Offene Enden Teil 3: Schreib Teil 4

Die Verbindung
In Berger und Pfeiffer ratterten jeweils Massen an Gedanken, sie spulten ihre Geschichte mit Marlene herunter. Die Gesichter blank vor Schreck, standen sie sich eine Weile gegenüber. Berger: „Woher um alles in der Welt kennst du meine Marlene?“ „Sie ist eine Kollegin bei der Zeitung. Ich habe Scheiße gebaut und sie schwer enttäuscht“, antwortete Pfeiffer. „Verdammt, ich könnte den gleichen Satz sagen“, flüsterte Berger mit gesenktem Kopf.
Dorothea schrie sie aus ihrer Lethargie: „Was steht ihr hier rum? Ihr müsst der Frau helfen. Nun tut doch was.“ Pfeiffer schaute auf die Uhr. „Wir haben nur noch 25 Minuten. Kann man das von hier aus überhaupt schaffen?“ – „Ja, aber der hat uns keine Zeit zum Denken gegeben. Wir müssen sofort durchstarten. Wir nehmen meinen Wagen, der steht immer in Fahrtrichtung.“ Die Männer stürmten aus dem Haus.

Frau Berger verharrte mit unverwandtem Blick auf das Horrorszenario in ihrem Wohnzimmer. Sie entfernte sich zwei verhaltene Schritte vom Monitor, unfähig wegzuschauen. Das Elend zog sie in seinen Bann. Ihre Hand griff zum Smartphone, doch zuckte zurück. Eine weitere Minute starrte sie den Laptop an, schlussendlich erreichte sie das Handy. Mit zittrigen Fingern entsperrte sie das Gerät und war dankbar, einen unsicheren, aber extrem simplem Code aus vier gleichen Ziffern zu verwenden. Es gelang ihr, die Telefonapp zu öffnen. Sie zuckte zusammen, als es vibrierte. Eine Textnachricht, die sie für den Moment ignorierte. Der Schweiß stand ihr glänzend auf der Stirn, als es ihr glückte, den Notruf zu wählen.


Mit quietschenden Reifen hielt das Auto vor der leer stehenden Fabrikhalle. Fahrer- und Beifahrertür flogen auf und die Männer stürmten zum Gebäude. Die Augen wanderten hektisch umher. „Wo müssen wir hin?“, fragte Berger. „Keine Ahnung.“ Im Laufschritt liefen sie die lange Mauer entlang, doch ohne Erfolg. Erst an der Längsseite zeigte sich ein großes Metalltor, breit wie bei einer Autowerkstatt. Sie fanden keine Möglichkeit, dies aufzuschieben. Keuchend rannten sie weiter und entdeckten schließlich einen kleinen Seiteneingang. Ein Spalt gewährte ihnen Einlass in die zugige und kalte Halle.
Sie schauten hektisch umher, doch erkannten in der Dunkelheit nichts. „Marlene!“, versuchten sie, die Frau zügig zu entdecken. „Wir sind hier, um dir zu helfen. Wo bist du? Tritt gegen den Boden oder mach irgendwie Lärm!“, gab Berger der Gefesselten und Geknebelten Tipps. „Das wird doch nix“, warf Pfeiffer ein. „Wir müssen sie schon so finden. Du gehst links rum und ich rechts.“ Berger riss die Augen auf. „Bist du irre? Wir können uns doch nicht trennen. Wer weiß, mit wem wir es hier zu tun haben. Der hat schon zwei Morde auf dem Gewissen. Es ist ein Fehler, überhaupt hier zu sein.“ Pfeiffer legte den Kopf schief, schlich in Richtung des Ausgangs. „Vielleicht hast du Recht. Wir sollten abhauen.“

Eine verzerrte Frauenstimme drang über einen Lautsprecher viel zu laut an ihre Ohren. „Habt ihr es immer noch nicht gelernt? Ich bin großzügig und gebe euch eine dritte Chance. Solltet ihr den Test wieder nicht bestehen, werdet ihr erschossen. Aber keine Sorge, wir machen das ganz spielerisch. Ich stelle euch eine Quizfrage. Ist eure Antwort korrekt, überlebt ihr, antwortet ihr falsch, werdet ihr sterben.“ Berger schnappte nach Luft, da er den Atem angehalten hatte. Pfeiffer schrie: „Sind Sie irre? Was sollen wir überhaupt wissen, verdammt? Und woher? Das geht doch nicht.“ Die Stimme ratterte fort, ohne einen Hauch des Zögerns: „Das geht sehr gut. Los geht’s.“

Marlene, die Halbschwester von Maria, Pfeiffers Ex, verschwand spurlos vor einem halben Jahr. Das einzige Lebenszeichen von ihr kam als Postkarte von der anderen Seite des Planeten.

Ein forensischer Schriftgutachter hatte die Karte geprüft und eindeutig festgestellt, dass es sich um Marlenes Schrift handelte. Auch die DNS-Probe stimmte mit dem Abgleich der Zahnbürste von ihr überein.

Deshalb wurde die Vermisstenanzeige, die Maria aufgegeben hat, als erledigt angesehen.

Pfeiffer wurde schlecht.
Sie haben Maria erpresst und um ihre Halbschwester zu retten, hat sie sich selbst erschossen, ging es ihm durch den Kopf.

Sein Gegenüber mit einem aschfahlem Gesicht sah ihn an.
Berger wollte etwas sagen, doch die Stimme versagte ihm.

Marlene, das Ergebnis eines sexuellen Fehlschlusses in jungen Jahren.
Seine Frau wusste nicht, dass er eine erwachsene Tochter hat, sie war streng katholisch und hätte ihn nie geheiratet, wenn sie von seinem Vorleben erfahren hätte.

Das Video lief weiter. Doch sein Gehirn hatte abgeschaltet. Was gesprochen wurde, verstand er nur als einzelne Wörter, aus denen er sich keinen Reim machen konnte.
Fassungslos schaute er sich die laufenden Bilder an.

Die Panik stieg mit gewaltiger Wut in ihm auf.
Pfeiffer erging es ebenso.

Ein langgezogener Schrei drang zu seinem Gehirn durch und riss ihn aus dem Nebel seines Gedankenchaos.

Es war der Schrei seiner Frau. Sie war die einzige Person im Raum, welche die gesprochenen Worte erfasste und begriff.

Der Sprecher stellte erneut Forderungen, dieses Mal an Pfeiffer und Berger.

“Sie wollen sicher nicht noch den Tod von Marlene verantworten! Es ist ihre Entscheidung, ob sie lebt oder stirbt. Erfüllen sie meine Forderung und sie wird weiterleben!“

Danach verschwand das Bild und der Ton.

Pfeiffer griff zum Handy und wählte den Notruf.
Wenige Minuten später traf die Polizei erneut bei Bergers ein.

“Das Video erklärt einiges, das erste Opfer war der Großvater von Marlene. Maria die Halbschwester, Berger der Vater und Pfeiffer der EX-Geliebte. Das ist ein blutiger Feldzug gegen die Angehörigen. Motiv Rache mutmaße ich jetzt ins Grüne hinein“, erklärte Kommissar Knut seinem Ermittlungsteam.

“Wie geht es Frau Berger?“ fragte eine junge Polizistin.
“Sie ist vernehmungsunfähig , steht unter Schock und hat eine Stichverletzung, schwebt nicht mehr in Lebensgefahr.

Pfeiffer und Berger sind tot. Nach Absetzen des Notrufes haben sie sich gegenseitig mit Küchenmessern abgestochen. Vermutlich wollte Frau Berger dazwischen gehen und wurde dabei verletzt, die Auswertung des Videos auf dem Stick läuft noch.“

„Also sind Berger und Pfeiffer der Forderung des Erpressers gefolgt?“ fragte die Polizistin nach.

“Ja. Der Täter hat im Video Berger mitgeteilt, dass sein einziges Kind sterben wird, wenn er nicht Pfeifer innerhalb der nächsten 10 Minuten tötet,“ antwortete Knut.

“Dann hat sich Pfeiffer gewehrt?“,hakte sie nach.

“Nein, Pfeiffer wurde aufgefordert Berger zu töten, einmal um Marlenes Leben zu retten und zweitens, ging es um eine Entscheidung, die Pfeiffer mal in seinem Leben getroffen hat und ihn erpressbar machte, weil er auf illegalem Weg an eine Story gekommen ist, die das Leben eines aufstrebenden Politiker zerstört hat.
Ich denke, wir werden dem Herren einen Besuch abstatten.
Mein Hauptverdächtiger zur Zeit.
Er ist der Sohn des ehemaligen Staatsanwalts Schenker.
Schenker musste deshalb zurücktreten, aber öffentlich wurde der Ball klein gehalten und es wurde behauptet; gesundheitliche Gründe. Er kam ein halbes Jahr später bei einem Autounfall ums Leben. 3,1 Promille im Blut.
Schenkers Sohn war von da an Dauergast in einigen psychiatrischen Einrichtungen. Er gilt als hochintelligent und Narzisst. Von Beruf Rechtsanwalt.
Macht euch bei ihm auf was gefasst.“

Marquardt sah sich das Video noch einmal an: die Gruppe Schaulustiger, die wie Geier eine Frauenleiche im roten Mantel umringen. Ein ganz Mutiger prüft vorsichtig am Bein, ob noch Leben im Körper ist.
Bekloppte Idioten! Das halbe Gehirn liegt verteilt über den Schotterweg, wie viel Leben wird da noch im Bein stecken?
Das Video stoppte am Ende. Er schob es mit der Maus zur Seite und vergrößerte das andere Video. Leicht verwackelt sah er ein Haus, ein älterer Graubart war zu sehen. Er spulte vor, bis der Schuss dem älteren Mann den Hinterkopf öffnete.
Das war doch schon mal ein guter Anfang! Seine Mundwinkel hoben sich zu einem zarten Lächeln, als Marquardt plötzlich ein Geräusch neben sich wahrnahm.
Er hörte ein schwaches Stöhnen aus dem Computer-Lautsprecher. Ein Klick mit der Maus und ein Livebild war bildschirmfüllend zu sehen. Sie wurde gerade wieder wach.


Marlene konnte nicht mehr. Als sie aufwachte, lag sie auf der Seite, feine Kiesel drückten sich in ihre Haut unter der Schulter. Ihre Hände waren geschwollen und taten immer noch weh. Die Füße schmerzten schon lange nicht mehr, sie kribbelten taub. Sie wollte etwas rufen, sie wollte um Hilfe schreien, aber sie konnte nicht. Ihre Lippen waren aufgesprungen, der Mund war so trocken, dass sie nur ein leises Stöhnen herausbrachte.
Über ihr konnte sie ein kleines rotes Licht erahnen. Sie glaubte, es würde von einer Kamera stammen, aber im dunklen Raum war sonst nichts zu erkennen.


Dorothea flehte ihren Ehemann an, die Polizei zu rufen. Sie konnten doch nicht einfach auf die Forderungen eines Kriminellen, eines MÖRDERS, eingehen. Sie schrie „Richard! Bitte!“ Sie trommelte gegen seine Brust, sah ihn mit aufgerissenen Augen an. „Lass mich die Polizei rufen. Es ist zu gefährlich!“

„Doro, bitte. Wir können die Polizei nicht rufen. Du weißt doch, wozu dieser Verrückte im Stande ist! Willst Du wirklich das Leben vom Marlene aufs Spiel setzen?“ Berger sah seine Frau verständnislos an.
„Dann lass mich wenigstens mitkommen! Ich will hier nicht alleine im Haus bleiben!

Christian Pfeiffer war schon auf dem Weg zur Haustür.
„Herr Berger, wir müssen los!“
Dorothea löste sich von ihrem Mann und lies die beiden gehen. Sie wusste, dass sie Recht hatten. Sie sah den beiden nach und schloss hinter ihnen die Haustür.

Im Auto sagte niemand etwas. Die Häuser der Stadt zogen ungesehen an den beiden vorbei, Berger fuhr wie betäubt in Richtung der Adresse.
Um 19:56 drehte Berger den Zündschlüssel und der Motor erstarb. Sie standen mit dem Auto etwas abseits der Adresse am Straßenrand. Christian Pfeiffer sah vom Beifahrersitz zu ihm rüber. Etwas unschlüssig sahen die beiden Männer sich an. Berger machte den ersten Schritt: Voller Elan öffnete er die Fahrertür und stieg aus. Christian Pfeiffer folgte seinem Beispiel zögerlicher.
„Da vorn muss es sein“ Pfeiffer zeigte auf eine Halle, die sich vor dem dunklen Abendhimmel abzeichnete. Sie näherten sich langsam der nackten Wellblechhalle. Sie stand mit der Giebelseite zur Straße und zeigte nur ein großes Rolltor und eine kleine Tür.
Um 20:01 standen sie vor der Tür und sahen sich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Das Industriegebiet lag in völliger Stille.
Christian Pfeiffer griff nach der Türklinke und drückte sie vorsichtig runter.
„Halt!“ Berger hielt Christian Pfeiffers Hand auf der Klinke fest. Leise sprach er weiter und sah ihn eindringlich an „Es ist erst acht. Auf dem Zettel stand pünktlich um 20:05 Uhr.“
„Ich war beim letzten Mal nur um Sekunden zu spät, das will ich nicht noch einmal riskieren“ die Tür öffnete sich geräuschlos. Es war absolut dunkel. Sie gingen vorsichtig ein paar Schritte von der Tür weg, hinein in die Halle. Ihre Schritte hallten von den nackten Wänden zurück. Die Halle schien völlig leer zu sein. Christian Pfeiffer nahm sein Diensthandy und schaltete die Taschenlampe ein. Das weiße Licht der LED bestätigte den Verdacht: Die Halle war komplett leer. Der nackte Betonboden war ordentlich gefegt und von Marlene keine Spur zu sehen.


Marquardt verließ eilig die Wohnung und stieg auf sein Motorrad vor der Tür. Er brauchte nur zwei Minuten für die kurze Strecke. Schon hundert Meter vor seinem Ziel machte er den Motor aus und rollte lautlos ohne Licht weiter. Er konnte schon von der Straße aus erkennen, dass jemand zu drinnen war.


Um 20:04 surrte es von überall her. Berger und Christian Pfeiffer sahen sich erschrocken an, als hunderte Leuchtstoffröhren surrend und klackernd ansprangen und die ganze Halle mit grellem Licht fluteten. Sie kniffen die Augen zusammen und schirmten mit den Händen die Gesichter vor dem Licht ab.
„Da!“ Berger zeigte auf eine Tür am anderen Ende der Halle. Ein großes Dollarzeichen war mit goldener Farbe auf die Tür gemalt worden. Auch Christian Pfeiffer erkannte das Symbol. Er hatte es in dem verwackelten Video auf Bergers Krawatte gesehen. Sie stürmten zur Tür und eine Sekunde vor 20:05 Uhr drückte Berger die Klinke runter.

Sie öffneten die Tür und kamen in einen kleinen Anbau. Eine Art Büro für den Vorarbeiter vielleicht, mit einem Schreibtisch und Computer darauf. Christian Pfeiffer ging zuerst um den Schreibtisch herum und sah sich verwundert das dunkle Bild auf dem Monitor an. Als Berger neben ihm stand, riss dieser die Augen auf. In das Standbild kam plötzlich Bewegung. Beide erkannten das schwach erleuchtete Haus der Bergers.
Sie sahen, wie das Automatiklicht vor der Tür anging und der jüngere Mann aus dem Video ins Bild kam.
Wie angewurzelt beobachteten sie, wie Dorothea die Tür öffnete und den Mann freundlich hereinbat.

Maria voll der Gnade

Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter der Frauen und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus. Gegrüßte seist Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus. Gegrüßet seist Du, Maria, voll der…

Maria, die mit bürgerlichem Namen Marianne hieß, ließ sich mit einem lauten Seufzen neben ihre Freundin auf die Bank vor dem Hörsaal fallen. Die Welt war am Arsch, die 1,5 Grad Erderwärmung waren erreicht, doch statt sich irgendeinen Dreck darum zu scheren, machten 16 jährige Influencer Schmollmünder auf Insta und die Reichen kauften Flugzeuge. Mathes, wie sich der Ökonomieprofessor von seinen Studenten nennen ließ, hatte recht. Irgendetwas musste geschehen. Es war an der Zeit. Sie kramte in ihrer Tasche und zog den Flyer raus, den ihr Mathes nach der Vorlesung in die Hand gedrückt hatte. „Die Krieger der letzten Tage. 11. Februar, 15:05 Uhr 50.0936300, 8.7274981“ war darauf in Comic Sans zu lesen. „Du denkst doch nicht etwa daran, dorthin zu gehen?“ Linn war wie immer eher pragmatisch. „Ich meine, Mathes ist zwar ganz cool, aber irgendwie hat er glaub ich einen Lattenschuss. Und dann noch auf nem Parkplatz im Wald … ich meine das ist schon ein bisschen theatralisch. Kaugummi?“ „Wie Parkplatz?“ Maria steckte sich gedankenverloren den angebotenen Kaugummi in den Mund. „Na, die Koordinaten. Das ist ein Parkplatz im Scheerwald. In der Nähe vom Friedhof“ gab Linn triumphierend ihre detektivischen Leistungen preis. „Und findest Du es nicht auch total seltsam, dass er den Flyer nur Chiara, Jette, Dir und mir gegeben hat?“ „Was meinst Du?“ „Na, wir sind irgendwie alle der gleiche Typ, findest Du nicht? Hat was von Casting: Dunkelhaarige schlanke Frau Mitte zwanzig…“ Maria schüttelte energisch den Kopf: „Ach, Quatsch. Das hat ja wohl nichts mit Optik sondern eher mit Engagement zu tun.“ Zu sagen, dass Jette ihr kein Stück ähnlich sah, hatte Maria sich gerade noch verkniffen. „Tzzzzzzzz - wie Du meinst… aber vielleicht kannst Du Mathes ja auch anders Dein „Engagement“ zeigen? Das ist einfach alles etwas schräg… tu mir den Gefallen und geht da nicht hin, ja, Riri?“

… Gnade, Du bist gebenedeit unter den Frauen. (Jede Wiederholung zehn Sekunden, waren ihre Gedanken zu schnell? Zehn Sekunden, zehn Sekunden) Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit… (Noch neun Wiederholungen. Sie hätte sich doch fürs Zählen entscheiden sollen. Hatte er genug Zeit? Zehn Sekunden eine Wiederholung. Sie hob langsam den Kopf zum Fenster und erschauderte. Zehn Sekunden pro Wiederholung, wie häufig hatte sie den Spruch innerlich zitiert? Waren es noch acht oder noch sieben… Mathes würde doch bestimmt vorher… Noch sechs Wiederholungen. Oh Gott, ihre Mutter, sie war so doch schon so alt. Noch fünf Wiederholungen. Für die gute Sache. Noch vier. Drei. Zwei. Mama verzeih mir. Noch eine Wiederholung… Keine Gnade… bis zum Schuss.)

Jette saß in der Ecke des Campers auf einer Matraze und schaute trotzig auf ihre Füße. „Ich geh nicht in die blöde Online Redaktion vom Frankfurter Generalanzeiger. Wieso kann nicht einer von den Beiden da hingehen?„, wobei sie auf die neben ihr sitzenden Männer blickte. Der Ältere von beiden fing an zu lachen und brummte: „Und wie stellst Du Dir das vor? Guten Tach, ich bin der Jürgen, ich bin 53 Jahre und ich mach hier ein Schülerpraktikum.“ Paul, der bis dahin teilnahmslos neben Jürgen gesessen hatte, stieß Jürgen kichernd seinen Ellenbogen in die Rippen. „Der war gut. Hehehe. Schülerpraktikum. Hehehe.“ Jette zog die Schultern nach oben und verdrehte die Augen. „Ich verstehe sowieso nicht, was das Ganze hier soll. Ich hab gedacht, wir machen so eine Art PETA Aktion oder es gibt wenigstens extra Credits und jetzt sitz ich hier mit ein paar Bauarbeitern in nem Van im Wald. Sorry, Mathes, ich bin raus. Ich hab einen Praktikumsplatz bei der Süddeutschen, für das ganze nächste Semester, das schmeiß ich nicht so einfach hin. Und das hat auf alle Fälle mehr Reichweite als dieses Mistblatt. Das ließt doch wirklich niemand!“
„Och - ich les den Generalanzeiger eigentlich ganz gerne. Vor allem ist die Onlineseite noch kostenlos, für alles andere muss man ja mittlerweile einen Haufen zahlen, das ist ja echt nicht mehr normal. Wie soll man da noch von freiem Medienzugang reden. Kann sich ja kein Mensch mehr leisten,“ plapperte Maria los, die Tür noch in der Hand und strahlte dabei Mathes an, der halb gekümmt an der Wand des spartanisch ausgebauten Fahrzeugs lehnte. „Tschuldigung, die S-Bahn ist ausgefallen und - es ist wirklich schwer zu finden, das Ganze. Kuschelig habt ihr es hier." „Und Du bist?“ Maria zuckte leise zusammen da sie erst jetzt die Frau wahrnahm, die rechts von ihr neben der Tür stand. „Das ist unsere Maria," sagte Mathes und zwinkerte Maria dabei zu „von ihr hab ich Dir erzählt.“
Die Frau verzog ihren rotgeschminkten Mund zu einem unklaren Lächeln. „Ah. Maria… Maria … Maria," und nach einer Gedankenpause mit den Händen an Marias Gesicht „Maria voll der Gnade. Wie passend. Es freut mich sehr. Ich bin Marlene."

Dorothea beäugte die beiden Männer misstrauisch, ehe sie fassungslos fragte: »Was, ihr kennt diese Frau, ihr beide?«.
An ihrem Mann gewandt forderte sie: »Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wer sie ist.«
Das Video war weitergelaufen und die Szene hatte gewechselt. Nun war eine maskierte Person zu sehen, die emotionslos mit stark verzerrter Stimme erklärte: »Richard Berger und Christian Pfeiffer. Ihr beide kennt…«
Herr Bergers Augen weiteten sich vor Schreck. Er rief Christian panisch zu: »Halten Sie das Video an! Sofort!«.
Christian folgte erst der Aufforderung, da er ahnte, was die nächsten Sätze beinhalten würden. Wenn er Recht hatte, würden sie für das Ehepaar höchst unangenehm sein. Doch Frau Berger hatte bereits so vieles mitangehört, dass es sowieso schon zu spät war. Außerdem überwog inzwischen sein journalistisches und persönliches Interesse. Er murmelte halbherzig eine Entschuldigung, warf Herrn Berger einen bedauernden Blick zu, dann drückte er auf den Abspielknopf.
Der maskierte Mann fuhr fort: »… Marlene. Auch wenn sie gerade nicht mehr ganz so hübsch aussieht, bin ich mir sicher, dass ihr sie wiedererkennt. Sie ist immer noch die gleiche Schlampe wie damals, als ihr sie gevögelt habt.«
Richard fühlte sich wie betäubt und wagte es nicht, Dorothea in die Augen zu blicken, die ihn wahrscheinlich ungläubig und vorwurfsvoll anstarrte, und das zu Recht. Christian hatte wieder pausiert, damit Herr und Frau Berger sich fassen konnten. Keiner sprach jedoch ein Wort, die plötzliche Stille wirkte gespenstisch und wurde immer drückender.
Richard hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen: »Doro, es tut mir leid. Hör zu, das war eine einmalige Sache, ein Fehler. Vor einem halben Jahr hatte ich endlich einmal Erfolg an der Aktienbörse gehabt, knapp Zwanzigtausend Euro Gewinn. Ich war feiern gegangen in diese Schickimicki-Bar, Du weißt doch, da wollte ich immer schon mal hin. Ich habe getrunken, erst Champagner und dann Gin. Und dann war da Marlene. Sie kam auf mich zu, hat mich angesprochen, einfach so. Wir haben uns unterhalten, ganz unverfänglich, und irgendwann, na ja, es war spät, ich war betrunken, da hat sie mich in ein Hotel gebracht. Und plötzlich stand sie nackt vor mir…«
Dorothea unterbrach mit Tränen in den Augen und halb erstickter Stimme: »Lass es einfach. Ich habe es sowieso schon geahnt. Weißt Du, eine Frau spürt sowas. Herr Pfeiffer, lassen Sie es bitte weiterlaufen.«
Der Angesprochene lies sich das nicht zweimal sagen.
Die eisige Stimme im Video fuhr fort: »Sie, Richard Berger, haben Dorothea betrogen. Ich habe Marlenes Freund davon erzählt und ihn vor eine Wahl gestellt: Entweder bringt er mir Zehntausend Euro von Ihnen, oder Marlene stirbt. Da ich ein gutmütiger Mensch bin, habe ich ihm auch eine dritte Wahl gelassen, für die er sich dann kurzerhand entschieden hat.«
Pures Entsetzen zeichnete sich in den Gesichtern der Anwesenden ab.
»Und Sie, Christian Pfeiffer, haben Maria betrogen, und das geschmackloserweise mit der Schwester ihrer Freundin. Also habe ich Maria vor eine Wahl gestellt. Die drei Möglichkeiten können Sie sich ja denken. Und dass es besser für alle Beteiligten wäre, wenn Sie heute abend pünklich sind, ebenfalls.«
Nach den ersten Schocksekunden sprang Christians journalistischer Instinkt an: Das Motiv war eindeutig Rache. Wer würde sowohl Marlene als auch den Männern, mit denen Marlene etwas gehabt hatte, schaden wollen? Eine betrogene Ehefrau!
Unwillkürlich äugte Christian zu Dorothea hinüber. Er dachte sich: »Die Tränen, das Entsetzen, das war nicht gespielt, unmöglich. Außer wenn Dorothea eine begnadete Schauspielerin war. Maria war tot, oder hatte sie das nur inzeniert? Aber Rache an der eigenen Schwester? Maria war keine rachsüchtige Furie gewesen. Und Marlene? Warum sollte sie sich rächen, sie war doch diejenige gewesen, die die Affären initiiert hatte.« Christian schüttelte die Gedanken ab. Heute abend würden sie mehr erfahren.

Es war 19:43, als der dunkelgraue Wagen mit Richard am Steuer die Lagerhalle im Industriegebiet erreichte. Dorothea saß auf dem Beifahrersitz, sie hatte es sich nicht nehmen lassen, mitzukommen, obwohl die beiden Männer alles versucht hatten, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Christian saß angespannt auf dem Rücksitz.
Voller Unbehagen stiegen die drei Personen aus. Alles war dunkel, niemand schien hier zu sein. Richard flüsterte zu Dorothea: »Wenn dieser Irre Rache nehmen will, sind wir hier leichte Beute. Wir müssen das tun, Du nicht. Bitte überleg es Dir nochmal.«
Weder Dorothea noch Christian sagten etwas dazu. Christian dachte sich nur: »So leichte Beute sind wir nun auch wieder nicht. Ich habe zwei Überraschungen dabei, für wen auch immer.«
Sie tasteten sich langsam durch das Halbdunkel zur Lagerhalle vor und drückten gegen die schwere Metalltür. Mit einem unerhört lauten Quietschen schwang sie auf. Alle drei gingen hinein. Die beiden Männer tasteten rechts und links nach Lichtschaltern, die Frau ging ein paar Schritte gerade aus. Mit einem lauten Knall flog plötzlich die Eingangstür zu und das Halleninnere wurde in Flutlicht getaucht. Geblendet hielten sich die drei die Hände vor die Augen.
Christian hatte sich als erstes an das grelle Licht gewöhnt. In zehn Metern Entfernung lag Marlene auf dem Boden, genau wie in dem Video gefesselt, nur dass sie in Wirklichkeit noch verängstigter und mitgenommener wirkte. Er stürmte auf sie zu.
Aus Lautsprechern ertönte plötzlich wieder die verzerrte Stimme aus dem Video, bei der man nicht erkennen konnte, wem sie gehörte, ja nicht einmal, ob sie männlich oder weiblich war: »Christian. Nicht so hastig. Wenn Du Marlene versuchst zu befreien, sterbt ihr beide.«
Christian blieb abrupt stehen und lies seinen Blick suchend durch die Halle schweifen. Die Person konnte nicht wissen, dass er zu Marlene laufen würde, also konnte die Nachricht nicht aufgezeichnet sein. Oder etwa doch? Eine begrenzte Anzahl von Personen mit einer begrenzten Anzahl wahrscheinlicher Reaktionen. Nicht unmöglich.
Die Stimme fuhr fort: »Richard. Sie werden Marlene befreien. Von ihren Fesseln und ihrer Kleidung. Dorothea. Sie werden Christian befreien. Von seiner Waffe und von seiner Kleidung. Sie beide haben zwei Minuten.«
Betroffen sahen die vier Personen einander an. Jeder wusste, dass jede Sekunde zählte und doch wagte keiner, den ersten Schritt zu tun. Was verlange der Täter da? Und wozu? Hatte er alle nicht bereits genug gedemütigt?
Christian fluchte, er konnte niemanden erkennen und wenn er seine Waffe verlor, hatte er nur noch ein Ass im Ärmel. Woher wusste der Täter überhaupt, dass er eine Waffe trug? Er hatte bewusst weder Dorothea noch Richard davon erzählt.
Christian gab sich einen Ruck: »Los jetzt. Dorthoea, machen Sie es. Es ist okay. Wenn wir es nicht tun, wird es ja doch nur schlimmer.«
Auch Marlene versuchte etwas zu sagen und nickte Richard zu.

Offene Enden – vierter Teil

Von Michael Fritz

Ein paar Stunden vorher

»Ping«

Bestimmt wieder eine Nachricht aus seiner Signal-Gruppe. Seine Freunde wussten wohl, dass er heute frei und es sich zu Hause vor dem Fernseher bequem gemacht hatte. Leider musste seine Frau arbeiten und die Kinder waren noch in der Schule. Ungesehen öffnete er die neue Nachricht und im gefror das Blut in seinen Adern. Die Nachricht kam nicht aus seiner Gruppe, der Absender war unbekannt. Doch jetzt hatte er die Nachricht geöffnet und das sah der Empfänger. Die Nachricht enthielt Bilder seiner Frau vor Ihrer Arbeitsstelle und beim Einkaufen. Bilder von seinen Kindern auf dem Schulweg und beim Spielen. Und das Foto einer jungen Frau, die er nicht kannte. Sie war etwa 30 bis 35 Jahre alt. Unter dem Foto der Frau waren eine Adresse und ein Sprachnachrichten-Icon. Unter dem Icon stand in großen Lettern *ÖFFNEN ODER DEINE FAMILIE STIRBT NOCH HEUTE*.

Er öffnete die Sprachnachricht.

»Noch geht es deiner Familie gut, wenn Du willst, das es so bleibt, wirst du tun, was wir die sagen. Die Frau auf dem Foto wird zwischen 13:00 und 13:30 Ihr Haus verlassen und zum Einkaufen fahren. Du wirst sie Abpassen betäuben und entführen. Du wirst sie ins alte Industriegebiet bringen, wo dort, ist uns egal, sie darf nur nicht gefunden werden. Wenn du dort bist, wirst Du sie filmen. Man muss aber deutlich Ihr Gesicht sehen. Danach wirst du ihr wieder den Sack über den Kopf ziehen und verschwinden.«

Das aufgenommene Video wirst du samt Adresse, wo du sie untergebracht hast, an folgende E-Mail Adresse senden ichhabsgetan69@protonmail.com. Ist das erledigt, wirst du die E-Mail löschen. Damit Dir klar wird, dass wir es ernst meinen, haben wir ein kleines Paket vor deine Haustür gelegt. Da ist alles drin, was du brauchst, auch ein Brief, den du ungeöffnet, neben die Frau legen wirst, bevor du wieder verschwindest.

Wir empfehlen dir, Handschuhe und eine Maske zu tragen.«

Ihm war schlecht. Sein erster Impuls war, seine Frau anzurufen, doch plötzlich war die Signal-Nachricht verschwunden. Hatte er sich das nur eingebildet? Mit einem mulmigen Gefühl ging er zu seiner Haustür und öffnete diese. Da war tatsächlich ein Paket. Mit jetzt zitternden Händen nahm er das Paket auf und brachte es in die Garage. Ihm war spei Übel. Er zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig öffnete er das Paket. Was er sah, ließ ihm einen Schrei entweichen.

»NEIN! – diese Schweine meinen es ernst.«

Dort lag, mit gebrochenem Knick, Basti, der Yorkshire Terrier Welpe der Familie. Langsam hob er den Welpen aus dem Paket und legte ihn beiseite. Dann sah er nach, was noch im Paket war. Der angekündigte Brief, ein schwarzer Sack, gerade groß genug um ihn jemanden über den Kopf zu ziehen, Panzertape, eine volle Spritze ein schwarzer Overall, schwarze Handschuhe und eine Strickmütze, die über den ganzen Kopf ging. Genau so eine, wie er sie aus den amerikanischen Filmen kannte, bei Banküberfällen.


Marlene dämmerte langsam ins hier und jetzt zurück, die Augen noch geschlossen. Ihr Kopf und ihre Glieder schmerzten, ›was ist hier los?‹ dachte sie bei sich, ›wo bin ich? Warum kann ich mich nicht bewegen.‹

Sie versuchte, Ihre Augen zu öffnen, es fiel Ihr schwer. Aber es blieb dunkel. Ihr war kalt. Sie lag, wahrscheinlich auf dem Boden. Auf einmal fummelte jemand an Ihrem Kopf, nein es war ihr Kragen. Dann wurde es heller. Ein Licht blendete Sie, eine schemenhafte Gestalt war dahinter zu erkennen. Sie hätte nicht sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war. ›was machte die Gestalt da? Filmte sie mich?‹

Marlene hatte Angst, im Augenblick konnte Sie die Situation nicht kontrollieren.

Die Gestalt sagte nicht ein Wort. Langsam konnte Marlene wieder klar denken. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt, Ihre Füße zusammen gebunden und Ihr Mund war zugeklebt. Und bis eben, hatte Sie einen schwarzen Sack auf, der Ihr die Sicht nahm. Die Räumlichkeit in der Sie sich befand, war ziemlich dunkel, dennoch konnte sie schemenhaft einiges erkennen. Ein zerborstenes Fenster, einen Ausgang und die Person, die Sie gerade filmte. Sie hörte außer den Schritten der Person vor sich, nichts. Also waren Sie alleine. Auf einmal kam das Licht auf Sie zu und der Sack wurde wieder über Ihren Kopf gestülpt. Sie hörte, wie sich die Schritte der Person entfernten. Nach etwa einer Minute warten, robbte Marlene sich, so gut es ging, langsam Richtung Fenster. Als es unter Ihr knirschte, wusste Sie, Sie hatte gewonnen. Vorsichtig nahm sie eine Scherbe auf und fing an, Ihre Fesseln zu zerstören. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Ihre Hände frei waren. Tiefe Schnittwunden blieben auf Ihren Händen zurück.

Nachdem Sie den Sack über Ihrem Kopf losgeworden war, befreite Sie Ihre Beine und dann Ihren Mund.

Sie war frei. Leise sagte sie vor sich hin »Also ein Profi war der nicht.«

Vorsichtig und mit bedacht verließ die Örtlichkeiten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sie auf Menschen traf. Diese bat sie die Polizei zu rufen.


In unmittelbarer Nähe des Hauses der Bergers stand ein unauffälliger VW-Passat.

Er stand dort schon mehrere Tage. Seine Insassen wechselten im vier Stunden Takt. Die Kriminalpolizei beobachtete Berger und Pfeifer seit dem Mord an Maria. Ja sogar das Abhören wurde ihnen auf richterlichen Beschluss erlaubt.

Ihnen entging nicht, dass ein kleines Päckchen vor Bergers Tür gelegt wurde.

»Sommer« kam es von Haber, »Du bleibst hier und hörst weiter zu, ich schnapp mir den Paketboten.«

Haber stieg aus und ging dem Paketboten schnellen Schrittes hinterher. Es wurde schon dunkel. Dadurch viel Haber kaum auf. Zwei Ecken weiter bemerkte Haber, dass der Bote ja nur ein Junge war, im höchsten Fall 14 Jahre. Haber schnappte sich den Jungen. »Wie bist du an das Päckchen gekommen, dass du bei den Berger abgelegt hast?«

»Was wollen Sie, wer sind Sie, Hilfe! Hilfe!«, schrie der Junge.

»Schon in Ordnung«, sagte Haber sehr laut, damit die umstehenden Passanten nicht eingriffen. »Ich bin von der Kriminalpolizei, also sprich, Junge«.

»Ich, ich habe eine Signal-Nachricht bekommen, dass ein Päckchen bei uns hinter dem Haus liegt«, sagte der Junge mit Angst in der Stimme. »Bei dem Päckchen lagen 20,- EUR. In der Nachricht hieß es, ich sollte warten, bis eine neue Nachricht eintrifft, die mich auffordert, das Päckchen jetzt abzulegen und dann zu verschwinden. Wenn ich es abgeliefert habe, bekomme ich eine letzte Nachricht wo ich noch mal 50.- EUR finden werden. Das ist alles Alter und jetzt lass mich los.«

»Ich fürchte, ganz so einfach ist das nicht. Du kommst mit aufs Revier und machst dort eine Aussage. Wir rufen zwischenzeitlich deine Eltern an. Die können dich dann abholen.«


Die Frau, die im Video vor ihren Augen lag, war eindeutig sie. Es gab keine Zweifel. Ihr Gesicht, das immer von einem warmen, beinahe schelmischen Lächeln geprägt war, war jetzt verzerrt von Angst und Schmerz. Das blutunterlaufene, durch das Panzertape verzerrte Gesicht war ein klares Zeichen für den Horror, den sie durchlebte.

Pfeiffer und Berger sahen sich an. »Woher«.

»Sie ist, war, die beste Freundin von Maria meiner Freundin«, sagte Pfeiffer »…und woher …« »Marlene ist meine Nichte.«

Dann sagte niemand mehr etwas.

Die Stille im Raum war erdrückend, als Pfeiffer und Berger einander ansahen. Die Entdeckung, dass Marlene – Bergers Nichte und Marias beste Freundin – in der Gewalt des unbekannten Täters war, hatte sie beide völlig überfordert. Die Vorstellung, dass diese junge unschuldige Frau, in die mörderischen Machenschaften verwickelt wurde, schnürte ihnen die Kehle zu.

Es war nicht nur ein Erpressungsversuch gegen ihn und Berger. Nein, der Täter hatte etwas anderes im Sinn. Und das Gefühl, dass er etwas übersehen hatte, schlich sich immer weiter in Pfeiffers Gedanken. Pfeiffer erhob sich.

»Ich habe den Eindruck, Mister X hat es auf uns beide abgesehen. Auf uns, nicht nur auf unser Geld.«

»Wir müssen Mister X finden,«, murmelte Berger. »Das Schwein dass hinter all dem steckt. Nur wie? Wir wissen doch nichts über ihn. Die Polizei…« Er sprach den Namen wie ein Fluch, als wäre er es leid, ständig in ihren Netzwerken von Misstrauen und Versäumnissen gefangen zu sein.

»Ja, die Polizei…«, wiederholte Pfeiffer, und das Wort schien fast ironisch in der Luft zu hängen. Doch dann stieg in ihm ein Gedanke auf, der ihm wenig später die Nackenhaare aufstellte. »Ich könnte sie anrufen. Ich muss sie anrufen«, sagte er fast zu sich selbst. Doch im selben Moment zog er die Stirn kraus. Es war nicht so einfach, den Ermittlern zu vertrauen – immerhin war er einer der Hauptverdächtigen in dem Mordfall, der ihn in die ganze Misere verwickelt hatte. Und dazu noch die Entführung von Marlene. Von der wusste die Polizei bisher noch nichts.

»Vielleicht nicht«, murmelte er schließlich. »Die Polizei wird uns nicht helfen, Herr Berger. Sie vertrauen uns nicht und die Ermittlung läuft längst auf Hochtouren. Wir müssen das selbst regeln. Nur müssen wir schnell sein, sonst verlieren wir Marlene.«

In diesem Moment klingelte das Handy von Pfeiffer. Er nahm es zögerlich in die Hand und sah die Nummer auf dem Display. Es war Inspektor Haber.

»Pfeiffer?«, meldete er sich misstrauisch.

»Hallo Herr Pfeiffer, wir wissen, dass Sie und Herr Berger erpresst werden. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Meine Kollegin und ich sind in 5 Minuten bei Ihnen.«

Pfeiffer sah Berger an und meinte »Das war Inspektor Haber, wir sollen hier auf ihn warten.«

»Und woher weiß er das Sie hier bei uns sind?«

»Keine Ahnung, vielleicht ortet er mein Handy«, sagte Pfeiffer. »Es ist nur… Er wusste auch, dass wir erpresst werden.«

Berger zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

Dann klingelte es. Dorothea verließ den Raum, um aufzumachen. Nur Augenblicke später kam Sie mit Inspektor Haber und seiner Kollegin Sommer zurück ins Wohnzimmer.

»Guten Abend«, kam es von den beiden Kripobeamten.

Haber ergriff das Wort. »Meine Herren, wir wissen, dass Sie erpresst werden. Wir wissen auch, dass Sie dieses Problem alleine lösen wollten. Was nebenbei bemerkt, äußerst dumm ist.«

Pfeiffer wollte etwas sagen, aber Haber hielt die Hand hoch und unterbrach ihn.

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welch wollen Sie zuerst hören?«

»Die gute«, sagte Pfeifer und Berger simultan.

»Marlene geht es gut. Sie ist im Krankenhaus und wird dort versorgt. Wahrscheinlich kann sie heute auch schon wieder entlassen werden.«

»Nun kommen wir zur schlechten Nachricht. Sie sind beide verhaftet! Sommer würdest du Bitte«

Inspektorin Sommer trat an Herrn Berger heran.

»Herr Richard Berger, hiermit verhafte ich Sie wegen des Verdachtes auf Unterschlagung und Steuerhinterziehung. Sie haben das Recht zu schweigen …

Haber der noch vor Pfeiffer stand sah Pfeiffer in die Augen und sagte mit gelassener Stimme »Herr Christian Pfeiffer, hiermit verhafte ich Sie wegen des Verdachtes auf wissentlich falscher Berichterstattung und Meineid. Sie haben das Recht zu schweigen … «

»Wie kommen Sie auf so absurde Vorwürfe«, fragte Pfeiffer, der es immer noch nicht glauben konnte, was gerade passiert.

»Die Beamten, die Marlene abgeholt haben, nachdem Sie die 110 gewählt hatte, sind mit Ihr noch einmal zum Ort des Geschehens gefahren. Dort fanden Sie einen dicken Brief mit belastendem Beweismaterial. Das erklärt zwar noch nicht die Morde, oder wer der Täter ist, aber die Ermittlungen laufen ja noch.«

Marlene
Marlene räkelte sich und legte ihre Hand auf das Laken im Nebenbett. Es war noch leicht warm. Sie musste ihn um wenige Minuten verpasst haben. Sie hatten vereinbart, dass sie länger liegen bleiben würde, um mindestens eine Stunde nach ihm im Büro einzutreffen. Niemand schöpfte Verdacht. Und so sollte es bleiben. Marlene setzte sich auf den Bettrand und fischte ihr Handy vom Nachttisch. Keine Nachricht. Schlaftrunken begab sie sich ins Bad.

Unter der Dusche ließ sie den gestrigen Abend Revue passieren. Sie war etwas zu früh im hoteleigenen Steakhouse am Rande der Stadt eingetroffen. Während sie an der Bar auf ihn wartete, ließ sie den Blick durch das Lokal schweifen. Das Restaurant war gut besucht, und alle Sitznischen waren bereits besetzt. Der Kellner signalisierte ihr, dass in Kürze ein Tisch im ruhigeren, hinteren Teil frei werden würde. Sie nickte dankbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie oder Richard hier erkannt würden, war gering. Richards Frau und ihre Freundinnen waren allesamt Vegetarierinnen; seit Neuestem waren auch ein paar Veganerinnen dabei. Im Steakhouse waren sie sicher.

Ihre Liaison dauerte nun schon mehr als zwei Jahre. Richard verwöhnte sie, schenkte ihr so viel Aufmerksamkeit, wie es die Umstände erlaubten. Marlene nippte an ihrem Gin Tonic und spielte gedankenverloren mit ihrer Halskette, die er ihr zum Jahrestag geschenkt hatte. Wie viel sie wohl wert war? In letzter Zeit war Richard zurückhaltender. Ob seine Frau etwas bemerkt hatte? Waren sie unvorsichtiger geworden? Sie würde ihn darauf ansprechen – doch nicht heute.

Pünktlich um acht Uhr traf Richard ein. Er strich ihr zur Begrüßung sanft durch das Haar und küsste sie innig. „Hallo, Schönheit“, sagte er lächelnd und sah sie verschwörerisch an. „Willkommen zum Weiterbildungsseminar.“

Ihr Gespräch während des Abendessens drehte sich um die Arbeit im Reisebüro, die Probleme mit dem neuen Buchungstool sowie das Verhalten der anderen Mitarbeiter. Sie waren sicher, dass niemand etwas ahnte. Am allerwenigsten seine Frau Dorothea, die sich bei Marlene öfter für die geleisteten Überstunden bedankte. Und solange Richard pünktlich zum Kirchgang wieder zu Hause war, waren sogar sonntägliche Schäferstündchen im Büro möglich.

Mit einer zweiten Rotweinflasche „to go“ verabschiedeten sie sich eine Stunde später von ihrem Kellner. Im Hotellift drückte Richard Marlene an den Spiegel und schob ihr kurzes Kleid hoch. Sie kicherte und wandte sich verschämt von ihm ab – Teil des Spiels. Kaum hatten sie die Hotelzimmertür hinter sich geschlossen, stellte Richard sich hinter Marlene und knöpfte ihr langsam das Kleid auf. „Süße Praktikantin, es ist Zeit, dass du deinen Chef so richtig verwöhnst“, flüsterte er ihr ins Ohr. Noch bevor das Kleid den Boden berührte, drehte sie sich um und ging auf die Knie.

Marlene stellte die Brause ab und trat aus der Dusche. Sie wickelte ein Tuch um die nassen Locken und betrachtete sich im Spiegel. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ihr Vater auf. „Na, wie gefällt dir das?“ Sie ließ den Blick auf ihren Augen ruhen. Betrachtete sich. Verachtete sich. Verachtete ihn. Wie verlogen das alles gewesen war. Die Überstunden auf der Redaktion. Die kurzfristig abgesagten Abendessen, weil „grad eine Story reingekommen war“. Sie hatte sein Wegbleiben, seine Verspätungen nie hinterfragt – bis sie ihn eines Tages nach der Arbeit überraschen wollte und den roten Damenmantel auf dem Autorücksitz sah. Der Mantel gehörte nicht ihrer Mutter. Sein verdutzter Gesichtsausdruck und seine hilflos gestammelte Erklärung sagten alles. Danach kühlte sich ihr Verhältnis ab. Sie ging ihm aus dem Weg. Nach seinem Wechsel zur Online-Redaktion versuchte er mehrmals, mit ihr über Social Media in Kontakt zu treten. Doch sie klickte seine Freundschaftsanfragen weg.

Die Affäre mit Richard war ihre Art, sich an ihrem Vater zu rächen. An Liebe hatte sie dabei nicht gedacht.

Schnellen Schrittes durchquerte Marlene eine halbe Stunde später die Hotellobby und winkte George an der Rezeption zum Abschied zu. Ihren roten Seat hatte sie etwas versteckt in einer Querstraße geparkt. Sie warf ihre kleine Reisetasche auf den Beifahrersitz, ließ sich auf den Fahrersitz sinken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Langsam atmete sie aus. „Wie lange konnte das noch so weitergehen? Würde Richard jemals reinen Tisch machen? Sollte sie ihn …?“ Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken. Erschrocken öffnete sie die Augen und nahm eine Bewegung auf dem Rücksitz wahr. Panisch tastete sie nach dem Türgriff.

Doch es war zu spät.

Mit Richard Berger auf dem Beifahrersitz saß Pfeiffer in seinem alten Saab. Eilig fuhr er noch einmal zur Redaktion. Obwohl er bereits früher in seinem Journalistenleben nicht ganz ungefährliche Situationen zu meistern gelernt hatte, fühlte er, dass es heute anders war als sonst.
Allein mit diesem unbedarften Kaufmann und ohne Waffe zu einem völlig unklaren Treffpunkt zu erscheinen, das wollte er nun doch nicht unbedingt.
Mit etwas Mühe hatte sich Berger gegen den Willen seiner Frau durchgesetzt und war zu Christian Pfeiffer ins Auto gestiegen. Trotz der Warnung wollte Dorothea Berger unbedingt die Polizei informieren. Dagegen hatte sich aber vor allem ihr Ehemann ganz plötzlich sehr energisch und intensiv ausgesprochen. Auch Pfeiffer war momentan gegen Polizei.
»Machen Sie bloß schnell, sonst schaffen wir es nicht, pünktlich am Treffpunkt zu erscheinen!«, ermahnte Berger Christian Pfeiffer im Auto. »Schließlich steht das Leben meiner Schwägerin auf dem Spiel.«
»Aber auch das Leben einer ehemaligen Freundin und Kollegin von Maria«, gab Pfeiffer zu bedenken.
»Wozu, zum Teufel, brauchen wir eine Waffe? Fahren Sie lieber direkt zum Industriezentrum!« Berger zeigte sich äußerst nervös und erbost. Pfeiffer schrieb das der ganzen Situation zu und konzentrierte sich auf den Verkehr und weniger auf Berger.
Natürlich tickte die Uhr. Und sie tickte sogar umso schneller als auch die Verkehrsampeln gerade jetzt besonders gern ihre rote Farbe zeigten. Dennoch, Pfeiffer hatte seinem Mitfahrer nicht die ganze Wahrheit offenbart. Denn, mehr als sich eine Schusswaffe einzustecken, wollte er unbedingt noch Personen informieren, denen er Vertrauen schenkte. Dazu gehörten sein Kollege Horst Walter und sein Freund und Privatdetektiv Thomas Scheller.
An seinem Platz in der Redaktion angekommen, suchte ein Kollege das Gespräch mit ihm, was er aber abzublocken wusste. Aus einem kleinen Wandtresor in der Besenkammer entnahm er einen Revolver, lud ihn, sicherte ihn und steckte ihn in seine Manteltasche. Offiziell existierte diese Waffe nicht. Dennoch hatten er und und einige Kollegen sie bereits einige Male eingesetzt, ohne jedoch damit schießen zu müssen. Pfeiffer hoffte, dass es auch diesmal so ausgehen würde. Übungsschießen in einem Frankfurter Sportschützenverein war eine Sache, in Gefahr auf Menschen zu schießen eine andere.
Weil er kein fremdes Diensthandy fand, hinterließ er vom Festnetztelefon eines Kollegen eine Nachricht auf dem automatischen Anrufbeantworter für Scheller. Pfeiffer hoffte, das Redaktions-Festnetz würde nicht komplett von den Kriminellen überwacht werden. Dann schrieb er noch einige informative Zeilen auf ein Blatt Papier und steckte es zwischen die Recherche-Notizen seines befreundeten Kollegen, der nicht anwesend war.
Eilig verschwand Pfeiffer wieder aus dem Redaktionsgebäude und rannte zu seinem Wagen. Berger war völlig aufgebracht. Zwar reichte die Zeit noch aus, um am Treffpunkt nicht unpünktlich zu sein, aber der Verkehr war ja unberechenbar. Diesmal ging es jedoch schneller voran als zuvor.
Straßenlaternen mussten bereits die Fahrwege beleuchten. Auch im Wagen hatte sich dunkelheit breit gemacht. Dennoch spürte Pfeiffer wie Bergers Verstimmung leise vor sich hinbrodelte. Beide Männer bevorzugten, sich lieber den eintönigen Motorengeräuschen hinzugeben. Jeder ging eigenen Gedanken nach. Schließlich fragte Berger, ob er sich im Auto eine Zigarre anstecken dürfe. Pfeiffer verneinte, nahm aber die Gesprächsaufnahme dazu wahr, kurz zu besprechen, wie sie sich bei dem Treffen und bei einer eventuellen Gefahr verhalten sollten. Berger schien den Vorschlägen seines Gefährten nur halbherzig zu folgen, stimmte aber einwandlos allem zu und verfiel wieder in eine unheilige Stille.
Pfeiffer überlegte, worin sein Wert und der von ihnen beiden in der Verbindung zu Marlene für die Kriminellen bestehen könnte. Marlene war die Ehefrau von Richards jüngerem Bruder. Sie war aber auch eine gute Freundin und Kollegin von Maria gewesen. Maria war Physikerin und Marlene Chemikerin. Beide waren in ein fakultätsübergreifendes Forschungsprojekt an der Frankfurter Goethe-Universität involviert. Bei einem Abendessen bei ihm zuhause mit Maria und Marlene hatten sie ihm davon erzählt. Sie versprachen auch, ihm zu geeigneter Zeit Informationen für einen Artikel darüber zur Verfügung zu stellen. Außerdem hatte Maria noch kurz vor ihrem Tod davon gesprochen, ihre Forschungsarbeit nicht im Institut aufzubewahren. Sie hatte sogar gesagt wo. Er hatte das dennoch nur sehr am Rande aufgenommen, es als etwas übertrieben gewertet und in seinem Gedächtnis im Schatten gelagert. Es ging um eine neue Form der Energiegewinnung, soviel wusste er. Genaueres hatte er aber noch nicht erfahren, auch weil die »exakten Wissenschaften« nicht unbedingt zu seinen Stärken zählten. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in aller Welt standen oft mit ihren Forschungen mit einem Bein auf dem schwedischen Podium. Sollte sich hinter diesem Fall doch mehr verstecken, als er vermutet hatte?
Seine Gedanken konnte er jetzt nicht weiterführen, denn sie waren in der Nähe des angegebenen Treffpunkts angelangt. Trotz der geringen Beleuchtung war es Berger, der die bezeichnete Adresse noch vor Pfeiffer entdeckte und entschieden mit dem Finger dorthin deutete.
Eine riesige Lagerhalle baute sich drohend in der Dunkelheit vor ihnen auf. Schwacher Lichtschein drang aus den Ritzen einer kleinen Seitentür. Davor standen zwei dunkle Typen. Einer von ihnen, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, kam auf den Saab zu.
Pfeiffer entschied spontan, seine Pistole lieber im Wagen zu lassen und steckte sie schnell ins Handschuhfach. Dann verließen er und Berger den Wagen und ließen sich in die Lagerhalle begleiten. Pfeiffers Herz begann schneller zu schlagen. Berger schien ruhiger zu bleiben als er.
In der Halle erwartete sie schummriges Licht in Eingangsnähe. Der begleitende Bewacher untersuchte sie nach Waffen. Pfeiffer war froh, sich dieser zuvor entledigt zu haben. Berger hätte er diese Erleichterung schon im Wagen ansehen können, wenn es nicht zu dunkel gewesen wäre.
Nach der Leibesvisitation sollten sie warten. Berger sah sich den Wachmann genauer an und blickte dann in die Dunkelheit. Pfeiffer nutzte die Wartezeit, um den dunklen Innenraum mit den Augen abzusuchen. Aber mehr als einen zementierten Fußboden, enorme Schatten-Dimensionen und von gelegentlichen Windböen geschüttelte Wandwellbleche konnte er momentan nicht ausmachen.
Als sich die Tür neben ihnen erneut öffnete und der zweite Mann die Nachricht überbrachte, dass draußen ‚die Luft rein‘ war, wurden sie unter dem Lichtschein einer Taschenlampe zu einem entfernteren kleinen Nebenraum geführt. Der Begleiter übergab beide Männer einem weiteren Posten. Dieser zündete eine kleine Lampe am Raum-Eingang an, die aber nur sehr unvollständig in den Innenraum leuchtete. Das Licht war gerade gut genug, um zu erkennen, dass sich dort ein Tisch befand, hinter dem eine dunkle Figur Platz genommen hatte. Von einer baritonalen Stimme aufgefordert, nahmen die beiden Männer ebenfalls auf zwei vorhandenen Stühlen Platz.
Berger ergriff sofort das Wort. »Wenn Sie Geld wollen, ich bin bereit für meine Schwägerin zu zahlen.«
»Das Leben ihrer Verwandten hängt von ihr selbst ab, nicht von dem Geld, das Sie einzusetzen in der Lage wären«, klärte ihn die Stimme auf. »Von Ihnen beiden erwarten wir andere Leistungen.« Pfeiffer fiel auf, wie gewählt sich ihr Gegenüber ausdrückte und erkundigte sich zuerst, wie es Marlene ging.
»Den Umständen entsprechend«, antwortete der Mann im Dunkeln.
»Wozu sind wir dann gut? Wollen Sie und Ihre Männer auch uns aus reiner Mordgier nur umbringen oder was soll das Ganze hier? Wo ist Marlene jetzt?«, erkundigte sich Pfeiffer.
»Die Frau ist an einem sicheren Ort. Aber auch Sie könnten ihr leicht Gesellschaft leisten, wenn Sie meinen Forderungen nicht mit bedingungslosem Gehorsam begegneten.«
»Dann sagen Sie, was Sie wollen, und lassen Sie uns gehen!«, schaltete sich Berger ein.
»Sie sind noch nicht an der Reihe«, klärte der Mann ihn auf und wandte sich erneut an Pfeiffer. »Ihre Lebensgefährtin Maria bewahrte in ihrem Institut nur eine sehr undetaillierte Schrift ihrer Forschungsarbeit auf. Sie wollte das Original nicht preisgeben, deshalb musste sie sterben. Ihre Kollegin Marlene behauptet, nur über die chemischen, nicht aber über die präzisen physikalischen Formeln etwas aussagen zu können. Dabei wissen wir doch ganz genau, dass sich auch Chemiker in ihrem Studium mit Physik befassen. Sei es, wie es sei. Die Dame will ihre Arbeit nicht mit uns teilen. Sie, Christian Pfeiffer, sollen aber über den Ort des Originals informiert sein. Händigen Sie uns diese Arbeit aus! Bewahren Sie journalistisches und sonstiges Stillschweigen, dann wird Ihnen sowie Marlene wird nichts weiter passieren.«
Jetzt erst fiel es Pfeiffer wie Schuppen von den Augen, was hier gespielt wurde. Eine neue Energieform konnte für ein spezialisiertes Unternehmen mit dem Know-how-Vorsprung sehr viel Geld bedeuten. Es konnte sogar über die Wirtschaft und Politik vieler Länder entscheiden. »Tut mir leid, dieser Ort ist mir nicht bekannt«, log Pfeiffer nur zum Teil, denn er hätte erst noch ordentlich in seiner Erinnerung graben müssen, bis ihm eventuell die geforderte Information wieder zum Vorschein kam.
»Dann versuchen Sie diesen Ort zu finden! Dafür geben wir Ihnen eine Woche Zeit. Wir kontaktieren Sie. Sollten Sie keinen Erfolg nachweisen, wird das nächste Gespräch nicht mehr so ruhig verlaufen. Das verspreche ich Ihnen!«, drohte ihm die Stimme.
»Wie soll ich das machen? Ich weiß von nichts«, erklärte Pfeiffer.
»Dann sehen Sie zu, wie Sie an Informationen gelangen. Sie sind doch Journalist. Und noch eins: Keine Mitteilung an die Polizei oder an andere Personen!«, fügte der Bedroher noch hinzu. »Bringt ihn derweil zum Wagen«, forderte der Sprecher die Posten am Raumzugang auf. »Mit dem Anderen hier habe ich gesondert zu reden.«
Pfeiffer glaubte beim Weggehen, noch die Worte »Aktien« und »Reise-Dokumente« vernommen zu haben.
Schon nach fünfzehn Minuten kam auch Berger zum Wagen. Pfeiffer startete sofort und raste los. »Was wollte denn dieser Mörder von Ihnen?«, erkundigte sich Pfeiffer während der Fahrt.
»Mein Reisebüro soll für diese Leute Buchungen und Formalitäten erledigen sowie falsche Dokumente bearbeiten.«
Pfeiffer wusste mit dieser Antwort nur wenig anzufangen. Für solche Tätigkeiten brauchte man doch keiner Person zu drohen, die konnte man direkt im Internet oder auch anderswo erledigen. »Wussten Sie von dem Projekt, an dem Marlene beteiligt war?«, informierte sich Pfeiffer weiter.
»Eh, so ungefähr. Sie hatte einmal davon erzählt und ich blieb ungemein beeindruckt davon. - Kümmern Sie sich aber lieber um die geforderte Schrift, dann kommt alles wieder ins Reine«, wechselte Berger das Thema.
Pfeiffer erwiderte nichts. Maria und Marlene wollten ihre Arbeit nicht verkaufen, sondern wissenschaftlich veröffentlichen und der Menschheit zur Verfügung stellen. Wie sollte er nun Marlene retten, ohne gegen den Willen Marias zu verstoßen? Und wie würde sich die ganze Angelegenheit weiterentwickeln? Waren nicht auch alle Beteiligten nun noch mehr in Gefahr als zuvor?
Berger blieb seltsam ruhig nach diesem Treffen, obwohl seine Schwägerin doch immer noch entführt blieb. Für einen Augenblick, als Berger glaubte, Pfeiffer sei besonders intensiv auf den Verkehr konzentriert, schien es Pfeiffer, als glitte ein leichtes Lächeln über Bergers Gesicht. Sollte etwa auch Richard Berger mit dieser Mörderbande unter einer Decke stecken? - Nein! Oder doch?

Der Privatdetektiv

Einen Monat früher

Die Holzdielen knarzten unter Herrmann Seidels schweren Schritten, als er das Büro betrat. Er hielt inne und lauschte dem Echo, das von den hohen Decken des Altbaus widerhallte.

«Ahorn.» Der junge Mann streckte den Arm zur Begrüßung aus. Seidel wusste, dass dies nicht sein Name war.
«Bergahorn, genau.»
Er drückte die Hand seines verdutzten Gastgebers.
«Habe ich vor ca. vierzig Jahren selbst verlegt. Hier im ganzen Viertel»

Die Miene seines Gegenübers hellte sich auf. «Ich verstehe. Dann kennen Sie die Gegend besser als ich. Ich habe die Räume erst im letzten Herbst bezogen. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, bevor wir Ihren Fall besprechen?»
«Gerne. Schwarz.»
«Frau Mertens, zwei Tassen Kaffee bitte. Schwarz.»
Das Knistern der Gegensprechanlage war zu hören, dann die Stimme der etwa 50-jährigen Sekretärin, die ihn 5 Minuten zuvor am Eingang der Privatdetektei Julius Richter begrüßt hatte.

«Wollen wir direkt einsteigen? Wenn ich Sie am Telefon richtig verstanden habe, wurden Sie um 100.000 Euro betrogen. Eine junge Frau, richtig?»

Während die Stimme des Detektivs besonnen und professionell klang, lag in seinen Augen pure Verachtung, die Seidel erschreckte.
Doch konnte er es ihm verübeln? Er verachtete sich selbst dafür, was in den letzten Wochen geschehen war.
So jung er sich mit Marlene auch gefühlt hatte, heute fühlte er sich einfach nur alt und töricht.

Herrmann Seidel ließ den Blick sinken, als könnten die alten Dielen für ihn antworten. Fünfzig Jahre harter Arbeit, die meiste Zeit davon auf den Knien, hatten ihm Wohlstand eingebracht – genug, um sich und seiner Familie ein Leben zu ermöglichen, von dem ein Handwerker eigentlich nur träumen konnte. Privatschule für Tochter und Enkel, gesellschaftliches Ansehen und finanzielle Sicherheit.
Die tiefen Falten auf seiner Stirn verrieten jedoch, dass es einen Epilog zu dieser Geschichte gab.

«Marlene», murmelte er schließlich.
«Sie nannte sich Marlene Ebstein. Heute frage ich mich, ob an ihr überhaupt etwas echt war.»

Julius Richter nickte kaum merklich und sah ihn abwartend an.
Mit seinen etwas zu kurz geschnittenen, dunkelblonden Haaren, dem muskelbepackten Körper, der sich unter seinem Hemd abzeichnete und dem durchdringenden Blick eines Anklägers wirkte er eher wie ein Elitesoldat aus dem Fernsehen als ein Privatdetektiv.

Herrmann Seidel spürte einen unerklärlichen Anflug von Angst in sich aufkommen, der jedoch schnell verflog, als Frau Mertens mit dem dampfenden Kaffee eintrat.

Er nahm einen Schluck und strich sich dabei unbewusst über seinen grau gewordenen Bart. Die Wärme des Kaffees beruhigte ihn. Dann zwang er sich, direkt in die Augen des jüngeren Mannes zu blicken.

«Meine Kollegen wollten mich anständig in den Ruhestand schicken. Sie hatten eine wirklich tolle Feier für mich organisiert – in einer hippen Musik-Bar mitten in der Stadt. Ich fühlte mich dort allerdings etwas fehl am Platz. So viele schicke, junge Menschen mit glänzenden Schuhen und teuren Klamotten. Meine Kollegen tanzten ausgiebig, prosteten mir zu und grölten die Lieder der Live-Band mit, die für diesen Abend eigens engagiert worden war.
Ich sah sie an: voller Elan, flirtend, schmusend, laut lachend. Sie genossen das Leben, das ich nicht mehr hatte.»
Abseits von diesem Trubel saß ich an einem Ecktisch, trank mein Bier und sah mein Leben noch einmal an mir vorüberziehen.

Seidel seufzte, trank einen weiteren Schluck Kaffee.
«Ich verlor mich zuerst in Selbstmitleid. Dann im Bier. Der Abend ging zu Ende, und Karl – mein Lieblingskollege – verabschiedete sich als Letzter. Wir standen an der Bar, nachdem er die Zeche bezahlt hatte. Wir umarmten uns.
Dann war ich allein. Ich wankte zurück zum Tisch. Nicht stockbetrunken, aber auch nicht mehr nüchtern. Wollte den letzten Tag meines Arbeitslebens noch einmal auf mich wirken lassen und die Musik genießen. Anschließend wollte ich heimgehen zu meiner Frau, die auf meinen Enkel aufpasste.

Und auf einmal stand sie vor mir.» Seidel sah verloren auf seine ausgeblichene Jeans. Seine Hände umklammerten krampfhaft die Oberschenkel.
«Elizabeth Taylor mit 25 Jahren. Eine schwarze, ungezügelte Mähne, die ihr bis über die Schultern ging, violette Augen, ein schüchternes Lächeln und eine Traumfigur.

«Marlene?» Julius Richter hatte den Laptop vor sich aufgeklappt, als der Ältere angefangen hatte zu erzählen und schrieb aufmerksam mit.

«Ja. Zuerst dachte ich, es wäre eine der jungen Kellnerinnen.
Aber sie setzte sich zu mir, stellte sich aufgeregt vor und bat mich um Hilfe. Ihr Ex-Freund sei sei gerade reingekommen und würde sie suchen.
Sie wirkte gefasst, doch ihre Hände zitterten, als sie meinen Oberarm berührte. Ich glaubte ihr jedes Wort.» Er kniff sich in den Oberschenkel. Wie dumm war er gewesen.

«Von unserem Tisch aus – der in einem spärlich beleuchteten Separee stand – konnte man den Eingang gut sehen. Das Licht über der Tür war so grell, dass es jeden Gast, der eintrat, wie auf einer Bühne präsentierte.

Ich habe ihn sofort erkannt. Ein paar Wochen zuvor war er in fast jeder Sendung zu sehen gewesen, um den Finanzskandal der Diam-Bank zu erklären.
Mit grauem Trenchcoat und einem abgewetzten Fedora-Hut sah er aus wie eine schlechte Kopie von Humphrey Bogart.»

«Wer ist Humphrey Bogart?»
Seidel spürte einen kleinen Stich.

«Das war vor Ihrer Zeit Herr Richter. Obwohl sie ihn eigentlich kennen sollten, wenn man Ihren Beruf hat.
Jedenfalls stand dort in voller Pracht und mit suchendem Blick Christian Pfeiffer im Raum und sprach mit dem Barmann.»

«Der Christian Pfeiffer? Vom Frankfurter Weltblick?»

Richter hatte also auch die skandalträchtigen Monate im Frankfurter Finanzdistrikt verfolgt.
Christian Pfeiffer war nicht nur irgendein Journalist, er war der Star-Journalist des Wirtschaftsmagazins Frankfurter Weltblick, das so eng mit den Finanzjongleuren der Stadt verflochten war, dass man manchmal nicht unterscheiden konnte, ob es sich um Berichterstattung oder um Werbung handelte.
Im November letzten Jahres schrieb Pfeiffer jedoch einen Artikel, in dem er über Insidergeschäfte der Privatbank Diam berichtete.
Anfang dieses Jahres war er ein gern gesehener Gast in den Talkshows der Republik und als der Prozess um die Diam-Bank im April begann, war sein Name in aller Munde.
Doch dann kam der schnelle und tiefe Fall des neuen Mediendarlings.
Eine anonyme Quelle hatte dem Frankfurter Börsenkurier am 10. Mai ein Interview gegeben und offenbart, wie sie von ihm manipuliert worden war.
Sie war ihm – dem berühmten Journalisten – verfallen und hatte sich hinreißen lassen, für ihn zu lügen. Als sie es nicht mehr ausgehalten hatte und reinen Tisch machen wollte, hatte Pfeiffer versucht, sie mit 10.000 € zu bestechen.
Die Überweisung auf ihr Konto lag dem FBK ebenso vor wie die eidesstattliche Aussage der Quelle – einer jungen Frau, die im Interview M genannt wurde.
Der Fall gegen die Diam-Bank war damit hinfällig und Pfeiffer wurde vorerst beurlaubt.

«Sie haben die junge Frau also bei sich versteckt, wenn man so will?»

Seidel nickte langsam.
«Das könnte man so ausdrücken.» Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr.
«Pfeiffer ging durch die ganze Bar und sprach mit fast jedem Gast.
Mit jedem Schritt, den er näher kam, spürte ich, wie Marlene sich fester an mich drückte. Sie schmiegte sich an meine Brust, ihr Gesicht tief in meine Achseln vergraben, als wollte sie unsichtbar werden.

Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich war nicht nur überfordert von der Situation, ich fühlte mich in diesem Moment wieder wie ein junger Mann, der die Prinzessin beschützt und den Drachen erlegen muss.
Der Geruch ihrer Haare und die Wärme ihres Körpers waren so intensiv. Ich hörte ihren Herzschlag schneller werden und begriff, dass sie meinen Schutz benötigte.
Ich legte meine Arme um sie, zuerst zögerlich, doch dann fester. Ich streichelte ihren Rücken und ihren Haarschopf, so als wären wir ein Paar, das sich zärtlich umarmt.»

Seidel holte tief Luft und blickte aus dem Fenster. Er spürte, wie die warme Augustsonne seine Kunstlederjacke aufheizte.
«Entschuldigen Sie.» Er zog die Jacke aus und hing sie über die Stuhllehne.

«Pfeiffer kam an unserem Tisch vorbei. Sein suchender Blick war eiskalt. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, er hätte sie erkannt. Dann rümpfte er nur die Nase und zeigte mir mit seinem abschätzigen Blick, was er von dieser Situation hielt. Ein dicker alter Mann, der eine junge, wunderschöne Frau im Arm hielt. Pfeiffer ging weiter und verließ nach ein paar Minuten die Bar.

Herrmann Seidels Augen waren feucht. Er schluckte schwer und sah weiter aus dem Fenster. «Hätte er sie doch erkannt. Dann wäre mir eine Menge Kummer erspart geblieben.»

So endet die dritte Schreibwoche von Seitenwind 2024.
In der vierten und letzten Woche stehen die Sterne auf Finale!

Um 16:00 geht es in einem neuen Thread weiter. :bomb: