefangen, hat ganz locker mit ihr über das Wetter und solche Dinge geredet – und dann, ganz unvermittelt, gefragt: ‚Wollen Sie mich heiraten, Marlene?‘ Marlene hat die Brauen gehoben und amüsiert geantwortet: ‚Aber sicher doch, Kleiner!‘ Da hat der Junge versucht, Marlene zu umarmen und zu küssen. Und sie – hat ihm eine geknallt! ‚Deine Methode klappt wohl nicht bei jeder!‘, hat sie ärgerlich gerufen und ihn gebeten, sofort den Kurs zu verlassen – was er auch ziemlich schnell gemacht hat.“

Pfeiffer war verwirrt. Schon seit Berger Marlene erwähnt hatte, dämmerte ihm, was los war – die Puzzleteile lagen alle verstreut vor ihm auf dem Couchtisch: Marlene, Maria, der Alte mit dem Bart, der Mann mit dem Handy … Er konnte sich nur beim besten Willen an kein IHK-Seminar erinnern -

„HAHA!!“

Bevor Pfeiffer seine Gedanken fertig sortieren konnte, schreckte ihn Frau Bergers empörter Lacher hoch. Sie hatte ihren Mann die ganze Zeit unverwandt gemustert, aber jetzt fiel sie wütend über ihn her: „Was für ein Blödsinn!! Lüg mich nicht schon wieder an, Richard!“, rief sie spitz. „Diese ‚Methode’ funktioniert wirklich nicht bei jeder – jedenfalls nicht bei mir! Wenn diese Geschichte wahr wäre, dann hättest du mir doch schon damals direkt nach dem Seminar von dieser ‚lustigen’ Sache erzählt. Und außerdem: Warum hast du so getan, als ob du Herrn Pfeiffer nicht kennen würdest?“ Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und ließ dabei ihren Mann nicht aus den Augen, der immer tiefer in sich zusammensank. „Also, was steckt wirklich dahinter, Richard? Oder, Herr Pfeiffer, sagen Sie’s mir bitte – mein Mann ist offensichtlich zu feige dafür!“

Pfeiffers Schultern sackten nach unten. „Ok, ok …“, seufzte er. Mit einem entschuldigenden Blick auf Berger murmelte er: „Hat ja doch keinen Sinn, Richard“, und fing jetzt seinerseits zu erzählen an.

„Also, es gibt da diesen Nachtclub, das ‚PAPEROS‘, draußen in Eschbach. Und die Marlene arbeitet dort. Man trifft sich da zwanglos – eine lockere Gesellschaft von Männern und Frauen mit gleichgerichteten Interessen … Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Frau Berger sah ihren Mann kopfschüttelnd an. „Ach ja! Der wöchentliche“ – sie machte zwei theatralische Gänsefüßchen in die Luft – „‚Skatabend‘ bei deinen Freunden! Im Puff also!“ Sie klang amüsiert und hysterisch zugleich.

„Nur hin und wieder“, sagte Berger kleinlaut. „Und ich kenne die meisten da gar nicht …“

„Und neulich“, fuhr Pfeiffer mit seinem Versuch fort, zu erklären – vor allem sich selbst –, was geschehen war, „da war dieser Neue an der Bar, so ein unscheinbarer Junge, und hat herumgelabert, dass er mit Hypnose jede rumkriegen würde. Ja … Und ab da war dann eigentlich alles fast so, wie ihr Mann vorher erzählt hat: Der Kerl ist bei Marlene abgeblitzt und wurde rausgeworfen – unter großem Hallo der Anwesenden. Beim Rausgehen hat er sein Handy rausgeholt und einmal in die Runde gefilmt. Der Türsteher – das könnte der alte Selbstmörder mit dem Bart gewesen sein – hat es ihm natürlich sofort abgenommen und auf dem Boden zertrampelt, aber der Junge hat noch schnell die Trümmer aufgeklaubt. Muss später wohl die Aufnahme gerettet und die Anwesenden auf den Bildern ausfindig gemacht haben. Anders kann ich mir das alles nicht erklären.“

Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Tasse. Der Kaffee war eiskalt – so wie der Blick von Dorothea Berger.

„Und ihre Maria?“, fragte Frau Berger süßlich. „Was hatte die jetzt mit dem Ganzen zu tun?“

„Na ja …“ Pfeiffer senkte ein wenig beschämt den Blick. „Sie arbeitete auch im PAPEROS. Vor allem sie und Marlene – aber leider auch Richard, ich und alle anderen Gäste – wir haben uns wirklich köstlich über den Jungen amüsiert. Das hat ihm gar nicht gefallen.“

Frau Berger stöhnte laut auf und reckte die Hände zum Himmel. „Die Welt ist ein Sündenpfuhl!“, rief sie, erhob sich und sah angewidert auf ihren Mann hinunter. „Und so ein Schwein wie du sitzt jeden Sonntag neben mir auf der Kirchenbank! Pfui!“

„Frau Berger, wir sollten jetzt ganz besonnen bleiben!“, versuchte Pfeiffer zu beschwichtigen. „Wir müssen verhindern, dass dieser Irre noch mehr Menschen tötet.“

Dorothea Berger war nicht beschwichtigt. „Was geht mich das an?“, lachte sie. „Hypnose?! Hah! Diese Geschichte ist doch mittlerweile völlig absurd!“

Tief in seinem Inneren wollte Pfeiffer ihr zustimmen. Aber wenn das mit der Hypnose wirklich stimmte – und es sprach einiges dafür – wen würde dieser Mann noch alles in seine Gewalt bringen?

„Dorothea …“

Richard Berger machte einen zaghaften Versucht, seine Gattin zu berühren. Sie wich energisch zurück.

„Dorothea, denk doch an die Firma!“, flehte Berger. „Denk an die Gemeinde, denk an die Nachbarn! Dorothea, denk an das Ende!“

Pfeiffer schloss die Augen.

(c) jona meergrund

Berger & Pfeiffer

»Das kann nicht sein«, Pfeiffer schüttelte den Kopf. »Woher kennen Sie Marlene?«, fragte Berger und sah Pfeiffer entsetzt an. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Seine schlimmsten Alpträume wurden wahr. Ein Erlebnis, das er in der untersten Schublade seines Gedächtnisses verstaut hatte. Die widerspenstige Marlene. Warum hatte sie ihn so unter Druck gesetzt? Er zitterte und brachte keinen vernünftigen Satz über die Lippen. Christian spürte, dass mit Berger etwas nicht stimmte und baute sich vor ihm auf: »Sagen Sie schon«, schrie er ihn an. Dorothea weinte. Sie starrte ihren Mann an, dann Pfeiffer. »Sag es ihm, wir sind eh erledigt«, forderte Dorothea ihren Mann auf.

»Na ja, sie war eine ehemalige Mitarbeiterin und hat uns erpresst«, stotterte Berger. »Ach, Sie waren das!«, sagte Pfeiffer und sah ihn entgeistert an. Berger fuhr fort: »Sie hat Beweise gegen mich gesammelt. Ich hatte mir etwas Geld dazuverdient. Marlene hat das mitbekommen und hat gedroht, mich anzuzeigen und an die Öffentlichkeit zu gehen. Und woher kennen Sie Marlene?«, fragte Berger. »Ich habe sie vorletzte Woche getroffen. Sie hat mir eine wilde Geschichte über Menschenhandel erzählt. Ich habe sie nicht ernst genommen und weggeschickt, weil mir ihre Geschichte zu absurd erschien. Ihre Beweise waren mir zu dünn«, erzählte er.
Berger stand auf und eilte zur Toilette, um sich zu übergeben. Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel, als er an der Toilette vorbeiging, und erschrak über sein gespenstisches Aussehen. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, war die Welt um ihn herum verschwommen, als bewegte er sich in einem Albtraum. Er setzte sich wieder, aber die Gedanken rasten in seinem Kopf, als suchten sie einen Ausweg. Die Stille im Zimmer war erdrückend. Er spürte die Spannung, die wie ein unsichtbares Band zwischen ihm und Pfeiffer hing. Berger schloss für einen Moment die Augen, als wollte er den Schmerz ausblenden, der ihn innerlich zerfraß. Sein Atem ging flach und unregelmäßig, und man konnte sehen, wie er sich zu sammeln versuchte.
Dann erzählte er stockend weiter: »Ich weiß, dass es nicht richtig war, was ich getan habe. Aber das Geld war so verlockend und so leicht zu verdient. Eines Tages kam ein Mann zu mir ins Reisebüro, ich weiß nicht einmal seinen richtigen Namen, und machte mir ein Angebot. Ich musste nur die Busfahrten organisieren, um alles andere kümmerten die sich. Jedes Mal, wenn die Busse zurückkamen, bekam ich zehntausend Euro. Als Marlene das herausfand, habe ich aufgehört. Ich gab ihr eine Menge Geld und wir trennten uns im Guten. Ja, und dann passierte ein paar Tage später das mit dem Mann, der sich vor meiner Haustür erschossen hat. Erst heute verstehe ich den Zusammenhang mit den zehntausend Euro. Hätte ich einfach weitergemacht oder ihm das Geld gegeben, wäre wahrscheinlich nichts passiert«, erzählte er schluchzend. »Nein, sie wollen uns zerstören«, mischte sich Dorothea ein und strich ihrem Mann sanft über den Kopf.
Pfeiffer sah Berger angewidert an, dann sah er auf seine Uhr. »Die Zeit läuft uns davon. Was machen wir jetzt? Wir haben beide einen Fehler begangen. Wir müssen Marlene retten. Ich hätte sie ernster nehmen müssen. Scheiße, ich will nicht noch einen Menschen auf dem Gewissen haben«, sagte Pfeiffer. Auch er begriff, warum er schuldig war. Warum hatte er sich die ganze Zeit über Magnus aufgeregt? Er hatte einfach recht. Ich bin ein schlechter Journalist.« »Sollen wir die Polizei rufen?«, fragte Dorothea.

Polizeipräsidium Frankfurt:

»Wir haben Neuigkeiten über den Selbstmordattentäter vor Bergers Haus. Er heißt Karl Weber und ist der Vater von Maria Funke. Sie ist praktisch ohne ihn aufgewachsen. Karl Weber hat eine dunkle Vergangenheit und war einige Zeit im Gefängnis. Ich habe die Unterlagen angefordert», berichtete Kommissar Hartmut Poschen. »Das bringt uns zumindest ein Stück weiter. Wir müssen schleunigst herausfinden, warum Karl Weber und Maria Funke sich umgebracht haben«, murmelte Oberkommissar Meier, während sein Blick gedankenverloren aus dem Fenster schweifte, als lägen die Antworten dort verborgen.

»Ich habe mich in der Nachbarschaft umgehört. Sie scheint sich in letzter Zeit sehr zurückgezogen zu haben«, fuhr Poschen fort. »Gibt es Hinweise darauf, dass sie unter Druck stand oder bedroht wurde?« »Es sieht so aus, als hätte sie sich mit einer Gruppe von Leuten getroffen, die nicht den besten Ruf hatten«, antwortete Poschen. »Versuch mehr über diese Leute herauszufinden. Habt ihr den Filmer schon identifiziert?«, fragte Meier und begann nervös auf den Tisch zu klopfen. »Noch nicht«, sagte Poschen und griff nach seinem Notizblock. »Was in den sozialen Medien?« »Nichts verdächtiges.« »Hatte sie eigentlich ein Kind?«, fragte Meier neugierig. »Ja, als Jugendliche hat Maria Funke ein Kind zur Adoption freigegeben. In den letzten Monaten scheint sie Kontakt zu ihrem Kind aufgenommen zu haben«, sagte Poschen. »Das könnte ein Hinweis sein. »Finde schleunigst heraus, wer das Kind ist und wo es sich aufhält. Da gibt es einen Zusammenhang, den wir noch nicht kennen. Was macht der andere Fall mit der Schleuserbande?», fragte Meier.

Das Telefon klingelte.

Regen prasselte unaufhörlich auf die Gebäude des verlassenen Industriegebiets nieder, während das Rauschen des Mains den Lärm des nahen Verkehrs fast erstickte. Dunkle, schwere Wolken zogen tief über den Himmel, und die wenigen funktionierenden Straßenlaternen flackerten unruhig, wie eine stumme Warnung.
Christian Pfeiffer zog den Mantel enger um sich. Ein kalter Wind zerrte an den Fetzen des Dachs, welches ihm ein wenig Schutz bot. Neben ihm stand Richard Berger, regungslos, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, den Blick auf die große Lagerhalle gerichtet. Der Wind ließ das alte Wellblech ächzen, während sich die Augenblicke bis zur vereinbarten Zeit unerträglich dehnten.
Er blickte auf die Uhr: «Noch zwanzig Minuten,» murmelte Pfeiffer, mehr zu sich selbst als zu Berger.
Dieser hatte seit ihrer Ankunft kaum ein Wort gesprochen. Er konnte es ihm nicht verdenken. Was sollte man auch sagen, wenn das eigene Kind in den Händen eines Wahnsinnigen war? Seitdem er die Wahrheit erfahren hatte, fühlte sich Pfeiffer wie in einem schlechten Film. Einem Film, dessen Drehbuch ihre Leben miteinander verstrickte. Marlene – seine Ex-Verlobte – war Bergers Tochter! Die Tochter aus einer Affäre mit Isabelle Winter, einer mittlerweile berühmten Schauspielerin, deren Existenz Berger jahrzehntelang verborgen gehalten hatte.
Berger hatte Marlenes Mutter abgewiesen. Aus Angst, dass die Enthüllung sein sorgsam aufgebautes Leben zerstören könnte. Die Aussicht, seine Familie und sein aufstrebendes Geschäft zu verlieren, trieb ihn dazu, anstatt Verantwortung zu übernehmen, die junge Schauspielerin in ihrer Verzweiflung alleine zu lassen.
Die Konsequenzen waren katastrophal: Isabelle verfiel in eine tiefe Depression, gezeichnet von der Scham und den erdrückenden Schuldgefühlen. Der Selbstmordversuch bei ihrer zweiten Schwangerschaft führte durch eine schwere Verletzung zu einer Fehlgeburt. Die Wunde dieser Tragödie verheilten nie.
Trotz aller Bemühungen, ihr Leben neu zu ordnen, wurde sie unentwegt von den Medien verfolgt. Sensationshungrige Journalisten wühlten sich durch ihre Vergangenheit und suchten nach spektakulären Storys, mit denen sie ihre Leser begeistern konnten. Gefangen in einem Leben, das sie nicht kontrollieren konnte, und zermürbt von der ständigen Verfolgung, sah sie letzten Endes keinen Ausweg mehr. Vor einigen Wochen hatte man sie tot in ihrem Haus aufgefunden.
Ein schepperndes Geräusch ließ beide Männer zusammenzucken. Ein Windstoß hatte ein Stück Blech von einem Dach geweht.
«Die Zeit läuft ab.» Pfeiffer deutete auf seine Uhr. Es war 20:04.
Es gab keinen Weg zurück, nicht für ihn und schon gar nicht für Berger. Der USB-Stick, das Video, die Forderung – all das war eine Inszenierung, perfide und meisterhaft zugleich. Und sie waren die Marionetten, die an den Fäden tanzten.

Die beiden Männer näherten sich wachsam der Lagerhalle. Pfeiffers Herz hämmerte wild gegen seine Rippen. Die schweren Metalltüren standen einen Spalt offen. Drinnen war es dunkel, bis auf einen einsamen Lichtkegel, der auf eine große Leinwand gerichtet war. Ein Projektor surrte leise, das monotones Geräusch verstärkte die bedrückende Atmosphäre.

Das erste Bild flackerte auf. Ein Mann mit Bart und leerem Blick. Ein Mann, den Pfeiffer erkannte – der Mann, der sich vor Bergers Haustür erschossen hatte. Die Stimme des Anrufers ertönte, kalt und unbarmherzig. «Du gehst zu Richard Berger. Du verlangst 10.000 Euro. Wenn er sie dir nicht gibt, drohst du damit dich zu erschießen.» Das Bild wechselte. Nun konnte man sehen, wie der Mann dazu genötigt wurde eine Pistole, entgegenzunehmen und zu entsichern, während eine unsichtbare Person ihm versicherte, dass die Waffe später nicht geladen sein würde. Doch sie war es gewesen. Wie sie nur zu gut wussten.
Weitere Bilder flimmerten über die Leinwand. Die Szene wiederholte sich – diesmal war es ein anderer Mann zu sehen, der gezwungen wurde, auf Maria zu schießen. Wieder mit der gleichen Lüge. Dem gleichen falschen Versprechen.
Pfeiffer schnappte entsetzt nach Luft. Der Mann war kein Fremder, sondern sein ehemaliger Arbeitskollege. Sie hatten gemeinsam an der Story von Isabelle Winter gearbeitet. Bis zu ihrer Strafversetzung vor wenigen Wochen. Er hatte gekündigt, Pfeiffer war geblieben.
In diesem Moment erklang ein leises Wimmern. Erschrocken wirbelte er herum und entdeckte Marlene im Dämmerlicht ganz in ihrer Nähe. Sie kauerte auf dem kalten Boden, ihre Hände und Füße gefesselt, ein Knebel aus grobem Stoff hinderte sie am Schreien. In ihren Augen spiegelte sich pure Angst, doch zugleich lag darin ein verzweifelter winziger Funken Hoffnung – ein stummes Flehen um Hilfe.
Der Puppenspieler trat aus den Schatten, sein Gesicht hinter einer Maske verborgen. Seine Haltung aufrecht und dennoch von einem tiefen, ungreifbaren Schmerz gezeichnet. Die Pistole in seiner Hand richtete sich langsam auf Marlene. Sie schluchzte laut auf, als sie in den Lauf der Waffe sah.
«Es ist nicht nur Rache,» ergriff der Mann das Wort. Seine Stimme leise und schneidend. «Es ist Gerechtigkeit! Ihr habt mir alles genommen. Jetzt seid ihr dran.»

Christian Pfeiffer hob die Hand, als könnte er das Bild auf dem Bildschirm einfach wegwischen, aber natürlich half das nichts. Es war da, eingebrannt in seinem Gehirn wie ein glühendes Brandzeichen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, nicht wie ein Metronom – das war zu geordnet – sondern wie ein chaotischer Vorschlaghammer, der mit jedem Schlag den Raum zu erschüttern schien. Doch es war nicht nur das Bild, das ihm die Kehle zuschnürte. Es war die Erkenntnis. Die unaufhaltsame, kalte Wahrheit, die sich wie glitzernder, giftiger Schleim durch seine Gedanken fraß.

Marlene. Eine Frau aus seiner Vergangenheit. Vergraben. Vergessen. Oder zumindest hatte er sich das eingeredet. Aber jetzt war sie wieder da, wie ein uraltes Gespenst, das aus dem feuchten Boden seines Gedächtnisses gekrochen kam. Und sie war nicht allein. Sie hatten ein Problem mitgebracht.

Das Video war ein Alptraum. Marlene, gefesselt, ihre Augen weit aufgerissen vor Angst, ihr Mund mit Klebeband verschlossen. Eine tiefe, verzerrte Stimme sprach über das Bild, das so körnig war, dass es fast unwirklich wirkte: „Keine Polizei. Kein Fehler. Du weißt, was du tun musst, Christian.“

Dorothea stand da, starr wie eine Schaufensterpuppe, die nicht wusste, ob sie gleich fallen oder einfach zerbrechen würde. „Wer … ist sie?“ Ihre Stimme war leise, kaum mehr als ein Hauch, der sich in der Stille verfing und schnell ungehört verhallte. Ihre Hände zitterten, dicht an die Brust gedrückt, als könnten sie ihr Herz schützen.

Richard Berger, bleich wie ein Toter, schien den Boden anstarren zu wollen, als läge dort eine Antwort, die er sich nicht zu geben traute. Schließlich hob er den Kopf. „Meine Schwester“, sagte er, und jedes Wort schien wie ein rostiger Nagel aus seinem Hals gezogen zu werden. „Sie ist … sie war … schon lange nicht mehr Teil meines Lebens.“

Pfeiffer starrte ihn an, seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, als könnte er die Wahrheit wie eine Pistole auf Berger richten. „Und sie war meine Informantin.“ Er sprach die Worte langsam aus, jedes einzelne ein Pflock, den er in die Stille trieb. Und die Stille? Sie antwortete nicht. Sie lag bleiern über ihnen, schwer und heiß, erstickend wie der Sommer vor einem Gewitter.

Die Adresse im Industriegebiet. Pfeiffer hielt das zerknitterte Stück Papier in der Hand, als wäre es ein alter Fluch, der jede Sekunde explodieren könnte. Ein unscheinbarer Ort, ein unscheinbarer Hinweis – und doch lastete er auf seinem Geist wie ein Stein, der ihn ertränken wollte. Er wusste, was das bedeutete. Natürlich wusste er das. Eine Falle. Fallen waren so sicher wie der Tod. Aber was sollte er tun? Das Problem war, dass es keine andere Wahl gab. Nicht nach dem, was er gerade gesehen hatte.

„Wir müssen die Polizei informieren“, sagte Dorothea, ihre Stimme zitterte wie ein Draht, der jeden Moment reißen könnte.

Pfeiffer drehte sich zu ihr um, seine Augen kalt, sein Gesicht hart wie ein Messerkopf. „Nein.“ Er sagte es so scharf, dass Dorothea zurückkam. „Das wissen Sie genauso gut wie ich.“ Wenn wir die Polizei einschalten, wird Marlene sterben, noch bevor sie die Sirenen hören.“

Dorothea öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Sie sah aus, als hätte Pfeiffer ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Und wenn wir hingehen, laufen wir direkt in eine Falle!“ Richard sprang von seinem Stuhl auf, seine Bewegungen ruckartig wie eine Marionette, deren Fäden kurz vorm Reißen standen. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske aus Angst und Wut, und vielleicht waren die beiden gar nicht so unterschiedlich.

Pfeiffer trat näher, seine Schritte schwer, sein Blick durchbohrte Richard wie ein Speer. „Haben wir eine Wahl?“ Seine Stimme war ruhig, schnell flüsternd, doch sie war härter als Stahl, und sie ließ keinen Raum für Einwände. „Ich werde hingehen. Mit oder ohne Sie. Aber wenn Sie etwas über den Mann wissen, der das tut, müssen Sie mir jetzt alles sagen.“

Richard sackte zusammen wie ein Haus, dessen Fundament gerade eingestürzt war. Er schloss die Augen, und für einen Moment sah er aus wie ein Mann, der in einem Abgrund starrt und genau weiß, dass er springen muss. Schließlich sprach er, leise, jedes Wort schleppend wie ein müder Soldat auf dem Rückzug. „Ich weiß nicht, wer er ist. Aber Marlene … sie hat früher für jemanden gearbeitet. Jemanden Gefährlichen. Sie hat aufgehört, weil sie dachte, sie könnte aussteigen.“ Er hielt inne, schüttelte langsam den Kopf. „Vielleicht hat sie sich geirrt.“

„Was wissen Sie über diesen Mann?“ Pfeiffers Worte waren wie kalte Nadeln, die sich in Richards geschwächte Haltung bohrten.

Richard zuckte die Schultern, ein Achselzucken, welches verzweifelte Kapitulation als Antwort war. „Nicht genug. Nur, dass äh … Einfluss hat. Geld. Und dass er keinen Fehler verzeiht.“

Das reichte nicht. Nicht einmal annähernd. Aber es musste genügen. Pfeiffer warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Die Zeit lief ihm durch die Finger wie Sand, und noch blieb ihm nur ein winziger Moment, um sich zu sammeln – oder um zu akzeptieren, dass es keine Vorbereitung für das Unvermeidliche gab. Er zog sein Handy aus der Tasche und tippte hastig.

„Ich brauche deine Hilfe. Adresse folgt.“

Als die Nachricht abgeschickt war, hob Pfeiffer den Blick zu Richard. „Wenn Sie kommen, dann seien Sie bereit.“ Seine Stimme war kalt, geschnitten, unbarmherzig. „Das hier wird nicht einfach.“

Richard nickte kurz, widerwillig, sein Gesicht grau wie der Tod. Dorothea trat einen Schritt näher, ihre Augen glänzten feucht vor ungesagten Worten. „Du kannst das nicht tun“, sagte sie leise, schnell flehend. Doch Richard legte ihr eine Hand auf die Schulter, sanft, aber entschieden.

„Ich habe keine Wahl“, sagte er. Seine Stimme war ein bloßes Flüstern, doch sein Blick war so erschütternd endgültig, dass Dorothea verstummte.

**

Die Luft im Industriegebiet hing schwer in Pfeiffers Nase, metallisch, rostig, ein Geruch wie alte Nägel, die zu lange im Regen gelegen hatten. Es war nicht nur ein Geruch – es war ein Geschmack, der an der Zunge klebte, bitter und unvermeidlich. Er hasste es, dass ihn das sofort an seine Jugend erinnerte. Damals war die Gefahr aufregend gewesen. Heute fühlte sie sich an wie ein Ziegelstein, der ihm auf der Brust lag.

Um 20:03 Uhr standen sie vor der Halle. Ein Ding aus Beton und Stahl, das aussah wie ein Gott, den die Zeit vergessen hatte. Die grauen Wände schienen zu atmen, feucht und kalt, als ob das Gebäude selbst wusste, dass es gleich Zeuge von etwas Unheilvollem sein würde. Ein schwaches, kränkliches Licht schimmerte durch die Fenster, kaum hell genug, um den Dreck auf den Scheiben zu durchdringen.

„Bereit?“ flüsterte Pfeiffer. Seine Stimme nur ein Hauch, ein Schatten von dem, was sie sonst war.

Richard nickte, der Blick starr nach vorn gerichtet, seine Kiefermuskeln zuckten leicht. Für einen Augenblick verweilte seine Hand an seiner Seite, die Finger leicht gekrümmt, als wollte er etwas Greifbares finden – eine Stütze, einen Hauch von Sicherheit. Dann ließ er sie langsam zurück in die Dunkelheit gleiten, wo sie zitternd verharrte.

Das rostige Tor quietschte wie ein sterbendes Tier, als sie es aufstießen. Ein Geräusch, das in dieser Stille viel zu laut klang. Es hörte sich an wie ein Warnsignal, das sagte: Kommt rein, aber ihr werdet es bereuen.

Drinnen war es immer noch still. Aber nicht die Art von Stille, die beruhigend ist – sondern die Art, die auf der Haut kribbelt und in den Ohren drückt, bis du dir sicher bist, dass dich etwas beobachtet. Nur das Summen einer altersschwachen Neonröhre brachte die Illusion vom Leben in diese Starre Leere. Pfeiffer spürte, wie sein Herz schneller schlug, und versuchte, das Zittern in seinen Fingern zu ignorieren, während sie weitergingen.

Dann kam die Stimme.

„Pünktlich. Ich wusste, dass ich auf euch zählen kann.“

Sie schnitt durch die Dunkelheit wie ein Scherenschnitt, kalt und scharf, und ließ Pfeiffer innehalten. Es war die Art von Stimme, die nicht laut sein musste, um jeden Muskel in deinem Körper anspannen zu lassen.

„Wer ist da?“ Richards Stimme hatte die Härte eines Mannes, der das Zittern in seinen Knochen übertönen wollte.

„Ein Freund.“ Die Worte triefen vor Spott. „Oder vielleicht auch nicht. Das liegt an euch.“

Die Dunkelheit schien dichter zu werden, als sie nach der Quelle suchten, aber dann trat der Mann aus dem Schatten.

Er sah aus, als gehöre er in ein luxuriöses Büro, nicht in diese verrottete Halle. Sein Anzug saß perfekt, eine Anmaßung an diesem Ort des Verfalls. Sein Lächeln war das eines Mannes, der etwas wusste, dass sie nicht wussten – und den Gedanken genoss.

„Wo ist Marlene?“ Pfeiffers Stimme klang fester, als er sich empfand, aber er konnte nichts gegen das Hämmern seines Pulses tun, dass ihm die Schläfen zerreißen wollte.

Der Mann lächelte. Langsam. Breit. Aber ohne Wärme. „Geduld, Herr Journalist. Alles zu seiner Zeit. Ein Puzzlestück nach dem anderen.“

Richard trat einen Schritt nach vorne, seine Faust geballt, aber Pfeiffer hielt ihn mit einer schnellen Handbewegung zurück.

Der Mann schien amüsiert, als wäre das alles ein Spiel für ihn. Und vielleicht war es das auch. Mit einem Fingerschnippen traten zwei weitere Gestalten aus der Dunkelheit, Marlene zwischen sich. Sie war blass, zitternd, ihre Beine kaum fähig, sie zu tragen.

„Marlene!“ Pfeiffer hörte seine eigene Stimme, aber sie klang wie die eines Fremden.

Für einen Moment spürte er Erleichterung, als er sah, dass sie noch lebte – bis sein Blick auf die Pistole fiel, die einer der Männer an ihre Schläfe drückte.

Die Waffe schimmerte wie ein schwarzer Zahn im flackernden Licht.

„Nun“ sagte der Mann in einem Ton, der zu beiläufig war, „wir haben einiges zu besprechen.“

Pfeiffer wollte antworten, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Es war, als ob die Luft in diesem Raum nicht für sie alle reichte.

„Wenn ihr klug seid“, fuhr der Mann fort, „werdet ihr mir zuhören. Eure Antworten werden darüber entscheiden, ob sie lebt oder stirbt.“

Richards Hände ballten sich zu Fäusten. „Du Bastard –“

„Nein.“ Der Mann hob einen Finger, und es war, als würde er ein Kind zurechtweisen. „Ich rede. Ihr hört zu.“

Die Pistole wurde fester an Marlenes Kopf gedrückt, und ein ersticktes Wimmern entkam ihren Lippen.

Pfeiffer hob die Hände, um Richard zu beruhigen. "Okay. Wir hören. Aber lass sie los.“

Der Mann schnaubte leise, schnell verächtlich. „Das liegt nicht in eurer Macht.“ Aber ich bin kein Monster. Sie lebt – fürs Erste.“

Das Lächeln kehrte zurück, aber diesmal war es breiter, dunkler, und Pfeiffer wusste: Sie waren gerade in etwas hineingeraten, das sie nicht kontrollieren konnten.