Offene Enden – vierter Teil
Von Michael Fritz
Ein paar Stunden vorher
»Ping«
Bestimmt wieder eine Nachricht aus seiner Signal-Gruppe. Seine Freunde wussten wohl, dass er heute frei und es sich zu Hause vor dem Fernseher bequem gemacht hatte. Leider musste seine Frau arbeiten und die Kinder waren noch in der Schule. Ungesehen öffnete er die neue Nachricht und im gefror das Blut in seinen Adern. Die Nachricht kam nicht aus seiner Gruppe, der Absender war unbekannt. Doch jetzt hatte er die Nachricht geöffnet und das sah der Empfänger. Die Nachricht enthielt Bilder seiner Frau vor Ihrer Arbeitsstelle und beim Einkaufen. Bilder von seinen Kindern auf dem Schulweg und beim Spielen. Und das Foto einer jungen Frau, die er nicht kannte. Sie war etwa 30 bis 35 Jahre alt. Unter dem Foto der Frau waren eine Adresse und ein Sprachnachrichten-Icon. Unter dem Icon stand in großen Lettern *ÖFFNEN ODER DEINE FAMILIE STIRBT NOCH HEUTE*
.
Er öffnete die Sprachnachricht.
»Noch geht es deiner Familie gut, wenn Du willst, das es so bleibt, wirst du tun, was wir die sagen. Die Frau auf dem Foto wird zwischen 13:00 und 13:30 Ihr Haus verlassen und zum Einkaufen fahren. Du wirst sie Abpassen betäuben und entführen. Du wirst sie ins alte Industriegebiet bringen, wo dort, ist uns egal, sie darf nur nicht gefunden werden. Wenn du dort bist, wirst Du sie filmen. Man muss aber deutlich Ihr Gesicht sehen. Danach wirst du ihr wieder den Sack über den Kopf ziehen und verschwinden.«
Das aufgenommene Video wirst du samt Adresse, wo du sie untergebracht hast, an folgende E-Mail Adresse senden ichhabsgetan69@protonmail.com. Ist das erledigt, wirst du die E-Mail löschen. Damit Dir klar wird, dass wir es ernst meinen, haben wir ein kleines Paket vor deine Haustür gelegt. Da ist alles drin, was du brauchst, auch ein Brief, den du ungeöffnet, neben die Frau legen wirst, bevor du wieder verschwindest.
Wir empfehlen dir, Handschuhe und eine Maske zu tragen.«
Ihm war schlecht. Sein erster Impuls war, seine Frau anzurufen, doch plötzlich war die Signal-Nachricht verschwunden. Hatte er sich das nur eingebildet? Mit einem mulmigen Gefühl ging er zu seiner Haustür und öffnete diese. Da war tatsächlich ein Paket. Mit jetzt zitternden Händen nahm er das Paket auf und brachte es in die Garage. Ihm war spei Übel. Er zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig öffnete er das Paket. Was er sah, ließ ihm einen Schrei entweichen.
»NEIN! – diese Schweine meinen es ernst.«
Dort lag, mit gebrochenem Knick, Basti, der Yorkshire Terrier Welpe der Familie. Langsam hob er den Welpen aus dem Paket und legte ihn beiseite. Dann sah er nach, was noch im Paket war. Der angekündigte Brief, ein schwarzer Sack, gerade groß genug um ihn jemanden über den Kopf zu ziehen, Panzertape, eine volle Spritze ein schwarzer Overall, schwarze Handschuhe und eine Strickmütze, die über den ganzen Kopf ging. Genau so eine, wie er sie aus den amerikanischen Filmen kannte, bei Banküberfällen.
Marlene dämmerte langsam ins hier und jetzt zurück, die Augen noch geschlossen. Ihr Kopf und ihre Glieder schmerzten, ›was ist hier los?‹ dachte sie bei sich, ›wo bin ich? Warum kann ich mich nicht bewegen.‹
Sie versuchte, Ihre Augen zu öffnen, es fiel Ihr schwer. Aber es blieb dunkel. Ihr war kalt. Sie lag, wahrscheinlich auf dem Boden. Auf einmal fummelte jemand an Ihrem Kopf, nein es war ihr Kragen. Dann wurde es heller. Ein Licht blendete Sie, eine schemenhafte Gestalt war dahinter zu erkennen. Sie hätte nicht sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war. ›was machte die Gestalt da? Filmte sie mich?‹
Marlene hatte Angst, im Augenblick konnte Sie die Situation nicht kontrollieren.
Die Gestalt sagte nicht ein Wort. Langsam konnte Marlene wieder klar denken. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt, Ihre Füße zusammen gebunden und Ihr Mund war zugeklebt. Und bis eben, hatte Sie einen schwarzen Sack auf, der Ihr die Sicht nahm. Die Räumlichkeit in der Sie sich befand, war ziemlich dunkel, dennoch konnte sie schemenhaft einiges erkennen. Ein zerborstenes Fenster, einen Ausgang und die Person, die Sie gerade filmte. Sie hörte außer den Schritten der Person vor sich, nichts. Also waren Sie alleine. Auf einmal kam das Licht auf Sie zu und der Sack wurde wieder über Ihren Kopf gestülpt. Sie hörte, wie sich die Schritte der Person entfernten. Nach etwa einer Minute warten, robbte Marlene sich, so gut es ging, langsam Richtung Fenster. Als es unter Ihr knirschte, wusste Sie, Sie hatte gewonnen. Vorsichtig nahm sie eine Scherbe auf und fing an, Ihre Fesseln zu zerstören. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Ihre Hände frei waren. Tiefe Schnittwunden blieben auf Ihren Händen zurück.
Nachdem Sie den Sack über Ihrem Kopf losgeworden war, befreite Sie Ihre Beine und dann Ihren Mund.
Sie war frei. Leise sagte sie vor sich hin »Also ein Profi war der nicht.«
Vorsichtig und mit bedacht verließ die Örtlichkeiten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sie auf Menschen traf. Diese bat sie die Polizei zu rufen.
In unmittelbarer Nähe des Hauses der Bergers stand ein unauffälliger VW-Passat.
Er stand dort schon mehrere Tage. Seine Insassen wechselten im vier Stunden Takt. Die Kriminalpolizei beobachtete Berger und Pfeifer seit dem Mord an Maria. Ja sogar das Abhören wurde ihnen auf richterlichen Beschluss erlaubt.
Ihnen entging nicht, dass ein kleines Päckchen vor Bergers Tür gelegt wurde.
»Sommer« kam es von Haber, »Du bleibst hier und hörst weiter zu, ich schnapp mir den Paketboten.«
Haber stieg aus und ging dem Paketboten schnellen Schrittes hinterher. Es wurde schon dunkel. Dadurch viel Haber kaum auf. Zwei Ecken weiter bemerkte Haber, dass der Bote ja nur ein Junge war, im höchsten Fall 14 Jahre. Haber schnappte sich den Jungen. »Wie bist du an das Päckchen gekommen, dass du bei den Berger abgelegt hast?«
»Was wollen Sie, wer sind Sie, Hilfe! Hilfe!«, schrie der Junge.
»Schon in Ordnung«, sagte Haber sehr laut, damit die umstehenden Passanten nicht eingriffen. »Ich bin von der Kriminalpolizei, also sprich, Junge«.
»Ich, ich habe eine Signal-Nachricht bekommen, dass ein Päckchen bei uns hinter dem Haus liegt«, sagte der Junge mit Angst in der Stimme. »Bei dem Päckchen lagen 20,- EUR. In der Nachricht hieß es, ich sollte warten, bis eine neue Nachricht eintrifft, die mich auffordert, das Päckchen jetzt abzulegen und dann zu verschwinden. Wenn ich es abgeliefert habe, bekomme ich eine letzte Nachricht wo ich noch mal 50.- EUR finden werden. Das ist alles Alter und jetzt lass mich los.«
»Ich fürchte, ganz so einfach ist das nicht. Du kommst mit aufs Revier und machst dort eine Aussage. Wir rufen zwischenzeitlich deine Eltern an. Die können dich dann abholen.«
Die Frau, die im Video vor ihren Augen lag, war eindeutig sie. Es gab keine Zweifel. Ihr Gesicht, das immer von einem warmen, beinahe schelmischen Lächeln geprägt war, war jetzt verzerrt von Angst und Schmerz. Das blutunterlaufene, durch das Panzertape verzerrte Gesicht war ein klares Zeichen für den Horror, den sie durchlebte.
Pfeiffer und Berger sahen sich an. »Woher«.
»Sie ist, war, die beste Freundin von Maria meiner Freundin«, sagte Pfeiffer »…und woher …« »Marlene ist meine Nichte.«
Dann sagte niemand mehr etwas.
Die Stille im Raum war erdrückend, als Pfeiffer und Berger einander ansahen. Die Entdeckung, dass Marlene – Bergers Nichte und Marias beste Freundin – in der Gewalt des unbekannten Täters war, hatte sie beide völlig überfordert. Die Vorstellung, dass diese junge unschuldige Frau, in die mörderischen Machenschaften verwickelt wurde, schnürte ihnen die Kehle zu.
Es war nicht nur ein Erpressungsversuch gegen ihn und Berger. Nein, der Täter hatte etwas anderes im Sinn. Und das Gefühl, dass er etwas übersehen hatte, schlich sich immer weiter in Pfeiffers Gedanken. Pfeiffer erhob sich.
»Ich habe den Eindruck, Mister X hat es auf uns beide abgesehen. Auf uns, nicht nur auf unser Geld.«
»Wir müssen Mister X finden,«, murmelte Berger. »Das Schwein dass hinter all dem steckt. Nur wie? Wir wissen doch nichts über ihn. Die Polizei…« Er sprach den Namen wie ein Fluch, als wäre er es leid, ständig in ihren Netzwerken von Misstrauen und Versäumnissen gefangen zu sein.
»Ja, die Polizei…«, wiederholte Pfeiffer, und das Wort schien fast ironisch in der Luft zu hängen. Doch dann stieg in ihm ein Gedanke auf, der ihm wenig später die Nackenhaare aufstellte. »Ich könnte sie anrufen. Ich muss sie anrufen«, sagte er fast zu sich selbst. Doch im selben Moment zog er die Stirn kraus. Es war nicht so einfach, den Ermittlern zu vertrauen – immerhin war er einer der Hauptverdächtigen in dem Mordfall, der ihn in die ganze Misere verwickelt hatte. Und dazu noch die Entführung von Marlene. Von der wusste die Polizei bisher noch nichts.
»Vielleicht nicht«, murmelte er schließlich. »Die Polizei wird uns nicht helfen, Herr Berger. Sie vertrauen uns nicht und die Ermittlung läuft längst auf Hochtouren. Wir müssen das selbst regeln. Nur müssen wir schnell sein, sonst verlieren wir Marlene.«
In diesem Moment klingelte das Handy von Pfeiffer. Er nahm es zögerlich in die Hand und sah die Nummer auf dem Display. Es war Inspektor Haber.
»Pfeiffer?«, meldete er sich misstrauisch.
»Hallo Herr Pfeiffer, wir wissen, dass Sie und Herr Berger erpresst werden. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Meine Kollegin und ich sind in 5 Minuten bei Ihnen.«
Pfeiffer sah Berger an und meinte »Das war Inspektor Haber, wir sollen hier auf ihn warten.«
»Und woher weiß er das Sie hier bei uns sind?«
»Keine Ahnung, vielleicht ortet er mein Handy«, sagte Pfeiffer. »Es ist nur… Er wusste auch, dass wir erpresst werden.«
Berger zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
Dann klingelte es. Dorothea verließ den Raum, um aufzumachen. Nur Augenblicke später kam Sie mit Inspektor Haber und seiner Kollegin Sommer zurück ins Wohnzimmer.
»Guten Abend«, kam es von den beiden Kripobeamten.
Haber ergriff das Wort. »Meine Herren, wir wissen, dass Sie erpresst werden. Wir wissen auch, dass Sie dieses Problem alleine lösen wollten. Was nebenbei bemerkt, äußerst dumm ist.«
Pfeiffer wollte etwas sagen, aber Haber hielt die Hand hoch und unterbrach ihn.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welch wollen Sie zuerst hören?«
»Die gute«, sagte Pfeifer und Berger simultan.
»Marlene geht es gut. Sie ist im Krankenhaus und wird dort versorgt. Wahrscheinlich kann sie heute auch schon wieder entlassen werden.«
»Nun kommen wir zur schlechten Nachricht. Sie sind beide verhaftet! Sommer würdest du Bitte«
Inspektorin Sommer trat an Herrn Berger heran.
»Herr Richard Berger, hiermit verhafte ich Sie wegen des Verdachtes auf Unterschlagung und Steuerhinterziehung. Sie haben das Recht zu schweigen …
Haber der noch vor Pfeiffer stand sah Pfeiffer in die Augen und sagte mit gelassener Stimme »Herr Christian Pfeiffer, hiermit verhafte ich Sie wegen des Verdachtes auf wissentlich falscher Berichterstattung und Meineid. Sie haben das Recht zu schweigen … «
»Wie kommen Sie auf so absurde Vorwürfe«, fragte Pfeiffer, der es immer noch nicht glauben konnte, was gerade passiert.
»Die Beamten, die Marlene abgeholt haben, nachdem Sie die 110 gewählt hatte, sind mit Ihr noch einmal zum Ort des Geschehens gefahren. Dort fanden Sie einen dicken Brief mit belastendem Beweismaterial. Das erklärt zwar noch nicht die Morde, oder wer der Täter ist, aber die Ermittlungen laufen ja noch.«