Offene Enden Teil 3: Schreib Teil 4

Masken der Wahreit

Das Lagerhaus lag wie eine Festung aus Stahl und Beton in der Dunkelheit. Eine einzelne Neonröhre beleuchtete die metallene Tür, die höhnisch einladend offen stand. Eine Windbö wirbelte ein paar lose Blätter über den Asphalt. Hier werden Klischees bedient, dachte Pfeiffer und konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken, der ihm über den Rücken kroch.

Schweigend sahen Pfeiffer und Berger durch die Windschutzscheibe. Das Lenkrad knirschte hin und wieder unter dem festen Griff Bergers. Die Anspannung war kaum greifbarer.
„Meine Tochter war also Ihre Kollegin“, nahm Berger zäh und wie geistesabwesend die Information auf, die Pfeiffer vor Kurzem im Wohnzimmer der Bergers geteilt hatte, um die nahezu unerträgliche Spannung zu brechen. „Vor… zwei Jahren?“
Pfeiffer nickte und sah vom Beifahrersitz aus nach links. „Ja, genau. Bis sie ins Ausland ging. Zumindest dachte ich das.“
„Das dachten wir alle…“

Pfeiffer und Berger traten durch den Eingang. Ihre Schritte hallten auf dem nackten Betonboden. Der Raum war grau und karg und kalt, abgesehen von dem Tisch in der Mitte, auf dem ein Laptop stand. Zwei Metallstühle standen davor, und eine schwache, alte Schreibtischlampe beleuchtete die Szene. Das dazugehörige Stromkabel verschwand irgendwo in der Dunkelheit.
„Das ist doch ein verdammtes Theaterstück“, murmelte Pfeiffer.
„Marlene“, keuchte Berger und zeigte auf den Laptop. Mit dem nächsten Wimpernschlag hastete er auf den Laptop zu, stieß mit einem groben Ruck die Stühle zur Seite, als könne er seiner Tochter näher sein, indem er nah genug am Laptop stand.
Pfeiffer folgte ihm langsamer, ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch die Halle gleiten. Doch der Raum war leer. Keine Bewegung, keine weiteren Hinweise – nur der Tisch und die Stühle.

Das Display zeigte ein Video: Marlene. Noch immer auf dem Boden liegend, an Armen und Beinen gefesselt, der Mund mit Klebeband verschlossen. Ihr Atem ging stoßweise. Irgendetwas störte Pfeiffer an dem Anblick, doch er konnte keinen Finger drauf legen.

„Wo ist sie? Wo ist meine Tochter“, presste Berger hervor. Sein Tonfall verriet beginnende Hysterie - die tiefsitzende Angst eines Vaters um sein Kind. „Wir müssen sie da rausholen!“

Pfeiffer zögerte. Er musterte das Video genau, während Berger weiterhin den Laptop mit dem Namen seiner Tochter anschrie, als könne sie ihn dadurch hören und verraten ,wo sie steckte. Berger wandte sich schließlich vom Laptop ab, spie in die Dunkelheit, was das alles solle und zu bedeuten habe.

„Das ist ein Loop“, murmelte Pfeiffer, die Nase dicht vor dem Display. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Scheiße.

Bevor Berger antworten konnte, flackerte der Bildschirm und das Video verschwand. Stattdessen erschienen Worte:

Wenigstens einmal denken Sie an andere.

„Verdammt noch mal! Was wollen Sie von uns?“, schrie Berger und gab dem neben ihm stehenden Metallstuhl einen Tritt. Stimme und Stuhl hallten gespenstisch in dem leeren Raum.

„Schön, dass Sie es einrichten konnten, Herr Berger und Herr Pfeiffer.“ Die Stimme kam aus versteckten Lautsprechern, ruhig und kalt. Pfeiffer erkannte sie sofort. Es war der Anrufer. „Bitte nehmen Sie Platz.“

“Hören Sie auf mit dem Theater“, rief Pfeiffer. Ihm gefiel die Situation ganz und gar nicht und ihm schwante Übles. "Zeigen Sie sich, oder wir gehen.“ Er hoffte, er klang selbstsicher.
“Oh, Herr Pfeiffer“, sagte die Stimme fast spöttisch. "Glauben Sie wirklich, Sie hätten noch eine Wahl?“

Hinter ihnen ertönte plötzlich ein leises Klicken. Metallisch, bedrohlich.

Pfeiffer erstarrte. Der Lauf einer Pistole drückte sich gegen seinen Hinterkopf. Verdammt, wie konnte der sich anschleichen?, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Aber er wusste bereits die Antwort. Der Laptop hatte gut für Ablenkung gesorgt.

“Keine Bewegung”, sagte die Stimme, nun ganz nah. “Es ist Zeit, die Wahrheit zu sehen.“
“Was für eine Wahrheit?“ Berger trat einen Schritt zurück, die Hände erhoben. Die Röte der Aufregung auf seinen alten Wangen wich fahler Blässe. "Was immer Sie wollen, ich mache es. Aber lassen Sie meine Tochter frei!“

“Was ich will?” Die Stimme lachte leise. “Es geht nicht darum, was ich will. Es geht darum, was Sie getan haben.“

Berger öffnete den Mund, doch bevor er sprechen konnte, erklang ein weiteres Geräusch. Schritte, leise und vorsichtig, näherten sich aus dem Schatten. Berger keuchte, als eine Gestalt in den Lichtkegel trat.

Marlene.

Sie war nicht mehr gefesselt, nicht mehr verängstigt. Sie trug einfache Kleidung, die Haare locker zurückgebunden, und ihr Blick war kühl. Sie hielt keinen Augenkontakt mit ihrem Vater, sondern sah zwischen Berger und Pfeiffer hindurch.

“Marlene?“ Berger taumelte. Er musste sich mit einer Hand am Tisch abstützen, sonst wäre er womöglich in die Knie gesunken. Pfeiffer seinerseits sah sie nicht. Er stand noch immer mit dem Gesicht zum Laptop, mit dem Lauf am Hinterkopf.

"Dem Herrn sei Dank, mein Kind, du lebst! Aber… was tust du hier?“ Jegliche Farbe war aus Berger Stimme und Gesicht gewichen. Und nun wagte es auch Pfeiffer, den Kopf ein wenig zu drehen, um sehen zu können, was da vor sich ging. Der Lauf ließ es zu.

“Ich bin hier, weil ich es sein muss“, sagte sie leise. Ihre Stimme war ruhig, aber sie zitterte leicht. “Es tut mir leid, Papa.“ An Pfeiffer gerichtet: “Christian, ich hab es dir damals gesagt. Dich gebeten, es nicht zu tun. Du wusstest, was passieren würde und trotzdem hast du es veröffentlicht. Nun stehen wir hier.” Sie wirkte traurig.

“Was redest du da?“ Berger machte einen Schritt auf sie zu, doch der Lauf der Pistole bohrte sich tiefer in Pfeiffers Kopf.
“Keine Dummheiten, Herr Berger“, sagte die Stimme. “Marlene ist genau da, wo sie sein soll. Und Sie nun auch.“

Pfeiffer schloss die Augen, atmete ein und versuchte, die Ruhe zu bewahren. In seinem Inneren aber tobte ein Sturm. Und trotzdem hast du es veröffentlicht…Darum geht’s also?“, fragte Pfeiffer bitter.

“Ganz genau“, sagte die Stimme zufrieden und vor Bosheit verhärtet zugleich. “Sie beide haben in Ihrem Profitwahn Leben zerstört. Aus Geiz. Egoismus. Storygeilheit.“ Das letzte galt eindeutig Pfeiffer. “Aber nun holen wir die Vergangenheit zurück.“

“Nein, nein, nein!“ Berger schüttelte den Kopf heftig, die Hände weiterhin brav erhoben. “Ich bin nur ein einfacher Geschäftsmann. Was immer Sie denken, ich habe nichts getan!“
“Oh, wirklich?“ Die Stimme wurde eisig. “Profit war Ihnen schon immer wichtiger als Menschlichkeit, Herr Berger. Sie haben es oft genug bewiesen. Zuletzt vor Ihrer eigenen Haustür. Sein Name war übrigens Thomas. Er hätte das Geld für seinen behinderten Sohn gebraucht.“

Berger starrte. Sprachlos. Pfeiffer sah zu ihm, dann zu Marlene. Etwas in ihrem Gesicht – eine Mischung aus Schuld und Entschlossenheit – ließ ihn begreifen.

“Du bist Teil davon“, sagte Pfeiffer leise. "Das ist alles inszeniert.“

Marlene machte einen Schritt zurück, als Berger und Pfeiffer sie starr ansahen. Dann sah sie zu Pfeiffer. “Ich hatte keine Wahl. Euretwegen.“

Die Worte hingen wie Blei in der Luft. Die Pistole blieb fest an Pfeiffers Kopf, und der Raum schien mit jeder Sekunde kälter zu werden.

“Setzen. Sie. Sich“, sagte der Mann mit der Pistole schließlich, ruhig wie zuvor. Und diese Ruhe trug einen unverweigerbaren Befehl mit sich. “Es ist Zeit, die Wahrheit neu zu formulieren.”

Vierter Teil
„Marlene“, wiederholte Pfeiffer, „Marlene Castelnaudary!“
Seine Gedanken überschlugen sich.
Wie war die Castelnaudary in diese missliche Lage geraten? Das passte überhaupt nicht zu ihr.
Wer hatte es gewagt, sie zu entführen, zu fesseln und so zu erniedrigen? Sie so zu ängstigen? Die weit aufgerissenen Augen. Normalerweise war es sie, die ihren Gegnern Angst einjagte. Allerdings nicht auf diese profane Weise. Höchstens dass mal einer ihrer Wächter das Jackett zur Seite schlug und den Pistolenknauf unter der Schulter hervorlugen liess.
So sprang man nicht mit der Bankerin, besser Geldwäscherin der Mafia um.
Und woher kannte Berger Marlene Castelnaudary?
Sollte dieser rundliche Herr gar nicht so harmlos sein?
Und was war mit seiner Frau?

„Sie kennen sie?“, fragte Berger und deutete auf den Laptop.
„Ja“, antwortete Pfeiffer, „ich bin dabei eine Reportage über sie zu schreiben.“
Er musste vorsichtig sein, wollte nicht verraten, dass er einiges an Material über Castelnaudary zusammengetragen hatte, ihren Machenschaften als nach aussen seriöse Bankerin, die aber Milliarden von Euros wusch, spezialisiert war auf den Handel mit Kunst.
Wie passten die Bergers da rein?
Wie der Selbstmörder vor ihrem Haus?
Was hatte Maria damit zu tun? Und er selbst? Und jetzt die Castelnaudary, eine Gefangene?

„Was für eine Geschichte?“, fragte Berger. Misstrauisch, wie es Pfeiffer schien, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.
Sei auf der Hut sagte er sich.
„Sie ist eine erfolgreiche Bankerin.“, sagte er. „Hat eine unübliche Karriere eingeschlagen. Als Frau meine ich. Sie ist außerordentlich tüchtig. Im höheren Bankenmanagement finden sich fast nur Männer, kaum Frauen. Und woher kennen Sie die Dame? Ist sie mit Ihnen verwandt?“
„Wir haben beruflich mit ihr zu tun“, sagte Frau Berger.

Der Journalist erwachte in Pfeiffer, ging mit ihm durch. Da stinkt etwas ganz gewaltig, dachte er und sagte dann: „Beruflich, was genau beruflich? Sie werde sie ja kaum um einen Kredit gebeten haben. Also was haben Sie beide mit der Castelnaudary zu tun?“

Er bereute seine Worte. Hatte er nicht vorsichtig sein wollen. Zu spät, aber es ging ja schliesslich auch noch um Maria. Die Bergers war jedenfalls nicht so harmlos, wie sie sich gaben.

„Ich muss kurz telefonieren“, sagte Frau Berger und zu ihrem Mann gewandt, „Pass auf ihn auf!“ Sie verschwand in einen Nebenraum.
„Was soll das“, sagte Pfeiffer. Er fühlte sich unbehaglich. „Ich glaube ich gehe jetzt besser.“
„Ich denke, es ist besser Sie bleiben“, sagte Berger. Er hob die linke Seite seines Jacketts an und gewährte Pfeiffer einen Blick auf den schwarzen, matt glänzenden Pistolenknauf.

„So ist das also“, sagte Pfeiffer und sank in das Ledersofa zurück. „Wo sind Sie denn in die Schauspielschule gegangen? Was für ein Theater spielen Sie mir da vor?“

Frau Berger trat aus dem Nebenraum ins Wohnzimmer.
„Wir sollen ihn mitbringen“, sagte sie. „Freuen Sie sich Herr Pfeiffer. Heute Abend werden Sie endlich erfahren, wieso Maria sterben musste.“

Deswegen bin ich ja eigentlich hier, dachte Pfeiffer. Allerdings hatte er vom Besuch bei Bergers etwas anderes erwartet. Aber das war jetzt egal.

„Antonio wartet draussen mit dem Wagen. Wir fahren direkt zur Villa“, sagte Frau Berger. „Gehen wir!“.

»Tja.«

»Selber tja. Sie haben sich entschieden, zurück zu gehen. Und?«

»Findest du nicht, dass du es ihnen ein bisschen zu leicht gemacht hast?«

»Finde ich nicht. In Quantentor 2 ist immer noch diese Turbulenz. Und außerdem sind wir nicht dazu da, Leute gegen ihren Willen zu retten.« Der erste Zwerg räusperte sich und deklamierte: «Alternativen beruhen auf Freiwilligkeit, sonst sind es keine Alternativen, sondern Zwangshandlungen…«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön philosophisch bist?«

»Wortfummler!«

»Haarspalter!«

»Du mich auch.«

Der zweite Zwerg beendete das Geplänkel mit einem Grunzen. Für eine ganze Weile war Schweigen im Raum. Irgendwann nutzte ihn eine Fliege, um ihr ganz eigenes Gebrummel zu veranstalten.

»Möchtest Du Tee?«

»Ja, gerne.«

Als die beiden Schalen auf dem Tisch vor sich hin dampften,
fragte der erste Zwerg: »Soll ich die Übertragung aktivieren?«

»Wieso? Willst du dir die Tragödie auch noch ansehen?« Er verdrehte die Augen: »Sie haben sich entschieden,« sagte er. »Was mich angeht, mir ist jetzt nach einem kleinen Spaziergang. Vielleicht treffen wir heute endlich mal Murmeltiere …«

Der erste Zwerg seufzte leise. Seinen Traum loszulassen von einer Welt, in der es Alternativen gab die auch genutzt wurden, war schwer.

»Nun kuck nicht, als wäre die ganze Welt untergegangen. Wie ich die anderen kenne, schreiben die jetzt auch alle um Knopf und Kragen. Das kann doch ganz lustig werden …«

»Du meinst, ich soll das Ganze einfach als Fiktion betrachten?«

»Also, wenn du es so genau nehmen willst … warum nicht?«

»Naja, dann stimmt die Perspektive wenigstens – vierte Wand und so … «

»Und wir haben ja immer noch den Ausknopf.«

»Wie wahr. Also?« Der erste Zwerg klang etwas angestrengt, als er das sagte. Er hüpfte gerade auf einem Bein, um seinen zweiten Hüttenschuh ebenfalls gegen einen bergsicheren Stiefel zu tauschen. Plötzlich hielt er mitten im Hüpfen inne. Er sah ein bisschen wacklig aus, während er überlegte.

Schließlich grinste er: »Glaubst du im Ernst, irgendeiner aus dieser Schreibrunde gibt uns für diesen Sennhüttendialog auch nur ein einziges :book: ? Wir halten doch den ganzen Betrieb auf.«

»Naja,« antwortete der zweite Zwerg, das ist genau wie beim Sendeschluss-Clip nach dem Spätprogramm – die einen schalten ab und die andern … das bayrische Fernsehen brachte zum Sendeschluss sogar mal einen kontemplativen Kameraschwenk durchs Gebirge.’ Zuschauen, Entspannen, Nachdenken’ nannten sie das.«

Er grinste melancholisch und setzte hinzu: »Gesünder als in die Küche zu gehen und die Chipstüte holen sind wir doch allemal.«

Der erste Zwerg lachte. »Hast recht!« Mit einer fast akrobatisch anmutenden Verrenkung zog er seinen Bergstiefel zu Ende an.
»Ich bin fertig« sagte er und stampfte auf. »Können wir?«

»Wir können.« Im Hinausgehen rieb der zweite Zwerg sich die Nase.
»Aber … « Mit einer fast klagend anmutenden Miene drehte er den Kopf.

»Was denn?«

»… jetzt arbeiten wir schon so lange zusammen, und du hast mir immer noch nicht verraten, wieso die Turbulenz in Quantentor 2 ausgerechnet ’Marlene’ heißt.«

Um meinen Schmerz zu ehren, will ich die Welt zerstören
von petias

„Wer ist Marlene?“
Dorothea Berger sah ihren Mann fragend an.
„Die war eine Teilnehmerin in dem Börsenseminar, das ich vor einigen Monaten besucht hatte. Sie war mit einem Magnus dort gewesen.“

„Ja, Magnus Overath, mein Chef!“, mischte sich jetzt auch Christian Pfeiffer ein. „Magnus hatte Marlene in die Redaktion gebracht und war eine Zeit lang seine Freundin. Sie hat vor zwei Monaten überraschend gekündigt. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

„Marlene hatte sich mit dem Leiter des Seminars, einem Jens Hundertreich, angelegt. Sie stellte seine Methoden, ja alle Versuche an leistungsloses Einkommen, das „„Schnelle Geld““, wie sie es nannte, als unmoralisch und und unethisch hin“, erinnerte sich Richard Berger.
„Der Seminarleiter hatte das von sich gewiesen und erklärt, dass er dazu stehe, dass er schnell reich werden wolle. Das wäre in unserer Gesellschaft nicht verwerflich, so wären die Gesetze. Als unmoralisch sah er die an, die sich heuchlerisch als gut bürgerlich und menschenfreundlich verkaufen, sich aber einen Dreck um notleidende Mitmenschen scheren würden.“

„Marlene und Magnus hatten diesen Hundertreich mit ihren Beiträgen in der FGZ unmöglich gemacht und ihn aus dem dubiosen „„WIE WERDE ICH SCHNELL REICH““-Markt gedrängt“, ergänzte Pfeiffer.

Dorothea fasste zusammen: “Mein Mann, diese Marlene und ihr Freund und Chef, beide von der FGZ besuchen ein Seminar. Der Leiter wird diskreditiert. Ich erinnere mich noch, wie Richard ihn online angegangen ist. Er hatte sich darüber lustig gemacht, dass Hundertreich eigentlich von Beruf Psychiater wäre.“
Herr Berger nickte zustimmend.
Pfeiffer fuhr fort: „Dann will sich der Seminarleiter an den kritisierenden Teilnehmern seiner Veranstaltung rächen und die Toten und ich sind nur Kollateralschäden?“

„Das ist doch zu verrückt um wahr zu sein!“
Herr Berger schüttelte den Kopf.
„Einen Menschen zu zwingen, sich umzubringen, um einen anderen damit zu erpressen, das ist verrückt, zutiefst pervers! Einfach krank!“ Christian konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

„Jedenfalls gibt es keinen Grund zu diesem Termin um 20:05 Uhr, irgendwo im Industriegebiet, aufzutauchen! Zumindest nicht ihr beide!“, stellte Frau Berger erstaunlich entschlossen fest.

„Aber die Polizei sollte das tun“, sagte Herr Berger und griff zum Hörer.


Kurz vor 20 Uhr hatte eine Sondereinheit der Polizei die fragliche leerstehende Industriehalle umstellt. Pünktlich im 20 Uhr flammte ein Projektor auf, der ein überdimensionales Bild auf die gegenüberliegende Gebäudewand warf. Marlene Curo tanzte leicht bekleidet auf einer Bühne, eingesperrt in einen großen Raubtierkäfig in der Form einer Voliere. Sie tanzte mit einer Schlange, die sie sich anmutig um Körper und Arme legte.

Die bereits bekannte Stimme des bisher in Erscheinung getretenen Täters erschallte, vielfach verstärkt, durch die Nacht.

„Ihr seid zu früh! Die Polizei habe ich erwartet, aber meine Bedingungen sind nicht erfüllt. Den Tod der Schlangenbeschwörerin haben sich Pfeiffer und Berger auf ihr Gewissen zu buchen.
Diese Nachricht geht um die Welt auf vielen Online-Kanälen. Es wird ein neues Zeitalter eingeleitet.
Marlene, die sich gleich durch den Biss einer Viper töten wird, ebenso wie die anderen Selbstmörder, stehen unter dem Einfluss einer Droge. Sie besteht aus Nano-Bots, die geheime Ingredienzen im Körper verteilen. Das macht das Opfer zu einem programmierbaren Zombie, den man mittels Hypnose zu allem veranlassen kann.

Diese Droge ist ab jetzt für jeden käuflich zu erwerben. Findet unter dem Begriff „„Zombiedrug““ und ähnlichen Begriffen die für euch geeignete Bezugsquelle. …“

Die Polizeieinheit war in das Gebäude eingedrungen. Sie fanden die Bühne und den Käfig mit der Tänzerin darin, waren aber nicht in der Lage, die Eisenstäbe rechtzeitig zu entfernen.
Ein Millionen-Publikum sah zu, wie die Tänzerin sich die Viper – wie von Kleopatra, der Herrscherin Ägyptens berichtet wurde – an den Busen setzte und das Tier durch drücken mit der Hand dazu reizte, sie zu beißen. Die Frau mit den glasigen Augen glitt geradezu anmutig zu Boden und wand sich dann in offensichtlichen Qualen. Unter Röcheln trat weißer Schaum aus ihrem Mund. Die Bewegungen wurden langsamer und erstarben schließlich ganz. Der Kopf war nach hinten gebeugt, die Augen weit aus ihren Höhlen getreten.

„Wie spät ist es?“ rief Berger in die inzwischen muffig gewordene Luft und atmete hektisch weiter. „Was wollen die von uns, woher kennen sie denn Marlene?" fragte er weiter. Pfeiffer dessen Gesichtsfarbe unmittelbar leichenblass geworden war, schüttelte nur den Kopf und stammelte „das darf nicht wahr sein.“ „Was darf nicht wahr sein? Sie kommen hierher faseln etwas von Gerechtigkeit und nun…“. „Sein sie still. Sie, Herr Berger, sind doch genauso betroffen wie ich, also lassen sie uns eine Lösung finden“, entgegnete Pfeiffer, der unerwartet schnell seine Fassung wiedergewonnen hatte, „wir müssen die Polizei verständigen, damit nicht noch mehr Unheil passiert!“ „Auf keinen Fall“, hechelte Berger, seine Stimmer war fast unauffällig geworden und er suchte den Blick seiner Frau. Doch diese war nicht mehr im Wohnzimmer und er flüsterte weiter, „meine Frau darf davon nichts erfahren, bitte lassen sie uns in aller Ruhe nachdenken, am besten gehen wir auf die Terasse!“

So leise, wie Frau Berger das Wohnzimmer verlassen hatte, stand sie nun in der Tür und hielt eine Pistole auf ihren Mann gerichtet. „Los, beide aufstehen und in den Keller mit euch“, befahl sie. „Ist ihre Frau wahnsinnig geworden? Was soll das Frau Berger?“. Pfeiffer verstand die Welt nicht mehr und schon gar nicht Herrn Berger, der fast teilnahmslos ausharrte. „Kommen sie Pfeiffer, meine Frau würde abdrücken, lassen sie uns in den Keller gehen.“ „Lassen sie uns reden, Frau Berger!“ „Da gibt es nichts zu reden, ich sage jetzt zum letzten Mal, Handy auf den Tisch legen und ganz langsam aufstehen, sie Pfeiffer zuerst, na los, machen sie schon! Und du steh auch auf Richard, dein Handy auf den Tisch und nun gehe voran in den Musikraum, du weißt ja, ich würde abdrücken!“

Die Kellertür zum Musikraum war fast schalldicht mit Styroporplatten bestückt, so wie auch die Wände des Raumes. Nur eine kleine Lüftung, deren Ventilator unaufdringlich lief, gab etwas Luft in den Raum. Nachdem die Tür von Frau Berger zugeschlagen wurde, ging das Licht aus und Berger und Pfeiffer standen im Dunkeln. Kurze Zeit später hörten sie nur ganz dezent eine Autotür zuschlagen begleitet von dem feinen Surren des Ventilators.

Widerwillige Partnerschaften

Ignacio saß im Schneidersitz auf dem Boden der ehemaligen Fabrik und konzentrierte sich. In der Luft vor ihm schwebte ein bläulich schimmernder Kristall, der seine Essenz mit der seiner … Partner verband. Es waren bloß fünf, seit er sich von Maria und Ernesto hatte trennen müssen.
Ein ersticktes Geräusch drang in sein Bewusstsein und seine Konzentration zersprang wie ein fallengelassenes Weinglas; der Kristall fiel zu Boden und erlosch.
Ärgerlich drehte Ignacio sich zu Marlene um. „Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst still sein?“
Marlene gab einen weiteren Laut von sich – ein ängstliches Schluchzen, wie ihm nun klar wurde – und versuchte, von ihm wegzukriechen.
Er machte einen Schritt auf sie zu und genoss den Anblick, als sie die Augen zukniff. Ignacio beugte sich zu ihr hinab. „Du hättest nicht fliehen sollen. Ich hatte dir doch versprochen, dich zu finden, Maria Malena.“
In ihren Augenwinkeln sammelte sich Feuchtigkeit, ohne dass sie die Augen öffnete.

Zwanzig Jahre zuvor.
Richard blinzelte in die bolivianische Sonne. Es war warm, jedoch nicht so warm, wie er erwartet hatte. Was hatte sein Chef ihn auch ausgerechnet hierher schicken müssen, um Kontakte für das Reisebüro zu knüpfen?
Nach der langen Anreise hatte er sich ein Frühstück verdient, befand er, schulterte seine Reisetasche und machte sich auf die Suche nach einem Café.

Christian nippte an seinem dritten Kaffee und beobachtete die junge Bedienung. Sie war hübsch, doch das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es waren ihre Bewegungen. Anmutig, graziös und doch … Etwas störte ihn.
Die Tür schwang auf und ein Mann mit einer lächerlich großen Reisetasche betrat das Lokal. In einem Spanisch, das so schlecht war, dass Christian sich für seinen offenkundigen Landsmann schämte, bestellte er ein üppiges Frühstück.
Die hübsche Bedienung – Maria Malena – führte ihn an einen Nebentisch und da bemerkte Christian, was ihn irritierte. Sie hinkte. Und um ihren Fußknöchel war eine Kette gebunden, von der ein blaues Irisieren ausging.
Sein Instinkt witterte eine Story. Die Art Story, für die er um den halben Erdball gereist war. In seinen Fingern kribbelte es und damit er nicht gleich Stift und Notizblock zückte, kippte er rasch seinen Kaffee runter und beschloss, Malena nach der Arbeit zu folgen.

Richard war die Bedienung ebenfalls aufgefallen. Vielleicht war dieses Kontakte knüpfen ja gar nicht so übel, dachte er und überlegte, wie er sie zu einem Drink überreden konnte. Er blieb lange in dem Café, länger als er geplant hatte und viel länger, als sein Chef gutheißen würde. Um die Mittagszeit waren nur noch er und ein Mann, der unentwegt neuen Kaffee bestellte, anwesend. Seine Chance.
Mit einem Räuspern erhob Richard sich; die Tür schwang auf.

Ein eisiger Hauch begleitete den Neuankömmling, als habe der Wind ihn geradewegs aus den Anden herangeweht. Christian verschanzte sich hinter seinem Kaffeebecher und beobachtete, wie der Neue, ein junger Mann, dunkles Haar, scharfe Gesichtszüge, auf Malena zuschritt.
Er sagte etwas in gehetztem Spanisch, das Christian sich nur mit Mühe zusammenreimte. Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst bleiben?
In Malenas Augen flackerte Angst auf, doch aus ihrer Antwort sprach trotziges Aufbegehren. „Und nun?“
„Entweder, du kommst mit mir …“ Die Alternative verstand Christian nicht, hörte bloß den Namen Maria, doch es hörte sich nicht so an, als wäre Maria Malena gemeint.
Diese erbleichte. „No, por favor“, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
Der Mann griff Malena am Handgelenk und in dem Moment stand der Mann mit der überdimensionierten Reisetasche auf. „Que … usted quieren … con ela?“

20:00 Uhr
Ignacio verdrängte die Erinnerungen an La Paz. Verdrängte die Erinnerung daran, wie Berger und Pfeiffer sich ihm entgegenstellten, ihm Maria Malena wegnahmen.
Schwarzmagier hielten sich menschliche Diener. So war es immer schon gewesen. Dass diese beiden ahnungslosen, unwürdigen Wichtigtuer ihm seine weggenommen hatten. Dass sie zwei davon sogar behalten und mit nach Europa genommen hatten.
Es war demütigend gewesen.
Schon damals hatte er sie verfolgen wollen. Hatte sein Eigentum zurückfordern wollen und überdies Schmerzensgeld fordern wollen. Wie in seiner Welt üblich. Doch sein Meister, Ernesto, hatte es untersagt. Nun, er hatte seine Strafe bekommen. Und das würden Berger und Pfeiffer auch.
Es war 20:04 Uhr und Ignacio fühlte, wie sich ein Kleinwagen näherte.

»Woher kennen Sie Marlene?«, fragten Christian Pfeiffer und Berger gleichzeitig und starrten sich entgeistert an.
Richard Berger antwortete nun zuerst: »Sie ist meine Schwägerin!«
›So kommen wir der Sache näher‹, dachte Christian und sagte: »Ich kenne sie als grandiose Journalistin und meine Kollegin.«
»Ich habe schon länger nicht mehr von meiner Schwester gehört«, wandte Frau Berger ein. »Sie ist angeblich verreist …«
»Das trifft wohl nicht zu«, meinte der Journalist sarkastisch, »außer Marlene befindet sich im schlechtesten Hotel der Welt.«
Dorothea Berger schluckte. »Was tun wir jetzt?«, fragte sie sehr besorgt. »Wir MÜSSEN die Polizei informieren!«
»Du hast die Nachricht gelesen«, fuhr ihr Mann sie an. »Keine Polizei!«
»Aber warum Marlene?«, überlegte Pfeiffer und kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Moment mal!« Seine Augen wurden groß. »Meine Kollegin war vor vier Wochen angeblich an einer heißen Sache dran«, erzählte er. »Sie wollte mir nicht sagen, worum es ging, jedoch würde es Schlagzeilen machen … daraufhin war sie länger beurlaubt.«
Frau Berger nickte. »Sie war zu dieser Zeit auch nicht sie selbst«, ergänzte sie. »Andauernd beschäftigt und im Stress. So kannte ich sie gar nicht! Wir telefonierten kaum noch. Kurz darauf bekam ich eine Nachricht von ihrem Handy, dass sie ausspannen müsse und in den Urlaub reisen wollte.«
»Dann hat das mit diesem Fall zu tun, warum sie verschwand?«, fragte Berger fassungslos.
»Wir müssen herausfinden, worum es da ging«, bestimmte Pfeiffer. »Ich fahre sofort zu meiner Arbeit und werde dort Nachforschungen betreiben.«
»Seien Sie bitte pünktlich um 20.05 Uhr vor der vereinbarten Adresse«, meinte Richard Berger leise und fast flehend.

Christian Pfeiffer erreichte seine Arbeit um Punkt 19 Uhr und fühlte sich sogleich unwohl. Diese Blicke der anderen Kollegen konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Blicke, die Mitleid zeigten, aber es waren ebenso ein paar vorwurfsvolle darunter.
Er war eigentlich diese Woche beurlaubt, deshalb brauchte er eine Ausrede, um nicht Verdacht zu schöpfen.
Uns sein Chef Huber kam ihm auch schon entgegen.
»Herr Pfeiffer, ich wollte Ihnen mein aufrichtiges Beileid kundtun.«
»Danke.«
»Wenn Sie etwas brauchen …«
Plötzlich kam Christian ein Einfall.
»Ich hätte tatsächlich eine Bitte«, unterbrach er Herrn Huber. »Ich habe einen wichtigen USB-Stick in Marlenes Büro vergessen. Könnten Sie mir dieses bitte kurz aufsperren?«
»Natürlich«, der Chef nickte unerträglich mitfühlend und sie liefen zu Marlenes Büro.
Als es offen war, stand der Vorgesetzte in der Tür und wartete.
›So habe ich nicht die Möglichkeit, nach Informationen zu suchen‹, kam es Pfeiffer und Wut staute sich in seinem Bauch auf. Er hatte keine Zeit für so etwas!
»Das dauert ein bisschen länger«, meinte er deshalb zu Huber. »Ich weiß nicht, wo sie ihn hin hat.«
Wieder dieser Blick, aber wenigstens ging der Vorgesetzte und Pfeiffer hatte ein paar Minuten gewonnene.
›Wo fange ich an?‹, dachte er und sah über seine Schulter. Keiner zu sehen. Das war gut!
Er startete schnell Marlenes PC und suchte dann die neuesten Ordner ab. Und – so viel Glück konnte man doch nicht haben – er entdeckte tatsächlich einen, mit dem Titel: ›Aktueller Fall‹.
›Besonders gut versteckt hat sie die Dateien aber nicht‹, kam es Christian Pfeifer, als er sie auf seinen USB-Stick lud. Es war, als wolle Marlene sogar, dass man die Daten fand …
Pfeiffer fuhr hastig den Computer herunter, und gerade als er aufstand, fragte ihn eine scharfe Stimme von hinten: »Haben Sie gefunden, was Sie brauchen?«
Christian wusste nicht, wie viel sein Chef von seiner Suche mitbekommen hatte, deshalb dachte er, dass Angriff wohl die beste Verteidigung sei.
Er hielt seinen USB-Stick hoch und sagte knapp: »Danke, hier ist er.« Dann ließ er Huber stehen und ging eilig an ihm vorbei nach draußen.

Pfeiffer schaffte es nicht, das Material auszuwerten, bevor er an der vorgebenden Adresse sein musste. Das musste er danach erledigen und er betete, dass dies nicht ein weiteres Opfer forderte. Vor allem nicht Marlene …
Am Treffpunkt stand Herr Richard Berger und wartete auf ihn, während er immer wieder auf seine Armbanduhr sah.
»Es ist 19 Uhr 53«, begrüßte er ihn erleichtert. »Ich dachte schon, Sie kämen nicht mehr …«
Der Journalist bemerkte, dass er vor Angst zitterte und auch ihm war ganz flau im Magen.
»Ich habe Informationen«, flüsterte er Herrn Berger ins Ohr.
Als er aber nichts weiter dazu sagte, fragte der andere Mann energisch: »Ja und? Was haben Sie herausgefunden?«
Pfeiffer scharrte mit seinem Fuß am Boden. »Das ist das Problem! Ich hatte nicht genug Zeit, die Daten auszuwerten.«
Berger fiel wie ein Häuflein Elend in sich zusammen. »Das ist unser Todesurteil!«, murmelte er leise.
»Bis jetzt sind WIR komischerweise immer noch am Leben!«
»Aber wer stirbt als Nächstes?« Berger packte Christian am Kragen. Er schien den Kampf gegen seine Gefühle verloren zu haben. Richard Berger merkte, das und ließ ihn eilig wieder los.
»Wir werden sehen«, sagte Christian Pfeiffer nur und glättete sein Hemd. »Doch nun müssen wir hinein.«
Sie drückten die unverschlossene Tür auf, als sie schlagartig stehen blieben.
Von innen ertönte gellend ein Schrei.
Aber es war nicht der Schrei einer Frau …

Am Abzug

Der Revolver zitterte. Flackernde Lichtblitze von altersschwachen Neonröhren zuckten über den glänzenden Lauf. Pfeiffer hätte nicht sagen können, wieso dieses kalte Stück Tod so unruhig war. Lag es daran, dass er seit Stunden keinen Kaffee getrunken hatte oder an dem ungewohnten Gewicht in seiner Hand? Lag es an der Notwendigkeit, gleich etwas zu tun, was niemand jemals tun sollte, während die drei Linsen einer Handykamera alles gierig beobachteten? Oder kam das Zittern von der angstfeuchten Stirn, an die er die Mündung presste und hinter der panisch kreisende Gedanken auf ihr abruptes Ende warteten?

Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Eine Mischung aus altem Maschinenöl, Chlorreiniger, menschlicher Tragödie und Scopolamin. Wobei Letzteres wohl eher seiner Einbildung entsprang, denn er war ja davon verschont geblieben. Leider, wie ein kleiner Teil in ihm wehmütig anmerkte.
Wimmern drang in seine Ohren, sickerte dunkel und zähflüssig in seinen Geist. War das Berger? Oder war es Marlene? Er konnte es nicht sagen, wollte es nicht wissen. Besser, wenn er es nicht wusste.

Wie spät mochte es sein? Um 20:03 hatte er den Motor abgestellt. Die Fahrt war eine einzige Hölle des Schweigens gewesen, in der ‚Sympathy for the devil‘ der einzige Lichtblick zu sein schien. Berger und er waren ausgestiegen, der entfernte Lärm einer startenden Verkehrsmaschine erfüllte die Stille zwischen den bröckelnden Betonwänden. Verhalten waren sie auf die alte Feuerschutztür zugegangen, die halb offen stehend in eine beklemmende Düsternis zu führen schien. Der Schein trügte. Kaum eingetreten, sahen sie das kalte Weiss der Neonröhren am Ende eines Ganges. Pfeiffer hatte geahnt, dass dort das Grauen auf sie wartete. Er sollte mehr als Recht behalten.
Sie waren pünktlich gewesen. Absurd. 20:05 Uhr. Wieso fünf nach? Warum machte er sich über solche Kleinigkeiten Gedanken?

„Um dich von der Wirklichkeit abzulenken, Christian.“ Marias Stimme. Sie klang so lebendig in seinem Kopf. Ein Beben erschütterte seinen Brustkorb, er zwang sich zu atmen, zwang den aufsteigenden Kloß zurück in die Tiefen seiner wissenden Seele.

Als Journalist wollte man die Wahrheit kennen, die ganze Geschichte hören, jedes schmutzige Detail. Das war der Beruf, die Berufung. Jetzt, wo er die Wahrheit kannte, diese Geschichte gehört hatte, stand er am Rande eines Abgrundes und wünschte, er würde nichts davon wissen.
Plötzlich ergab alles einen nachvollziehbaren, aber ekelerregenden Sinn.
Sein Blick flackerte zu Marlene. Marlene, die zum Leiden verurteilt war, weil sie nur tapfer und nicht heroisch gewesen war. Marlene, die junge Frau, die ihm vor Jahren zu einem seiner größten Erfolge verholfen hatte. Dank ihr, war es ihm gelungen, eine Internetplattform auffliegen zu lassen, wo reiche, dekadente, abgrundtief verkommene Perverse sich Jungfräulichkeit gekauft hatten.
Marlene war eines der Opfer gewesen. Mit dem Versprechen der Anonymität und ohne die Polizei einzuschalten, hatte sie Pfeiffer auf die Spur ihres ‚Käufers‘ gebracht. Für ihn waren es ruhmreiche Zeiten gewesen.
Die Stimme am Telefon hatte vielleicht Recht gehabt, als sie sagte, er würde Menschen nur zum Eigennutz und zu spät helfen.

Viktor Grams, der Mann, der sich vor Bergers Haus erschossen hatte, war einer der Käufer gewesen, denen die Polizei aber nichts hatte nachweisen können. Scopolamin hatte dafür gesorgt, dass er Henker und Hingerichteter in einem wurde.

Und Berger?
Den hatte das Scopolamin redselig gemacht. Freimütig berichtete er den drei Linsen der Handykamera, welche Rolle er in diesem widerlichen Drama spielte. Richard Berger war Marlenes Pflegevater gewesen und der Mann, der ihre Jungfräulichkeit verkauft hatte. Für 10.000 €.

Jetzt war Berger nicht mehr, als ein Häufenchen Elend und wäre wohl vor Scham und Schuldgefühlen zu Boden gesunken, aber er konnte nicht. Die Kabelbinder und die Eisenstange hielten ihn gnadenlos aufrecht.

Zu guter Letzt blieb Pfeiffer selbst. Christian Pfeiffer, der hochgelobte Journalist. Der tiefgefallene Online-Redakteur. Er stand hier, mit einer Waffe in der Hand, presste sie an den Kopf eines miesen Schweins. Eines Schweins, das ihm unendlich leidtat, fast so leid, wie er sich selbst.

Die drei Linsen der Handykamera starrten ihn in einem stillen Vorwurf an, als die Person dahinter zu sprechen begann.
„Die Bedenkzeit ist um. Wofür entscheiden Sie sich, Pfeiffer?“

Er schloss die Augen, fühlte den Abzug. Er konnte nicht. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben. Ihr und sich selbst.

„Ich werde mich für gar nichts entscheiden“, rief er in einem Anflug rebellischer Entschlossenheit. „Nicht bevor Sie mir nicht gesagt haben, warum Maria sterben musste.“

Der Mann hinter dem Handy schnaubte.
„Also schön, aber glauben Sie mir, Pfeiffer, es wird ihnen nicht gefallen.“

„Das ist meine Cousine!“

Erneut kam der Ausruf von beiden. Diesmal klang es jedoch wie ein Echo, weil Berger es eine halbe Sekunde früher aussprach als Pfeiffer. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätten sie wohl gelacht und sich über das Phänomen der Gedankenübertragung lustig gemacht. Aber keinem von ihnen war zum Lachen zumute. Die Überraschung stand allen ins Gesicht geschrieben. Die unheimliche Stille, die folgte, wurde nur durch Dorotheas Schluchzen unterbrochen. Pfeiffer hatte sich als Erster wieder unter Kontrolle. „Moment mal, Marlene Offermanns ist Ihre Cousine?“

Richard Berger brauchte deutlich länger, um seine Fassung wiederzufinden. Er starrte auf den Bildschirm des Laptops. Das Video hatte gestoppt und zeigte nun ein Standbild der Frau, die offensichtlich irgendwo gefangen gehalten wurde.

„Ja, sie ist die Tochter meiner Tante, der Schwester meiner Mutter.“

Dorothea sah die beiden Männer in ihrem Wohnzimmer entgeistert an. Ihr Verstand hatte sie für einen Moment verlassen. Ganz langsam kam er zurück. Er sträubte sich aber noch, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten. „Wie … ich … ich verstehe nicht.“ Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und blickte Pfeiffer fragend an. „Ist sie … ?“

„Ja, sie ist auch meine Cousine, die Tochter meines Onkels, Rudolf Offermanns. Er ist der Bruder meiner Mutter.“

Dorothea begriff nicht. „Wie kann das sein? Wären Sie dann nicht mit uns verwandt? “

„Irgendwie schon, denke ich. Über ein paar Ecken. Meine Mutter Sabine ist eine geborene Offermanns und ihr Bruder hat vor vielen Jahren eine gewisse Gertrud Mertens geheiratet.“

Ein verstehender Blick huschte über Bergers Gesicht. „Meine Mutter war eine geborene Mertens und ihre Schwester hat Rudolf Offermanns geheiratet. Das heisst, mein Onkel Rudolf ist auch Ihr Onkel.“

„So ist es wohl. Die Welt ist ein Dorf.“

Dorothea hatte sich mittlerweile gefasst. „Hört endlich auf zu faseln. Wir müssen etwas unternehmen.“

„Sie haben recht.“ Pfeiffers Verstand begann mit seiner analytischen Arbeit. „Okay, dieses Schwein kennt also unsere Verwandschaftsverhältnisse. Es scheint, als wären wir ganz bewusst ausgewählt worden. Auch die Entführung von Marlene weist darauf hin. Der Kerl hat diesmal keine konkreten Forderungen gestellt oder uns unter Zeitdruck gesetzt. Ich gehe daher davon aus, dass Marlene noch lebt. Er weiß sogar, dass ich jetzt gerade hier bin. Ich vermute, dass er Ihr Haus überwacht. Und er scheint uns immer einen Schritt voraus zu sein.“

„Was sollen wir denn jetzt machen?“ Berger schaute ihn ratlos an.

„Zunächst bleibt uns nichts anderes übrig, als seinen Anordnungen zu folgen und zu diesem Industriegebiet zu fahren. Wir sollen um Punkt 20:05 Uhr da sein. Sie, Herr Berger, und ich. Von Ihrer Frau ist in seinem Schreiben nicht die Rede.“ Er wandte sich an Dorothea. „Ich rufe Sie um genau viertel nach acht an. Falls ich mich nicht melde, schicken Sie die Polizei zum Treffpunkt.“

Christian Pfeiffer und Richard Berger erreichten die genannte Adresse bereits um 19:50 Uhr. Sie standen vor einem alten, wohl schon seit Jahren, leer stehendem Fabrikgebäude mit roten Backsteinmauern. Einige der kleinen Glasfelder der Industriefenster mit Metallsprossen waren zersplittert. Die, durch die noch keine Steine von übermütigen Jugendlichen geworfen worden waren, hatten im Laufe der Zeit eine natürliche Beschichtung aus Dreck und Staub bekommen.

„Da hinten ist eine Türe.“ Berger wies mit einer Hand zur rechten Ecke des Bauwerkes. Als sie dort ankamen, erkannten sie, dass das rostige, zweiflügelige Tor einen Spalt offen stand. Daneben an der Wand hing ein gelbes Schild mit dem Hinweis „Betreten verboten! Eltern haften für ihre Kinder!“ Berger zögerte einen Moment.

„Echt jetzt?“ Pfeiffer drückte mit beiden Händen gegen den offenen Türflügel, der sich unter lautem Quietschen nach innen bewegte und den Blick auf eine weitläufige Halle freigab. Zügig trat er ein und Berger folgte ihm ängstlich. Durch die schmutzigen Fenster fiel diffuses Licht auf einen mit Unrat übersäten Betonboden. An den Wänden standen rostige Regale, in denen sogar noch irgendwelche, aus der Entfernung nicht definierbare, Objekte lagen. Pfeiffer ging langsam bis zur Mitte der Halle und drehte sich zu Berger um.

„Guten Abend zusammen. Sie sind früh dran.“ Die Stimme hörte sich seltsam metallisch an.

„Wo ist Marlene? Was hast du Schwein mit ihr gemacht?“, rief Berger laut.

Ein gespenstisches Lachen schien von überall her zu kommen. Pfeiffer winkte Berger mit der linken Hand zu und deutete mit der anderen zu einer alten Kranbahn, an der ein Lautsprecher hing. Er sah sich um und entdeckte noch drei weitere Boxen, aus denen die fremde Stimme kam. „Ich glaube, er ist gar nicht hier“, sagte er laut.

„Einen Punkt für den cleveren Reporter.“

„Wo ist Marlene?“ Berger schrie jetzt hysterisch.

„Sie ist nicht in diesem Gebäude, nicht mehr. Die Aufnahme habe ich schon vor drei Wochen gemacht. Ich hatte gehofft, sie würde mir helfen können. Tja, sie wusste leider nichts. Keine Sorge, es geht ihr gut … den Umständen entsprechend. Meine Auftraggeber kümmern sich liebevoll um sie."

„Was soll dieses Scharade? Warum sind wir hier?“

„Nun, damit Sie nicht hier sind.“

Pfeiffer bekam ein höchst ungutes Gefühl. Berger hatte noch nicht begriffen. „Was meinen Sie damit?“

„Ich sitze gerade auf Ihrem cremeweißen Ledersofa, Herr Berger, und lege meine Füße auf den Couchtisch. Ihrer Frau scheint das zu missfallen. Sie sieht aus, als möchte sie mir wüste Beschimpfungen an den Kopf werfen. Aber sie ist schwer zu verstehen mit dem Knebel im Mund.“

Berger sackte zusammen und setzte sich auf den schmutzigen Boden. „Sie mieses, dreckiges Arschloch.“ Tränen liefen über sein Gesicht. „Tun Sie meiner Frau nichts.“

„Es geht um unsere Familie, richtig? Was hat sie Ihnen getan, dass Sie uns das antun?“ Pfeiffer versuchte, dem Fremden eine Information zu entlocken.

„Noch ein Punkt für den Journalisten. Ich suche Rudolf Offermanns. Seine Tochter konnte mir nicht sagen, wo ich ihn finde. Er scheint mit seiner Frau spurlos verschwunden zu sein.“

„Wieso bringen Sie fremde Menschen um, die nichts damit zu tun haben?“

„Jetzt muss ich Ihnen aber einen Punkt wieder abziehen, Christian Pfeiffer. Ich habe niemanden getötet. Den alten Mann hat der knauserige Berger auf dem Gewissen und Maria … tja, wären Sie doch nur ein wenig schneller gewesen. Das waren letztendlich aber nur unwesentliche Kollateralschäden. Manchmal muss man Opfer bringen, damit einem die Ernsthaftigkeit einer Situation bewusst wird. Ich musste doch dafür sorgen, dass Sie hochmotiviert sind, mir zu helfen. Sie haben vierundzwanzig Stunden, um Ihren Onkel zu finden und ihn zu mir zu bringen.“

Der Knall eines Schusses peitschte aus den Lautsprechern und hallte von den Wänden mehrfach zurück.

„Jetzt dürften alle Zweifel ausgeräumt sein, dass mir die Sache sehr ernst ist.“

Die Falle

Berger starrte Pfeiffer vollkommen entsetzt an. „Woher kennen Sie meine Tochter?“

„Ihre Tochter?“ sagte er überrascht. „Wir haben zusammengearbeitet. Sie ist die beste Journalistin, die ich in den letzten 30 Jahren gesehen habe. Hat sie das nie erzählt?“ antworte Pfeiffer mit einem Funkeln in den Augen.

Berger schüttelte den Kopf: „Ich habe sie schon jahrelang nicht mehr gesehen. Ich hatte an der Börse all ihre Ersparnisse verloren. Das hat sie mir nie verziehen, auch wenn wir uns davon mittlerweile finanziell wieder erholt haben.“, berichtete er mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht.

„Warum Marlene, warum wir? Was soll das alles. Ich versteh das einfach nicht.“ fragte Berger mit Tränen in den Augen.

Pfeiffer zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Es wird immer persönlicher. Erst der Graubart, dann meine Freundin, jetzt ihre Tochter. Wir müssen ihr helfen.“

Die alte analoge Uhr an der Wand stand auf 19:20 Uhr. Das Ticken des Sekundenzeigers war das lauteste Geräusch im Raum. Jeder Schlag des Zeigers war wie ein Vorbote dessen was bevorstand. Marlene. Sie würde sterben, wenn sie nicht schnell genug waren. „Tick, Tick,Tick…“ klang die Uhr fast schon verhöhnend.

“Wir haben eine Dreiviertelstunde bis zum Treffpunkt. Wie lange brauchen wir zu der Adresse im Industriegebiet?“, fragte Berger.

„Um die Uhrzeit sollten wir in etwa 25 Minuten dort sein.“ antwortete Pfeiffer.

„Ihr könnt doch nicht einfach so da reinstürmen“ unterbrach Dorothea Berger die beiden bei der Planung. „Ich habe genug Krimis gesehen, um zu wissen, dass das eine Falle ist.“

Pfeiffer versuchte nachzudenken. „Sicher ist das eine Falle, aber wir haben keine andere Wahl.“, sagte er schließlich. Berger nickte zustimmend.

“Wir müssen die Polizei rufen!" forderte seine Frau „Die Polizei kann doch das Gebäude stürmen.“

Pfeiffer und Berger sahen sich an. „Es ist keine leere Drohung. Er hat schon zwei Menschen auf dem Gewissen. Keine Polizei stand in der Nachricht.“, widersprach Berger seiner Frau.

Pfeiffer stimmte ihm lautlos zu. Sie hatten keine andere Wahl. Ihnen blieb nur die Hoffnung, dass alles bald ein Ende hatte.

Die Anzeige in Pfeiffers Auto zeigte 19:57 Uhr an. Er parkte den alten Wagen in einigem Abstand zu der Adresse. „Greifen sie mal ins Handschuhfach“, wies er Berger an, der nervös an seinen Fingernägeln kaute. Er holte ein Fernglas heraus und reichte es dem Journalisten. Pfeiffer schaute weiter auffordernd in Bergers Richtung.“Das Andere“ wies er ihn an. Berger griff erneut ins Handschuhfach. Mit seinen Fingern ertastete er kaltes Metall. Schockiert schaute er Pfeiffer an. „Ist das eine Waffe?“, fragte er leise.

„Jetzt stellen Sie sich nicht so an, Herr Berger. Wir können ja nicht vollkommen schutzlos da reingehen.“ schnauzte Pfeiffer ihn an. „Welche Hausnummer war es?“

“Siebenunddreissig“, antwortete Berger. Ihre Blicke wanderten über die Gebäude. „Das ist ein stinknormales Haus“,bemerkte Pfeiffer verwundert. „Ich hatte mit einer schäbigen Lagerhalle gerechnet.“ Er stieg langsam aus, steckte die Waffe in seine Hose und legte das Hemd darüber.

“Sind sie bereit, Herr Berger?" fragte Pfeiffer.

“Wohl kaum, aber wir haben ja keine andere Wahl. Gehen wir jetzt einfach hin und klingeln?“, fragte Berger mit unsicherer Stimme. Er kannte die Antwort bereits, bevor er Pfeiffers Nicken sah. Mit wackligen Knien schritten die Beiden auf das Haus zu. Kein Gartentor, keine Kameras, keine Alarmanlage, einfach nur ein ganz normales Haus. Der Kies knirschte unter ihren Füßen… Bunte Solar Lampen erhellten den blumengesäumten Weg.

Berger stand noch zögernd an der Türe, als Pfeiffer bereits die Klingel drückte. Schritte näherten sich der Türe. Unheilvoll. Berger zitterte am ganzen Körper. Angst spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen. Die Türe öffnete sich.

„Du?“, rief Pfeiffer entsetzt aus.

Teil 4

„Ich stehe das nicht noch mal durch“, flüsterte Dorothea. „Es ist der Gleiche. Bestimmt. Hätten sie ihn damals nur gefasst.“

„Woher kennen Sie diese Frau?“ Hastig klappte Pfeiffer den Laptop zu.

„Unsere …“ Berger wirkte plötzlich klein, geschrumpft wie ein verdorrter Apfel.

„Tochter“, beendete Dorothea den Satz.

Tochter? Pfeiffer wusste genau, wer diese Frau war. Wegen der ganzen Entführungssache vor zwei Jahren musste er in die Online-Redaktion wechseln. Aber Bergers Tochter?

Gleichzeitig mit Widerwillen und wie mit kindlicher Vorfreude auf das Gelingen eines Streiches zog Pfeiffer sein neu erstandenes Smartphone aus der Hosentasche. Er öffnet die Navi-App. Dieses Mal würde er schneller sein als dieser Horrorclip-Produzent. Ihm voraus. Und keine Sekunde zu spät. Unbeholfen tippte er die Adresse ein.

„18 Minuten fährt man“, sagte er. „Jetzt ist es 19.34 Uhr. Scheiße! Wir müssen los.“ Er zog Berger von der Couch hoch und schob ihn zur Haustür und hinaus.

Berger stolperte in Socken die Treppenstufen hinunter. „Sie sind verrückt. Und die Adresse ist ungenau, das Industriegebiet groß.“

„Ja doch. Ich fahre. Sie sind still. Ich muss mich konzentrieren.“

Berger hatte recht. Wieso nahm dieser Typ an, dass sie ihn finden würden? Dass Pfeiffer den Raum in dem Video kannte, konnte er doch nicht wissen. Pfeiffer verspürte ein Kribbeln auf der Haut. War es Aufregung, gleich einen überraschenden Coup zu landen? Oder Panik, etwas Entscheidendes zu übersehen?

Sein Tastentelefon klingelte. Er zog es aus der Jackentasche. Magnus. Wieso rief sein Chef jetzt an? Da musste er wohl rangehen.

„Ja?“

„Ich habe wirklich alles versucht, wirklich. Aber sie werden dich morgen feuern.“

„Was?“

„Damals waren es nur diese Bilder aus dem Deepfake-Video. Du hättest sie nicht veröffentlichen dürfen. Die Online-Redaktion war deine Chance, endlich mit dem digitalen Zeug umgehen zu lernen. Aber du hast es nicht nur ignoriert. Sondern jetzt noch dieses Video auf unsere Seite geladen. Du musst so etwas doch erkennen. Ich verstehe nicht …“

„Magnus!“, unterbrach Pfeiffer ihn. „Ich werde das aufklären. Ich bin da an einer Sache dran. Das ist groß. Wirklich.“

Berger öffnete das Beifahrerfenster.

Verdammt! Pfeiffer stabilisierte mit den Knien das Lenkrad und gestikulierte mit der freien Hand, Berger solle es wieder schließen.

Aber der hielt den Kopf aus dem Fenster - und erbrach sich. Der Fahrtwind wehte das stinkende Zeug direkt ins Auto.

„Ich muss …“ Pfeiffer legte auf.

Er unterdrückte den Brechreiz und trat aufs Gaspedal.

An die Wand eines verlassenen Industriegebäudes projiziert lief ein Video. Riesengroß lag Marlene noch immer gefesselt im Schutt auf dem Boden einer schwach beleuchteten Halle. Von ihren Fingern tropfte jetzt Blut. Einer fehlte.

Berger öffnete die Autotür, schob die Beine hinaus und seinen restlichen Körper schnaufend hinterher. Hätte Pfeiffer ihn besser nicht mitnehmen sollen?

Ein dumpfes Klacken erfüllte die Luft, als Scheinwerferlicht aufleuchtete. Pfeiffer kniff die Lider zusammen. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn und die am Ärmel klebende Kotze verteilte sich in seinen Haaren.

„Oh, so hübsch hast du dich gemacht“, hallte die Stimme des Mannes, der mit Bildern und Worten tötete, aus einem kleinen Lautsprecher. „Wäre nicht nötig gewesen. Zehntausend Euro und ihr könnt sie mitnehmen. Und immer schön in die Kamera lächeln.“

Wo war dieser Typ? Bei ihr? Was hatte er vor? Sicher wusste er, dass sie nicht so viel Geld dabeihatten. Pfeiffer blickte sich um. Im grellen Licht war es schwer, ringsum etwas zu erkennen. Aber das war egal. Er würde ihn erwischen. Hier kannte Pfeiffer sich aus. Der Eingang lag schräg rechts vor ihm. Vielleicht zehn Schritte aus dem Lichtkegel hinaus und fünfzehn bis dorthin.

„Hat es dem Journalisten die Sprache verschlagen?“ Der Lautsprecher war jetzt leiser eingestellt. „Aber klar. Alles immer nur in eigenem Interesse! Oder einfach eine fucking Sekunde zu spät. Also … zehntausend Euro in zehn Sekunden. Online? Zu schaffen. Sagen Sie, Christian Pfeiffer, kennen Sie sich damit aus?“

„ICH gebe Ihnen das Geld“, schrie Berger und zitterte am ganzen Körper. „Alles, was Sie wollen.“

„Sieben.“

„Nein“, rief eine Frauenstimme. An einem Fenster in der ersten Etage des Industriegebäudes war eine Gestalt zu erkennen. „Auf keinen Fall. Das ist doch mein Vater.“

„Fünf.“

„Nicht sie“, flüsterte Berger.

„Vier.“

Ihre Stimme? Pfeiffer kannte sie. Oder hatte Marlene eine Schwester?

„Drei.“

Wer war gerade das Opfer? Bisher stand beide Male der Tod eines Menschen auf dem Spiel. Pfeiffer spürte die zunehmende Langsamkeit seiner Gedanken, desto mehr er versuchte, sie anzuschieben.

„Eins.“

Mit einer schnellen wie einstudierten Handbewegung zog Berger eine Waffe hinten aus der Hose. Bevor Pfeiffer begriff, was gerade geschah, versenkte Berger den Pistolenlauf im Mund.

„Null.“

Berger drückte ab. Das Geräusch war dumpfer als im Video. Rückwärts fiel er um.

Die Frau kam aus dem Gebäude gestürzt und rannte auf den am Boden liegenden Mann zu. „Was hast du getan? Nein! Das hast du nicht, wir …“ Ihre Stimme versagte.

Pfeiffer hatte sie längst erkannt. Marlene in sauberen Sachen. Mit glatt gekämmtem Haar. Marlene mit allen zehn Fingern.

Pfeiffers Herz raste. Erst Maria, jetzt Marlene? Seine geliebte Mara – so hatte er sie genannt – hatte nie viel von sich gesprochen, immer nur ihn ausgefragt. Immerhin wusste er, dass sie adoptiert worden war und dass sie wenig Kontakt zu ihren Eltern pflegte. Warum Marlene sie selten traf, hatte sie nicht erzählt. Pfeiffer fragte nicht nach, weil er sowieso auf Abwehr gestoßen wäre. So gut kannte er sie. Er war so sehr in sie verliebt gewesen. Sie schenkte ihm ihre Jugend und hatte ihn in seine eigene zurückversetzt.
Doch vor zwei Jahren brach sie ohne Begründung den Kontakt zu ihm ab. Sie ghostete ihn, wie seine jungen Kollegen gesagt hätten. Genauso hatte er sich damals gefühlt: wie ein Geist, unglücklich bis ins Mark und von der Welt abgeschlossen.
Die Erinnerung flitzte beim Anschauen des Videos durch sein Gehirn und löste erneut diesen heißen Schmerz vergangener Liebe in seiner Brust aus, den erst Maria ausgelöscht hatte. Nun verbrannte er mit doppelter Intensität sein Herz.
Was wollte dieser Mörder, ach was – dieses Ungeheuer, von ihm, das so wichtig war, dass er seine Freundin ermordete und seine Ex-Freundin bedrohte, ohne eine konkrete Forderung zu stellen? Und …
Wieso war Berger kreideweiß und grün im Gesicht und was war mit seiner Frau?
Dorothea Berger fraß fast ihre Finger auf, Tränen rollten über ihre Wangen und knallrote Flecke breiteten sich über ihren Hals bis aufs Gesicht aus. Ihr stahlharter Blick fesselte Christian und Berger rang die Hände. Mit Eisesstimme fragte sie: »Was habt ihr beide mit meiner Tochter zu tun?«
Verwundert fragte Pfeiffer: »Ihre Tochter?«, und hörte gleichzeitig Bergers Ausruf: »Deine Tochter?« Christian drehte seinen Kopf zu Berger und blickte in dessen weit aufgerissene Augen.
Eine noch breitere Geschichte eröffnete sich, als Pfeiffer je vermutet hätte. Verdammt! Alle drei hier versammelten Menschen waren durch Marlene verbunden und nur der Mörder kannte die Zusammenhänge. Doch was hatte das erste Opfer damit zu tun? Und Maria?
Seine Gedankengänge wurden abrupt unterbrochen, denn Frau Berger raunte: »Richard, ich habe dir nie erzählt, dass ich mit achtzehn ein Mädchen geboren habe, das ich Marlene genannt habe und dann zur Adoption freigab. Ich konnte sie damals nicht aufziehen. Immerzu habe ich mich gefragt, wie es ihr geht, und erst vor zwei Jahren hat sie sich bei mir gemeldet. Ich war so froh, sie auf einem guten Weg zu sehen.« Plötzlich brach ihre kühle Maske wieder zusammen. »… und nun – nun ist sie … sie … ist …« Ihr Stottern verlor sich in einem riesigen Schluchzer, der sie durchschüttelte. Der emotionale Anfall stoppte wieder. Sie richtete sich auf, krauste ihre Augenbrauen und fixierte erst ihren Mann, dann Christian. »Woher kennt ihr beide Marlene? Und warum ist sie euch so wichtig, dass ihr mit ihr erpresst werden könnt?«
Pfeiffer antwortete ohne Umschweife: »Ich war bis vor zwei Jahren mit ihr zusammen, ich habe …« Er schüttelte den Kopf, als er seinen Puls laut in seinen Ohren hörte. »Nein, ich liebe sie.« Diese Tatsache war ihm bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen.
»Aha. Ich wusste nicht, dass sie auf ältere Männer steht. Und du Richard?«

© MoScho -Monika Schoppenhorst

„Leni! Sie dürfen ihr nichts antun!“ schrie Dorothea und setzte sich an den Esstisch. Richard seufzte und legte den Arm um seine Frau.
„Was ist denn das für eine Scheisse! Was machen wir jetzt?“ wandte er sich an Pfeiffer.
„Wir machen erst mal gar nichts. Ich fordere die Polizei…“
„Haben Sie gar nichts kapiert? Keine Polizei!“ Berger stand auf und lief auf und ab.
„Ich weiß, aber ohne Polizei haben wir erst recht keine Chance. Oder meinen Sie, die lassen Marlene einfach so frei?“
„Wir sollten nach ihren Regeln spielen. Ich will Leni nicht verlieren. Nicht noch eine Leiche! Oder wollen Sie das?“
„Nein. - Wer ist Marlene eigentlich?“
„Leni ist die jüngste Schwester meiner Frau. Wenn ihr was passiert, nicht auszudenken.“

Sie waren zu dem Industriegebiet gefahren, Berger hatte ihn überredet, keine Polizei zu informieren. Pfeiffer s Gefühl, die böse Vorahnung ließ ihn nicht mehr los. Es ist falsch, sagte sein Gewissen. Er strich durch sein Haar und fühlte sich mächtig unwohl.
Die Bergers standen auch neben sich. Dorothea weinte und Richard zeigte sich sehr besorgt.
„Wir hätten doch die Polizei…“
„Nein!!! Ich will Leni nicht auch noch verlieren. Sie haben wohl gar nichts begriffen. Keine Bullen! !“ schrie Berger und attackierte Pfeiffer. Der blieb stehen und hielt ihn auf Abstand.
„Hey, behalten Sie bitte Ruhe! Ich würde mich nur wohler fühlen.“
Was wollen diese Typen damit erreichen? Warum sind die Leute nur so bescheuert? Wieso gehen die nur so vor? Was versprechen die sich davon?
„Wo ist Leni?“ fragte Dorothea mit zittriger Stimme.
„Ruhig, Schatz!“
„Die Tür da vorne ist offen. Lasst uns da rein gehen!“ sagte Pfeiffer.
"Okay. " Dorothea stützte sich auf ihren Mann, als sie durch die blaue Tür traten. Die graue Betonwand stimmte schon mal. Geradeaus führte ein Gang, links und rechts jeweils vier ebenfalls blaue Türen. Die letzte auf der linken Seite stand auf. Mit klopfendem Herzen gingen sie rein.
In der Mitte lag Leni, gefesselt, geknebelt wie im Video.
Rechts befand sich ein Monitor mit der Aufschrift: „Mach mich an!“

Sich zusammenfügende Puzzleteile

„Sie… kennen Marlene?“, hakte Berger verwirrt nach.
Pfeiffer brummte. In seinem Kopf ratterten die Zahnräder. Oh ja. Er kannte Marlene. Ziemlich gut sogar. Erinnerungen an besondere Momente flammten in ihm auf. In einer Zeit, in der noch alles möglich schien und welcher er selbst noch Träume gehabt hatte, statt einfach nur einen Job aus zu üben, um selbst über die Runden und seinen Alltag zu kommen. Als das Feuer der Leidenschaft und Jugend noch in ihm gebrannt hatte. Bevor er zu viele Schicksale, zu viele Unglücke miterlebt hatte.
„Ja“, sagte er schließlich betont langsam, als er sich selbst aus seinen Erinnerungen zerrte. „Wir haben dieselbe Uni besucht“, starrte er auf den Bildschirm, der noch immer die Frau zeigte, mit der er einst zusammen geträumt hatte.
Bis das Leben und ihre Wege sie auseinander getrieben hatte und jeder seiner eigenen Wege gegangen war. Wie das Leben eben so war. Man knüpfte Kontakte, pflegte Freundschaften und dann bog sich der gemeinsame Weg auseinander und gabelte sich immer weiter, bis man einander aus den Augen verlor.
In Pfeiffer entstand ein Gefühl von Bedauern, wenn er an damals zurück dachte. Gleichsam jedoch auch erstaunter Schock über ihren Anblick. Es tat weh. Ließ sein Herz sich zusammen ziehen und verbitterte Gedanken in sich aufsteigen. Wut flammte auf. Kalter Zorn, der sich in seiner Magenwand fest biss und schwer wog. Sich selbst ein Versprechen gab.
Doch um seine aufkeimenden Rachegelüste zu füttern, musste er weiter kommen. Blinde Wut half dabei nicht. Das war einer seiner Vorteile, die ihn seinen Job eingebracht hatte. Emotionen beherrschen und unterdrücken um weiter zu gehen. Weiter zu wühlen und die Dinge mit anderem Blick zu betrachten. Hinter die Wahrheit kommen.

Seine Augen weiteten sich. Für einen kurzen Moment. Dann zuckten seine Mundwinkel. Stimmt. Er war Journalist und er war es geworden, weil er nach der Wahrheit hinter den Dingen hatte suchen, sie finden und dann teilen wollen.
Es war wie damals bei seiner Tante, wenn sie mit ihm Rätsel-Schnitzeljagd gespielt hatte. Die einzige Zeit in der er sich stets Lebendig in seiner Kindheit gefühlt hatte. In ihm den Trieb geweckt hatte, Dinge zu ordnen und nach und nach zusammen zu fügen. Der Wahrheit Schritt für Schritt näher zu kommen.
Also schloss er die Augen und zog alles heran, was er wusste. Wobei er etwas Seltsames feststellte.
Er war mit Maria ein festes Paar gewesen und auch Marlene hatte in seinem Werdegang zum Journalismus eine feste und große Rolle in seinem Leben gespielt. Allerdings kannte er den Mann nicht, der sich als erstes erschossen hatte.
Wobei er sich immer noch die Frage stellte, wie man einen anderen Menschen dazu bewegen konnte, sich selbst zu erschießen? Erpressung? Irgendeine seltsame Technologie? Ein Trick den er nicht erkannte und durchschaut hatte? Die Frage musste noch geklärt werden, wenn er hinter all das kommen wollte. Vielleicht konnte er darüber eine Verbindung ziehen.
Dann gab es noch die Bergers. In welchem Zusammenhang standen sie zu alle dem?
„Woher kennen Sie Marlene?“, wandte er sich schließlich an den rundlicheren Mann neben sich, der blass und zittrig neben ihm saß. Erst jetzt fiel Pfeiffer auf, dass Bergers Hände sich so fest ineinander verkrallt hatten, dass dessen Knöchel weiß hervor traten. Überrascht schossen Pfeiffers Brauen empor, als der Mann ihm nicht antwortete, dafür sich jedoch die schwache, brüchige Stimme seiner Frau meldete. Sie klang dünn, als würde sie jeden Moment brechen, „Sie ist unsere Tochter.“

Für einen langen Moment vergaß Pfeiffer das Atmen, als sich seine Augen langsam vor Überraschung weiteten. Dann schossen seine Brauen in die Höhe und er versuchte sich an Marlenes Nachnamen zu erinnern.
„Aber, sie hieß mit Nachnamen Blum, als ich sie kennenlernte“, fand er nach einem Moment des Wühlens in seinem Kopf den Namen wieder.
Frau Berger schluckte und nickte, „Das ist mein Mädchenname, müssen sie wissen. Richard und ich haben uns erst vor zwei Jahren das Ja Wort gegeben und sie trug die ganze Zeit meinen Mädchennamen, weil wir uns so darauf geeinigt hatten. Sie heißt auch immer noch Blum mit Nachnamen.“
„Oh“, machte der Journalist, „Das erklärt es.“
Doch dann stockte er.
Da.
Da ist die Verbindung zwischen ihm und allen Opfern dieses perfiden Spiels. Bis auf den älteren Herren, der zuerst starb.
Zu ihm gab es keine Verbindung. Pfeiffer kannte ihn nicht. Er war sich sicher. Genauso wenig wie er glaubte, den Täter zu kennen. Aber offenbar kannte er ihn.
Woher?
Nun. Vielleicht war das auch nicht so schwer. Immerhin arbeitete er als Journalist.

Just in dem Moment klingelte Pfeiffers Privat- Handy in seiner Hosentasche und ließ ihn hart zusammen zucken, genauso wie seine Gastgeber, bei denen Dorothea sogar kurz spitz aufschrie und sich dann eine Hand erschrocken vor den Mund schlug.
Mit großen Augen und wild schlagendem Herzen starrte Pfeiffer auf seine Hosentasche. Seine Hand schwebte, einen kurzen Augenblick über seiner Tasche, ehe er sich dazu durchrang, es heraus zu ziehen. Seine Gedanken rasten. War es der Täter? Dieses Schwein, das ihm die Frau genommen hatte, die er für sein Leben ausgewählt hatte? Ihm dieses Bodenlose Loch ins Herz gestanzt hatte, dass niemals jemand wieder auffüllen konnte?
Das Berger Paar sah einander genauso blass und erschrocken an, wie sich Pfeiffer in diesem Moment fühlte.
Als er sein Tastentelefon, sein privates, hervor zog und auf den kleinen, rechteckigen Rahmen schaute, konnte er eine Nummer erkennen und einen eingespeicherten Namen, bei welchem er die Augen etwas weitete, doch gleichzeitig erleichtert auf atmete. Seine Schultern sanken etwas herab und er erlaubte sich, zwei Sekunden lang die Erleichterung zu fühlen, dass es kein neuer, verrückter Anruf werden würde. Doch dann schnellte sein Puls wieder in die Höhe und sofort ging er ran.
Wenn sie ihn anrief und das zu so einem Zeitpunkt, dann musste das etwas Gutes sein!

„Pfeiffer am Apparat?“, hielt er sich das schwere Telefon an sein Ohr.
„Copper hier“, kam es etwas dünn und mit leicht rauchigem Timbre von der anderen Seite, „Lange nichts mehr gehört, Chris.“
Sofort schoss dem Journalist das Bild der jungen Frau in den Kopf, die er vor einiger Zeit kennengelernt hatte und es fiel ihm leicht, sich ihr etwas zurückhaltendes Lächeln vor zu stellen.
„Schön von dir zu hören, Ash, aber warum rufst du an? Es ist etwas ungünstig im Moment und ich-“
„Ich habe das Video gesehen und weiß, dass du es online gestellt hast. Du gehörst nicht gerade in die Online-Redaktion.“
Pfeiffer lachte bitter und rau auf, „Wem sagst du das?“
Es war immer noch unfassbar, dass er Strafversetzt worden war, doch diese Tatsache war soweit in den Hintergrund gerutscht, dass dieser Ärger genauso schnell auch wieder verflog.
„Jedenfalls, ich weiß, warum die Opfer sich erschossen haben.“
Für einen Moment vergaß Pfeiffer das Atmen und es war so still im Wohnzimmer der Bergers, dass er deren Wanduhr ticken hören konnte.
„Warum?“, hauchte er schließlich atemlos.
„Triff mich gleich im Sunny’s, ich will dir jemanden vorstellen“, sagte die Frau am anderen Ende des Telefons nonchalant.
Kurz zögerte Pfeiffer. Hatte er die Zeit dafür?
Nein. Anders. Er brauchte Informationen bevor er in die Höhle des Löwen stolperte, ohne auch nur darauf vorbereitet zu sein. Also traf er eine Entscheidung.
„Okay“, machte er bestimmt und nickte entschlossen, „Ich fahr gleich los“, hob Pfeiffer seinen linken Arm und schaute auf seine silbern glänzende Rolex. Ein etwas hochwertigeres Imitat, das er in seiner Studenten Zeit aus dem Urlaub im Ausland mitgebracht hatte. Das Ding hatte ihn einen etwas längeren Aufenthalt beim Zoll beschert, als er damit zurückgekommen war. Sie zeigte ihm 15:43 Uhr an. „Bin in fünfzehn Minuten bei dir.“
„Bis gleich“, legte die Frau am anderen Telefon auf, womit er es vom Ohr nahm und das Handy nachdenklich anstarrte.
„Wer war das?“, hakte Herr Berger sorgenvoll und auch sichtbar kritisch nach.
Pfeiffer schenkte ihm ein trockenes Lächeln und er spürte, dass er dem Täter des ganzen nun näher kam. Was auch immer Ashley Copper für ihn hatte, könnte vielleicht einen signifikanten Hinweis auf das geben, was hier eigentlich vor ging und ihn damit einen Schritt näher an Marlenes Rettung bringen. Denn und das schwörte er sich, er würde wenigstens sie retten!
„Eine alte Bekannte, die selbst Journalistin auf einem anderen Gebiet ist, aber sie meinte, sie hätte vielleicht einen entscheidenden Hinweis. Ich bedanke mich für ihre Gastfreundschaft, aber ich werde Sie nun verlassen müssen, Herr und Frau Berger.“
Herr Berger zog die Brauen empor, „Meinen Sie nicht, wir sollten zusammen zu dieser Adresse fahren? Unser beider Namen stand darauf.“
Pfeiffer nickte, „Ich werde sie abholen kommen, wenn ich das hier erledigt habe. Es ist wichtig und wird helfen.“
Herr Berger dachte kurz darüber nach, ehe er nickte, „Ich werde mich selbst vorbereiten, tun Sie, was Sie tun können.“
„Das werde ich“, erwiderte Pfeiffer voller Entschlossenheit. Er würde die Puzzleteile zusammen fügen, herausfinden was hier vor sich ging und diesen Bastard dran kriegen und als Kirsche oben auf, würde er Marlene irgendwie retten. Ganz sicher!

~ * ~ * ~ * ~

Etwa zwanzig Minuten später saß Christian Pfeiffer einer kleinen Frau mit wilden, kupferfarbenen Locken auf dem Kopf gegenüber, die ihr bis zu ihrem rundlichen Kinn reichten und ihr Sommersprossiges Gesicht einrahmten. Sie kaute sich etwas nervös auf ihren vollen Lippen herum und hielt sich an einer Tasse Kaffee fest, der genauso schwarz war wie Pfeiffers Seele und so, wie er es selbst auch am liebsten mochte.
Neben ihr saß ein junger Mann, der genauso nervös mit seinen langen, schlanken Fingern spielte, dessen Nägel eingerissen und zerkaut waren. Silber gefärbtes Haar lag in einem dieser neumodischen, stylischen Sidecuts auf seinem Kopf und ein langes, schlankes, zimtfarbenes Gesicht mit leicht eingefallenen Wangen, tiefen Augenringen und spröden Lippen, blickte ihm unverwandt mit wachen, silbergrauen Augen entgegen. Wenn man Pfeiffer fragte, sah der Junge nicht besonders gesund aus, was ihn sich fragen ließ, was der Knabe mit alledem zu tun hatte.
„Das ist Said Hawkins“, verwies Ash auf den Mann neben ihr am einfachen Holztisch im Sunny‘s, als eine Kellnerin Christian den bestellten Kaffee brachte, den er gerade mehr als nur nötig hatte.
Das alles war eindeutig schlecht für seine Nerven und da kam ihm der Kaffee sehr zu gute. Vor allem da er in letzter Zeit einfach miserabel schlief. Immer wieder und wieder erlebte er die letzten Sekunden, in denen er um Maria’s Leben mit diesem Verrückten spielte und seinen Forderungen nach kam, nur um dann doch zu versagen.
Das Gefühl, sie vielleicht hätte retten zu können, nagte stark an seinem Herzen, doch er konnte es sich nicht leisten, daran zu zerbrechen. Noch nicht. Erst musste er zu Ende bringen, was ihm aufgezwungen worden war.
„Pfeiffer“, nickte Christian dem Mann zu, nachdem er wieder im hier und jetzt ankam und zog dann, an Ash gewandt, eine Braue empor, als seine Finger sich um den warmen Becher schlangen, „Also. Was hast du herausgefunden?“
Ashley Copper. Sie war eine freiberufliche Journalistin die sich besonders dadurch einen Namen gemacht hatte, dass sie maßgeblich dabei geholfen hatte, Beweise gegen die Drogenproduktion von Sparks innerhalb von Frankfurt und Umgebung beigesteuert zu haben. Pfeiffer hatte sie davor schon kennengelernt und dadurch die Möglichkeit gehabt, sie besser kennen zu lernen. Sie war eine seltsame Person, mit eigenartigen Eigenheiten und einem erstaunlichen Blick auf die Welt. Denn sie hielt ihre Umgebung mit ihrer Polaroid Kamera fest, die sie auch jetzt um ihren Hals trug. So wie sie es ihm einst erklärt hatte, besäße sie dadurch einen anderen Blick auf die Menschen um sich herum und fand Dinge, die vorher nicht aufgefallen wären. Wobei das Fotografieren sowohl ein Hobby, als auch ein Teil ihrer Berufung war. Pfeiffer verstand es nicht so ganz, aber er achtete ihre Arbeit und wusste, dass er sich auf ihre Recherchen würde verlassen können und genau darauf kam es an.
Ash schenkte ihm ein vages Lächeln, „Ich fand deinen Clip wie schon gesagt und sah es mir eher zufällig zusammen mit Said im Netz an. Dabei fiel ihm etwas in dem Video auf, dass mir ohne ihn wahrscheinlich entgangen wäre.“
„Was wäre das?“, hakte Pfeiffer mit einem kritischen Blick auf den Silberhaarigen nach, der ihn nur milde anlächelte. Eine leise Stimme in Pfeiffer stellte sich die Frage, in welcher Beziehung die beiden eigentlich zueinander standen? Ash schien sich bei ihm wohl zu fühlen, denn sie saßen recht dicht beieinander.
„Der Mann im Video war Drogen abhängig“, erklärte Hawkins ernst.
Pfeiffer blinzelte und starrte den jungen Mann irritiert an, bevor er vorsichtig fragte, „Wie kommst du darauf?“, vergaß er tatsächlich die höfliche Distanz.
„Das ist leider ziemlich einfach für mich zu erklären“, griff der Mann sich an seinen linken Ärmel und zog diesen zurück um Pfeiffer seine zerstochene Armbeuge zu zeigen, die einige Punktähnliche Narben aufwies. Einige Einstiche waren noch recht frisch.
„Ich bin selbst abhängig. Von einer recht neuartigen Droge, die mir gegen meinen Willen verabreicht wurde. Ihr Name ist Asche. Ich erkenne die Symptome auf fünf Meilen gegen den Wind und weiß, wie stark sie einen Beeinflusst. Sie macht bereits nach dem ersten Schuss sofort abhängig und knallt so hart, dass es jeden Entzug unmöglich macht. Dieser Typ, der sich erschossen hat… wenn ich meine Dosis nicht bekomme“, Said erschauderte sichtbar und schüttelte sich dann, als er unglücklich lächelte, „Sagen wir, ich würde alles dafür tun, nur um den nächsten Schuss zu bekommen. Das Zeug ist wirklich irre und Brand gefährlich.“
Ashley nickte und wirkte zu gleichen Teilen geknickt, betroffen als auch traurig, doch dann wandte sie sich wieder Pfeiffer zu, der langsam verstand, wie der Täter es geschafft hatte, dass der Mann und Maria sich selbst erschossen haben, obwohl sie gezittert und ganz offensichtlich Angst gehabt hatten. Ob er es wollte oder nicht, es würde tatsächlich Sinn ergeben, wenn es eine Droge gab, die einen so sehr verzweifeln ließ, dass man sich lieber selbst erschoss als die Entzugserscheinungen in Kauf zu nehmen.
Innerlich war er regelrecht erschüttert über diese neue Offenbarung. Was für ein krankes Schwein musste man sein, um andere Menschen Drogen abhängig zu machen und sie dann dazu zu zwingen, sich selbst zu erschießen? Für 10.000 Euro von denen Pfeiffer immer noch keine Ahnung hatte, warum ausgerechnet diese Summe oder wozu. Diese Summe war seltsam. Sie war nicht als zu hoch, aber immer noch zu viel Geld, als dass man diese als normal Verdiener einfach mal ebenso locker hatte. Was zum Teufel dachte sich der Täter dabei?
Er schüttelte den Kopf. Das brachte nichts und ließ ihn sich bloß im Kreis drehen. Konzentration. Damit hätte er ein Puzzleteil mehr aber… es passte nicht.
Nichts davon schien zu passen. Lediglich dass Pfeiffer zu jedem Opfer eine Verbindung trug. Maria als seine Frau. Marlene als seine Ex-Freundin und dadurch ebenfalls eine Verbindung zu den Bergers, wenngleich auch keine Direkte oder Persönliche.
Das waren vier der fünf Opfer und zwei davon waren tot. Abgesehen von ihm selbst. Irgendetwas fehlte ihm noch.
Den älteren Herren hatte er nicht gekannt und auch den Täter kannte er nicht. Oder?
„Schicke Rolex, ein Imitat?“, riss es Pfeiffer aus seinen Gedanken und er sah auf und in das neugierige Gesicht des Silberhaarigen. Als er nachgedacht hatte, hatte er sich die Nasenwurzel gerieben, wodurch sein Ärmel hoch gerutscht war und nun seine Uhr deutlich zeigte.
Er sah darauf und nickte, „Ich hab sie aus Thailand, als ich 2005 dort Urlaub gemacht habe. Damals war ich noch Student und es war mein erster richtiger Urlaub. Ich war mit meiner Ex-Freundin und einigen Mitstudenten dort.“
Mit Marlene um genau zu sein, die damals diese Reise für sie alle organisiert hatte.
„Oh“, machte Ash und nahm einen Schluck aus ihrem Becher, „Gab es in dem Sommer nicht diesen furchtbaren Unfall, der in den Medien eine knappe Woche solche Wellen geschlagen hat?“
Pfeiffer runzelte die Stirn, „Ein Unfall? Welchen Unfa-“, doch dann unterbrach er sich selbst.
Vage Erinnerungen an etwas stiegen in ihm empor.
Sie hatten eine Urlaubsreise nach Thailand gemacht. Mit einer Reise, die Marlene für sie organisiert hatte. Ein Roadtripp mit fünf weiteren Studenten ihres Jahrgangs um genau zu sein. Er musste es verdrängt haben aber es stimmte. Es hatte einen Unfall gegeben. Mit einem der Studenten. Er hatte die Reise abbrechen müssen, als er mit einem Motorrad einen Unfall gehabt hatte. Soweit Pfeiffer sich erinnerte und wusste, hatte sein Mitstudent zurück nach Deutschland überflogen werden müssen, da die Umstände eine Spezialklinik erfordert hatten. Tragisch, aber Pfeiffer hatte sich nicht weiter damit beschäftigt. Für ihn und die anderen war die Reise weiter gegangen. Wie hieß der Student noch gleich?
Michal irgendetwas… Ach verdammt! Wie war der Name noch?
„Chris?“, riss Ash ihn aus seinen Gedanken, die ihn besorgt ansah, „Alles in Ordnung? Du siehst blass aus.“
„Hm?“, machte er abgelenkt, ehe er leicht lächelte, „Ich hab mich nur eben daran erinnert. Du hast Recht, es gab einen Unfall als ich dort im Urlaub war. Einer unserer Mitstudenten hatte einen Motorrad Unfall und musste nach Deutschland überflogen werden. War wohl aufwendig. Jetzt versuche ich mich an seinen Namen zu erinnern. Michal irgendwas“, murmelte er und starrte in seinen dampfenden Kaffee, als könne dieser ihm die Antwort geben.
„Michal Wandermann. Er verstarb, weil er nicht überflogen werden konnte“, zog Ash eine Braue empor. Pfeiffers Brauen schossen in die Höhe.
„Wie bitte?“
Ashley nickte und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Said sah aufmerksam zwischen den beiden hin und her, als würde er einem Ballspiel folgen. „Das Reisebüro hat bei der Überführung mit der Krankenkasse des Patienten keine Einigung gefunden, wer nun die Kosten dafür tragen muss. Deswegen schlug es ja solche Wellen und bevor etwas passieren konnte, verstarb der Patient. Es gab große Kritik deswegen, aber die wurde nach knapp einer Woche schon wieder unter den Teppich gekehrt und es interessierte sich niemand mehr dafür. Tragisch. Das hätte verhindert werden können. Das ganze wegen rund 10.000 Euro.“
Pfeiffer stockte und riss quasi die Augen auf.
10.000 Euro. Die Krankenkasse des Patienten und das Reisebüro konnten sich nicht einigen, wer das Geld zahlen sollte und deshalb konnte niemand helfen?
Sein Herz setzte aus, als ihm etwas anderes in den Sinn schoss.
2005. Das Jahr in welchem sie in Thailand gewesen waren.
20:05 Uhr. Er hatte sich schon gewundert, warum die Uhrzeit so seltsam war, doch wenn er aus der Uhrzeit eine Jahreszahl machte dann… Konnte es sein?
„Ash“, sagte er mit bebender Stimme, „H-hatte Michal Familie?“
Die Rothaarige musterte ihn einen Augenblick lang, ehe sie langsam nickte, „Ein großen Bruder.“

»Wir hätten die Polizei verständigen sollen«, begann Berger.
»Nein!«, sagte Pfeiffer grimmig. »Sie haben doch gelesen, was in dem Brief stand. Der Täter fackelt nicht lange, wenn man sich nicht an seine Anweisungen hält.«
Er trat das Gaspedal seines Mercedes durch und jagte über die holprige Autobahn. Dabei kam er gefährlich nahe an die Betonabsperrung einer Baustelle. Er hatte den Unbekannten einmal unterschätzt. Ein zweites Mal würde es nicht geben.
Berger klammerte sich an den Türgriff. »Wenn Sie weiter so fahren, kommt die Polizei von allein.«
Der Flughafen lag hinter ihnen und Pfeiffer steuerte den Wagen in Richtung Industriegebiet. Er drängte an den anderen Autos vorbei, die Abfahrt zur Bundesstraße hinunter. Der Berufsverkehr hatte sich aufgelöst, sodass sie zügig vorankamen. Dennoch rann die Zeit davon. Die Frist war fast verstrichen. Der Unbekannte hatte alles genau geplant.
Sollten sie etwa zu spät kommen, fuhr es Pfeiffer durch den Kopf. Wollte er ihnen die Schuld für ein weiteres ausgelöschtes Leben aufbürden? Diesmal nicht, dachte er grimmig.
»Sie haben mir gar nicht erzählt, woher sie Marlene kennen«, sagte er, mehr um sich abzulenken.
»Wenn Sie es so sagen, klingt es schon übertrieben«, antwortete Berger und sah dabei aus dem Seitenfenster. »Es ist jetzt über ein Jahr her, als ich mein Glück mit Aktien versucht habe. Es endete in einem Desaster. Anfängerfehler. Bin nur knapp mit einem blauen Auge davon gekommen. Es war Marlene, die mich und die anderen Anleger für die Firma begeistert hatte, mit ihren professionellen und überzeugenden Präsentationen. Es schien alles perfekt – zu gut.«
»Fühlten Sie sich von ihr betrogen?«, hakte Pfeiffer nach.
»Nein. Sie müssen wissen, sie hatte selbst ihr ganzes Geld dort investiert – und verloren. Das Schlimmste war, man hat ihr vorgeworfen, uns bewusst getäuscht zu haben. Ich hab das nie geglaubt. Und woher kennen Sie Marlene?«
Obwohl er die Frage erwartet hatte, erfasste ihn eine schmerzhafte Welle der Erinnerung.
»Ich fürchte, wir haben einen Beitrag zu ihrem Verlust geleistet. Nach einem Tipp hat unsere Redaktion die Geschäfte der Firma genauer unter die Lupe genommen. Vor allem Maria und ich haben damals ermittelt und den Betrug aufgedeckt.«
»Bin fast vom Stuhl gefallen, als ich eines Morgens die Schlagzeile in der Zeitung gesehen habe«, ergänzte Berger. »Es war besser so. Sonst hätte ich weiter dort investiert.«
»Falls Sie sich wundern, warum Sie bisher nichts von mir wussten, kann ich Ihnen Folgendes sagen: Als die Story in trockenen Tüchern war, hat unser Redakteur sich diese unter den Nagel gerissen und wir waren außen vor. Es gab einen großen Streit, mit dem Ergebnis, dass Magnus, der Chefredakteur, uns in die Onlineredaktion verbannt hat.«
»Verstehe«, meinte Berger. »Am Ende ist sich jeder selbst am nächsten.«
»Aber eines kann ich bestätigen: Marlene hatte nichts mit dem Betrug zu tun. Das hat der Redakteur damals anders gesehen und sie zum Mastermind gemacht.«
»Jetzt wird mir einiges klar. Den Teil der Geschichte habe ich nie verstanden. Arme Marlene. Sie hat alles verloren und ihr Ruf war ruiniert.«
»Wir hätten damals mehr tun können, um sie zu entlasten.«
Berger sah ihn ernst an. »Dann müssen wir jetzt alles tun, um sie zu retten.«
Pfeiffer nickte und bog von der Bundesstraße ab. Das Industriegebiet erwies sich als Labyrinth schmutziger Straßen, großer Fabriken und Lagerhallen. Zu beiden Seiten parkten Kastenwagen und Lkws mit langen Anhängern. Ein paar Mal musste er scharf bremsen, um nicht die verdeckte Querstraße zu verpassen, in die ihn das Navigationssystem lotste.
Es war etwa 20:00 Uhr, als er auf die Zufahrt zu einer Fabrik bog. Sie stiegen aus, traten an das, mit einer schweren Kette gesicherte, Tor und sahen zu dem Gebäude. Es schien sie aus dunkelen, leeren Fenstern anzublicken. Das Erdgeschoss war komplett mit Brettern vernagelt. Über das Dach ragte eine Reihe Silos, an denen der Rost nagte.
»Verlassen, wie es aussieht«, schloss Berger. »Verstehe ich nicht.«
»Wieso? Das ist der perfekte Ort«, meinte Pfeiffer unbeeindruckt. »Wenn Sie jemand entführen und festhalten, wollen Sie ja nicht, dass eben mal die Spätschicht anrückt.«
Berger rüttelte am Tor. »Fest verschlossen. Glauben Sie, der Kerl beobachtet uns gerade? Wie viel Zeit haben wir noch?«
»Darauf können Sie wetten. Und was die Zeit angeht, nicht genug, fürchte ich. Treten Sie mal zur Seite.«
Pfeiffer eilte in seinen Wagen und fuhr an, ohne sich anzuschnallen. Durch das Fenster sah er Bergers entsetztes Gesicht. Der Aufprall war heftiger, als er erwartet hatte. Er brauchte zwei Anläufe, bis die Kette nachgab und das Tor mit lautem Krachen umstürzte.
Er ließ den Wagen stehen und stakste über die Trümmer. Berger folgte ihm. Sie überquerten den mit Sand und Schutt bedeckten Innenhof. Pfeiffer rüttelte an der Eingangstür. Abgesperrt.
»Sehen Sie mal! Kommt Ihnen der Name nicht bekannt vor?«, rief er, als sein Blick auf das verdreckte Firmenschild fiel.
»Das ist doch die Firma, die …«, keuchte Berger. »Was hat das zu bedeuten?«
»Keine Ahnung. Das wird sich zeigen. Es ist fast so weit«, sagte Pfeiffer, nach einem besorgten Blick auf seine Uhr. »Marlene wird nicht da drin sein. Erinnern Sie sich? In dem Video lag sie in einer Art Grube. Ich glaube, das war unter freiem Himmel.«
Sie gingen den Trakt entlang, vorbei an Kisten, Paletten und rostigen Fahrzeugteilen, bis sie einen Durchgang erreichten. Im Schatten der Silos breitete sich vor ihnen ein großer Hof aus. Gefüllt mit Maschinen, die längst auf den Schrott gehörten.
Plötzlich erklang das hämmernde Rattern eines Motors. Er quietschte und krachte, als hätte er seit Jahren stillgestanden. Dennoch erfüllte er seine Aufgabe. Sie hörten das Geräusch von spritzendem Wasser.
»Da!«, rief Berger.
Verborgen hinter Stapeln von Kisten und Containern erstrahlte ein grelles Licht. Das musste ihr Ziel sein. Pfeiffer brauchte seine Uhr nicht, um zu wissen, dass es genau fünf Minuten nach acht war.
Beide rannten los. Versuchten sich zwischen dem abgestellten Müll hindurchzuzwängen ohne zu stolpern. Immer wieder traten sie auf herumliegende Metallteile, zerbrochene Flaschen und Holzstücke. Nachdem sie sich durch den schmalen Spalt zweier Frachtcontainer gezwängt hatten, standen sie vor einer Grube mit Wänden aus Beton. Sie erkannten diese sofort aus dem Video. Aus einem gelben Schlauch, in den ein ganzer Mann gepasst hätte, ergoss sich braunes Wasser hinein. Er führte zu einer Pumpe und von dort weiter durch eine Lücke im Zaun, die den Blick auf den breiten Main freigab.
Sie näherten sich dem Rand der Grube.
»Marlene!«, riefen sie gleichzeitig, als sie die Gestalt am Grund liegen sahen.
Sie lag gekrümmt auf der Seite, halb in den Fluten versunken, und rührte sich nicht. Hatte sie durch die Anstrengung das Bewusstsein verloren?
»Ich klettere hinein und hebe ihren Kopf aus dem Wasser«, schrie Pfeiffer über den Lärm hinweg. »Schalten Sie das Ding da aus! Den Rest überlegen wir uns später.«
»Ja«, rief Berger und rannte zu der Maschine.
Da es keinen Abgang gab, blieb Pfeiffer nichts anderes übrig, als sich mit den Beinen voran vom Rand zu hangeln. Er hielt sich so lange fest, bis der Sturz nicht mehr zu tief war. Das hoffte er zumindest.
Durch den Aufprall verlor er das Gleichgewicht und stürzte in das trübe Flusswasser. Die Schmerzen in Armen und Beinen ignorierend rappelte er sich wieder auf und lief zu der Gestalt in der Mitte der Grube. Er packte Marlene an den Schultern und zog sie hoch.
Da bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Marlene war vollkommen steif. Dafür leichter als er erwartet hatte. Er drehte sie um und schreckte zurück. Der Oberkörper kippte ins Wasser. Fassungslos blickte er in die seelenlosen Augen einer Schaufensterpuppe. Das achtlos angebrachte Panzertape löste sich von dem rot bemalten Mund, sodass es schien, als lächele sie ihn hinterhältig an.
Eine dröhnende Stille breitete sich aus, als die Pumpen verstummten und die Gischt aus dem Schlauch zu einem Rinnsal verkümmerte.
»Wie geht es Marlene?«, hörte er Bergers Stimme aus weiter Ferne. »Oh? Was?«
Pfeiffers Gedanken rasten. Sie waren hereingelegt worden. Was hatte das zu bedeuten? War das eine Falle für sie? Würde hier gleich alles in die Luft fliegen? Warum wollte man sie sonst hier haben? Das ergab doch keinen Sinn. Außer …
Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht. Er sah zu Berger, der wie erstarrt am Rand der Grube stand.
»Sagten Sie nicht vorhin, Sie hätten zehntausend Euro in ihrem Safe zu Hause?«

Pfeiffer und Berger zuckten zusammen, und Bergers Frau entfuhr ein Schrei, als der Vogel aus der Uhr schnellte und in schriller Tonlage gu-kuh … gu-kuh … gu-kuh rief.
»Wer ist diese Marlene?«, fragte Dorothea, ihre Hand auf der Brust.
Die Männer saßen schweigend da. Ihre Blicke verloren. Pfeiffer bog die Krempe seines Fedoras. Ein Filzhut aus Bologna, von einem Stand, mitten in der Innenstadt, auf der Piazza Maggiore, an dem ein hochgewachsener – doch recht üppiger – Italiener seine Handarbeit verkaufte. Eigentlich hatte er ihn sich nur zum Spaß auf den Kopf gesetzt, um sie zum Lachen zu bringen, aber sie bestand drauf, dass er ihn als Erinnerung mitnahm. Maria kaufte zwei Chrysanthemen. Eine steckte sie an den Hut, die andere in ihr braunes Haar.
»Richard, kannst du mir erklären, wer diese Frau ist? Woher kennst du Sie? Woher kennt ihr beide Sie?«
Berger verlor auf dem cremeweißen Ledersofa im Minutentakt an Größe. Er rutschte bis an die Kante, bevor er sich aufrichtete. Das Ticken der Uhr pochte in den Ohren.
»Marlene Grindel«, sagte Pfeiffer, »war die Leiterin des Kinderheims in der Karl-Marx-Straße.«
Berger trank einen Schluck, er wischte mit dem Handrücken sein Kinn.
Pfeiffer sah in ihrem Blick, dass sie sich damit nicht abspeisen lassen würde. Er sagte: »Meine Eltern haben mich mit zwei Jahren dort abgegeben. Sie hat mir alles beigebracht; hat mich großgezogen. Ohne sie wäre ich ein Niemand.«
Die Absätze der Anzugschuhe klackten auf dem Parkett. Die Schuhe glänzten.
»Warst du auch in diesem Heim?«
»Ich …«, sagte Berger.
»Du hast mir erzählt, deine Eltern sind früh gestorben.«
»Das sind sie auch«, sagte er, »zumindest für mich. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Marlene, ist meine Mutter. Vielleicht nicht meine Leibliche, aber die meines Herzens. Gott hat sie mir geschickt.«
Dorotheas Adamsapfel machte einen Satz. Sie setzte sich neben Christian Pfeiffer, der seinen Hut aufsetzte. Er zog den Fedora tief in die Stirn.
Pfeiffer bedankte sich für den Kaffee, von dem er nur genippt hatte. Selbst einfacher Kaffee konnte durchaus furchtbar schmecken. Dieser war viel zu dünn.
»Aber wo wollen sie hin?« Berger stützte sich am Tisch.
»Sie müssen die Polizei verständigen«, sagte Dorothea.
»Bist du wahnsinnig«, sagte ihr Mann. »Keine Polizei, was ist daran so unverständlich?«
»Was, wenn das Ganze eine Falle ist?«
»Es ist eine Falle«, sagte Pfeiffer, »und ich werde der Fuchs sein, der sie überlistet.«
»Sie haben gerade erst ihre Frau verloren«, sagte Berger. »Sie müssen einen klaren Kopf bewahren. Sie sind doch Journalist. Ich meine, Journalisten versuchen doch, etwas Wahrheit ans Licht zu bringen oder etwa nicht? Sie fahren rum und befragen Leute, und sie geben die Hinweise an die Polizei, ist dem nicht so? Aber sie fahren doch nicht einfach selbst los wie ein Revolverheld.«
»Nicht wie ein Revolverheld, da gebe ich Ihnen recht, aber wie jemand, der jemanden etwas schuldet. Wo wäre ich ohne Marlene? Was sind sie bereit für jemanden zu geben, der alles für sie gegeben hat?«, sagte er.
»Das alles hier – Pfeiffer nickte zur Decke – haben sie auch ihr zu verdanken.«
Berger wusste, dass er recht hatte. Marlene hatte ihn aufgezogen wie ihren eigenen Sohn. So, wie sie all die Kinder aufgezogen hatte, die je in ihrer Obhut gelandet waren. Sie pflegte stets zu sagen, dass sie viele Töchter und Söhne habe. Sie war Mutter, Lehrerin und Behüterin zugleich. Aus Bergers Sicht war sie eine Heilige.
»Warten sie kurz«, sagte er.
»Aber wo gehst du …« Dorothea sah ihm nach.
»Du bleibst hier«, sagte er im Vorbeigehen.
Sie blieb mit verdrehtem Hals sitzen.
Als Berger zurück aus dem Keller kam und die Tür schloss, sagte er zu Pfeiffer: »Wir sind spät dran.«
Pfeiffer sah, dass es Viertel vor acht war. Ihnen blieben zwanzig Minuten, um Marlene zu retten.
»Was hast du in der Tasche«, fragte sie.
»Gehen sie schon vor. Ich bin gleich bei Ihnen.«
Pfeiffer verabschiedete sich bei Bergers Frau und verließ das Haus. Auf den Platten sah er noch blass die Umrisse des Toten.
Er schaute Dorothea in die Augen, sah, dass sie Angst hatte. Er griff ihre Hände. Dann küsste er sie und sagte ihr, dass er sie liebe.
Er packte den Koffer und trat aus dem Haus. Dorothea riss ihn zurück. »Ich warte auf dich«, sagte sie, sie wischte eine Träne. »Pass auf dich auf.«
»Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, ruf die Polizei. Gib Ihnen die Adresse, und den USB-Stick. Erzähl denen alles, was du weißt.«

Es war längst dunkel. Der Regen zog von Westen her über die Straße. Laub hatte sich an den Verkehrsinseln zu Haufen gesammelt. In einem suchte ein Igel Schutz.
»Sie waren der Junge mit dem blauen Halstuch nicht wahr?«, sagte er zu Pfeiffer.
»Ja.«
»Ich kann sie wieder sehen.«
Das Auto bog ab. Pfeiffer beugte sich über das Lenkrad, seine Nase kam fast an die Windschutzscheibe.
»Mich haben alle Blondschopf genannt. Erinnern Sie sich?«
»Der Blondschopf, der einmal eine ganze Nacht ausgerissen war?«
Berger schnaubte. »Ja, genau der.«
In der Ferne ragten Gebäude auf: Stahlkonstrukte, alt und rostig. Manche Bauten waren aus Stein. Das Industriegebiet lag zum Großteil brach, die Firmen waren längst weg. Und hinter den Gebäuden verliefen Bahngleise, die genauso alt und rostig waren wie die Gebäude, die aber hin und wieder noch genutzt wurden.
»Wir hatten Glück mit Marlene«, sagte Berger. »Ich habe Leute kennengelernt – in der Kirche – aus anderen Heimen, die haben die Hölle durchgemacht.«
Pfeiffer schwieg, er suchte die Adresse. Die Scheibenwischer machten ihn verrückt. Er stellte sie aus. Doch dann nahm der Regen ihm die Sicht.
Berger zog einen Koffer aus der Tasche und legte ihn in den Schoß. Er drehte das Radio lauter und summte zu Johnny Cash mit seinem Folsom Prison Blues.

When I was just a baby my mama told me, „Son
Always be a good boy, don’t ever play with guns“

Der Verschluss knackte beim Öffnen.
»Da vorne! Das muss es sein«,sagte Pfeiffer.
Er bremste vor einer Halle, deren Fassade beschmiert war: in die Höhe gereckte Fäuste, Euro und Dollarzeichen (mit Sprühfarbe entwertet) und viele Kreuze mit Initialen darunter. Ihm schauderte es beim Anblick der Waffe. Jemand wie Berger, sollte keine Pistole mit sich tragen, fand er.
»Was haben Sie damit vor?«
Berger wog die SIG Sauer in der Hand, als schätzte er ihr Gewicht, und sang …

But I shot a man in Frankfurt just to watch him die
When I hear that whistle blowing, I hang my head and cry …

Die Tür war verschlossen. Sie schien durch hunderte Sticker verbarrikadiert. Klebende Propaganda wie Antiamerikanismus oder Systemsturz 3.0, Tod dem Kapital oder Engelszungen LÜGEN!
»Da, durch das Fenster«, sagte Pfeiffer.
Er schaute auf seine Uhr. Ihnen blieben fünf Minuten. In seinem Kopf hörte er gu-kuh … gu-kuh …
Sie kletterten hinein, passten auf, dass sie sich nicht am Glas schnitten. Pfeiffer half Berger, der um Gleichgewicht rang, durch die Öffnung. Sein Bauch hing schwer.
Drinnen roch es modrig. Die Luft war klamm, hier und da regnete es durch das Dach.
»Hören Sie das auch?«, sagte Berger.
»Da ist jemand.« Ein Wimmern zog um die Mauern.
Pfeiffer stellte den Kragen seines Mantels auf. »Nur langsam!«, sagte er.
Er spähte um die Türzarge, schüttelte den Kopf. Berger hielt seine linke Hand auf dem Rücken. Pfeiffer fragte sich, ob Berger im Ernstfall den Abzug drücken würde; den Mumm dazu hätte. Er glaubte nicht dran.
Er trat in eine Pfütze und ein plitsch klang durch die Stille. Von da an quietschte jeder Schritt wie ein trockenes Scharnier.
»Hier muss es sein …« Er stoppte Berger. »Sehen Sie was?«
Berger schüttelte den Kopf. Auch er sah die Mauer nur schemenhaft. Sie stand wie eine Trennwand in der Mitte des Raumes.
Dann stöhnte jemand auf.
»Marlene!«, entfuhr es Berger, »sie ist hier.«
»Sie ist hinter der Mauer«, sagte Pfeiffer. »Schnell jetzt!« Die lumineszierenden Zeiger seiner Uhr zeigten, dass ihnen eine Minute blieb.
»Hier, nehmen Sie sie.« Berger reichte Pfeiffer die Pistole.
Pfeiffer hob die Hände. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Waffe gehalten und würde es auch jetzt nicht.
Mit jedem Schritt verdunkelte sich der Raum.
»Marlene …«, sagte Berger, »wir sind hier.«
»Seien Sie ruhig, und lassen sie den Eingang nicht aus den Augen.«
Das Stöhnen wurde zu einem Röcheln.
Sie standen mit dem Rücken an der Mauer. »Sie gehen von dort rum«, Pfeiffer zeigte zum einen Ende der Mauer, »ich von hier.« Beide warfen sich einen letzten Blick zu.
Dann standen sie sich gegenüber und zwischen ihnen kauerte jemand auf dem Boden. Sie sahen den Kopf und die Haare.
»Marlene«, sagte Berger, »bleib ruhig. Wir helfen dir.«
Doch es war nicht Marlene, die dort lag. Ein Mann sprang samt Schlafsack auf und schrie: »Das ist mein Platz! Verpisst euch, ihr dreckigen Kapitalisten! Ihr Dreckschweine! Wegen euch geht die Welt zu Grunde. Raus hier!«
Pfeiffer schlug seine Schläfe an der Mauer. Dann folgte ein ohrenbetäubender Knall, es blitzte, und er taumelte umher. Berger saß auf dem Boden, die Waffe lag vor ihm.
Der Schlafsack sank in sich zusammen. Aus der Hand des Mannes fiel etwas zwischen Pfeiffers Füße. Er hob es auf. Es war ein Diktiergerät.
Der Audiorecorder piepte – das rote Lämpchen blinkte – und spielte eine Aufnahme ab. Die Stimme war ihnen längst vertraut.
»Ihr habt versagt. Die Zeit ist abgelaufen. Die Welt spielt nicht mehr nach euren Regeln. Ihr seid zu spät. Ihr seit immer einen Tag zu spät. Alles beginnt an einem Tag, der vor einem liegt, ist dem nicht so? Dem, der alles verändert. Doch erst wenn man zurückgeht und gräbt, findet man die Wahrheit. Doch eure Arroganz verbietet es euch. Wie lange noch? Es gibt Zeichen.«
Sie hörten die Schienen quietschen, der Boden vibrierte, und den Zug hinter der Halle bremsen. In einem Abteil brannte Licht. Marlene saß dort gefesselt, über dem Mund Panzertape. Eine Gestalt schritt durch den Wagon. Sie war groß, denn Pfeiffer konnte den Kopf nicht sehen. Sie war dort drinnen, mit einem kopflosen Irren.
»Das ist eure letzte Chance sie zu retten«, sagte die Stimme. »Doch nur einer von euch kann sein Ticket lösen. Ihr entscheidet, wer. Der Preis für das Ticket ist der Tod des anderen.«
Marlene lehnte an der Scheibe – sie war mit Blut beschmiert. Als sie Pfeiffer sah, schüttelte sie heftig den Kopf. Ihre Augen traten aus den Höhlen. Die Gestalt setzte sich ihr gegenüber und schaute zu Pfeiffer, der erstarrte, als er in ein Gesicht blickte, welches er nur allzu gern vergessen hätte. Doch es war zu angsteinflößend, um von alleine zu verschwinden. Herrgott, sie waren Kinder!
»Das ist …«, sagte Pfeiffer, und als er sich drehte, starrte er direkt in die Mündung von Bergers Waffe …

Pfeiffer hätte am liebsten den Kopf gegen das Lenkrad geschlagen. Immer und immer wieder, bis er das Selbstmitleid von Herrn Berger nicht mehr hören müsste. Seit einer halben Stunde saßen sie im Auto und fuhren durch den zähflüssigen Verkehr in Richtung Industriegebiet. Seit Berger nicht mehr für seine Frau stark sein musste, heulte er in einem Fort, welch große Angst er um seine Tochter Marlene hatte. Pfeiffer konnte es langsam nicht mehr ertragen.
Es war ja nicht so, dass Pfeiffer sich keine Sorgen um Marlene machte. Herrje, natürlich machte er sich Sorgen. Sie war immerhin jahrelang seine Kamerafrau und eine gute Freundin gewesen. Allerdings hatte er nicht gewusst, dass seine Marlene Krämer eine gebürtige Berger war. Und im Gegensatz zu Berger ergab er sich nicht dem Selbstmitleid. Seit er das Video von der gefesselten Marlene gesehen hatte, war er von einer eiskalten Ruhe erfüllt. Er hatte sich geschworen, nicht noch eine gute Freundin an den Wahnsinnigen zu verlieren, der anscheinend einen persönlichen Rachefeldzug gegen ihn unternahm.
Ihm stellte sich vor allem die Frage, wieso Marlene in diese ganze Geschichte hineingezogen war. Er hatte Berger danach gefragt, aber nichts aus ihm herausbekommen können.
Nach einer weiteren unendlich langen Fahrt im Berufsverkehr konnte Berger endlich den Blinker nach rechts setzen und dem Stadtchaos entfliehen. Er fuhr nun über knirschenden Kies, in der Ferne sah er bereits die riesigen Schornsteine der Industrie aufragen.
Allerdings bog er schon vorher nach links ab, schlängelte sich durch einige Querstraßen, bis er schließlich die angegebene Adresse erreicht hatte. Es war eine Sackgasse, aus der es kein Entkommen mehr gab, wenn der Zugang versperrt würde.
Pfeiffer griff gerade nach dem Türgriff, um auszusteigen, als Berger schluchzte: „Warten Sie! Was, wenn dieser Irre uns einfach beide abknallt?“
„Ich für meinen Teil habe nichts mehr zu verlieren“, sagte Pfeiffer kühl. „Aber abgesehen davon halte ich das ohnehin nicht für wahrscheinlich. Wenn er uns töten wollte, hätte er das schon längst tun können. Und jetzt kommen Sie!“
Berger blieb wie festgewurzelt sitzen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Heftige Schluchzer erschütterten die schmächtigen Schultern. Mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme knurrte Pfeiffer: „Jetzt stehen Sie verdammt nochmal auf und reißen sich zusammen, oder wollen Sie, dass wegen Ihnen noch ein Mensch stirbt?“
Berger zucke zusammen, griff zitternd nach dem Türgriff und überwand sich schlussendlich, das verhältnismäßig sichere Auto zu verlassen.
Unsicher liefen die beiden auf eine große Lagerhalle zu, die wohl der Treffpunkt war. Nirgendwo war jemand zu sehen. Eine unnatürliche Stille lag über dem Industriegebiet. Beinahe rechnete Pfeiffer damit, dass sie jeden Moment von Schreien zerrissen wurde.
Inzwischen liefen die Männer Schulter an Schulter, ohne dass sie es abgesprochen hätten. Beide brauchten die Gewissheit, dass sie nicht alleine waren. Endlich betraten sie die Halle durch eine große Tür.
Tiefschwarze Finsternis umfing sie. Pfeiffer suchte sein Handy und schaltete die Taschenlampe an.
Er ließ den Lichtkegel erst über leere Paletten schweifen, erhaschte dann einen Blick auf mehrere Mäuse, die davonstoben. Dann leuchtete er die Wände ab. Erst dachte er, die Wände wären tapeziert, doch dann erkannte er, dass irgendjemand überall Blätter hingehängt hatte. Die ganze Lagerhalle war vollgehängt.
Berger trat zitternd einen Schritt näher auf die Wand zu. Auf einmal schrie er markerschütternd und Pfeiffer fuhr herum. Berger war vor der Wand zusammengesunken, in einer Hand hielt er ein Blatt, dass er wohl von der Wand abgerissen hatte. Er schrie nicht mehr, aber wimmerte und stöhnte.
Pfeiffer, der dachte, Berger wäre verletzt, stürzte zu ihm und kniete sich neben ihn. „Verdammt, Berger, was ist mit Ihnen? So reden Sie doch mit mir!“
Berger schluchzte und versuchte gleichzeitig, sich zu erklären: „Hier… Sehen sie nur! Der- Der Wahnsinnige ist zurück!“
Er drückte Pfeiffer ungeschickt das Blatt in die Hand, wobei es beinahe in der Mitte zerrissen wäre. Bei genauerem Hinsehen erkannte Pfeiffer nun einen Zeitungsartikel. Die Überschrift lautete: „Urlaub nahm tödliches Ende-Flugzeugabsturz über dem Nordadlantik!“
Pfeiffer sah das Jahr und erstarrte. Heute vor genau zehn Jahren war das Unglück geschehen! Er hob seinen Blick, leuchtete die anderen Blätter an der Wand an. Überall Artikel, die über ein und dasselbe Ereignis berichteten. Der Flugzeugabsturz über dem Nordadlantik. Mitten drin entdeckte er ein Foto. Ein Mann und eine Frau, die Arme um die Schultern gelegt, strahlten glücklich und beinahe frisch verliebt in die Kamera.
Pfeiffer kniff die Augen zusammen, versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln. Aber so sehr er sich auch bemühte, er sah wieder den verzweifelten jungen Mann vor sich am Schreibtisch sitzen. Beinahe noch ein Junge war er gewesen. Er hatte ihn angefleht: „Herr Pfeiffer, dieses Reisebüro Berger hat meine Eltern auf dem Gewissen. Nur wegen dem Büro haben meine Eltern den billigeren Flug genommen und sind abgestürzt! Schreiben sie einen Artikel, enttarnen sie Berger, zerreissen sie ihn in der Luft!“
„Scheiße!“, entfuhr es Pfeiffer. Sein Blick wanderte zu Berger, der auf dem Boden kauerte und sich leicht von rechts nach links wiegte, wie um sich zu beruhigen. Seine Schultern wurden von heftigen Schluchzern geschüttelt.
Pfeiffer musste daran denken, wie er den unglücklichen Sohn vor die Tür gesetzt hatte. Er hatte ihm freundlich, aber bestimmt erklärt, er würde keinen Rufmord begehen. Für ihn war die Sache damit abgeschlossen gewesen. Anscheinend nicht für den Sohn.
Er starrte Berger an und murmelte: „Der Flugzeugabsturz. Er verbindet uns! Jemand will sich an uns beiden rächen!“
Berger schrie hysterisch: „Ich- Ich konnte nichts dafür! Niemand konnte das ahnen! Es- Es war eine ganz normale Reise!“
„Für Sie vielleicht!“, sagte plötzlich ein Mann, der wie aus dem Nichts aus den Schatten trat. „Für mich war es der Anfang eines Lebens ohne Eltern. Und Sie sind schuld!“

„Meine Nachbarin! Woher kennen Sie Marlene?“ Pfeiffer fand als erster die Sprache wieder und musterte prüfend Herrn Berger, der ungläubig die Hand vor den Mund geschlagen hatte und ihn noch immer aus großen Augen anstarrte. Gleichzeitig wirkte er, als wäre ihm plötzlich etwas Wichtiges eingefallen, dessen er sich zuvor nicht bewusst war. Ein gestammeltes „Nein!“, unterstrich diesen Eindruck.
„Marlene hat für mich gearbeitet. Sie war meine Buchhalterin.“ Bergers Finger wühlten entsetzt in seinem angegrauten Haar. Kopfschüttelnd fuhr er fort: „Ich musste ihr kündigen. Sie wissen schon, diese ärgerliche Virus-Krise. Meine Firma stand für eineinhalb Jahre komplett still. Im Gegensatz zu Ihrer Branche, für die es ja ein gefundenes Fressen war.“
„Aber es gab doch Überbrückungskredite. Kurzarbeit…“ Der Journalist fragte nicht weiter, als Berger genervt die Augen nach oben rollte. Stattdessen zog er sein Telefon aus der Gesäßtasche seiner Hose und überprüfte die Uhrzeit. „Uns bleiben drei Stunden. Sie sollten mir also so schnell wie möglich alles erzählen. Warum hat dieser Verrückte Marlene gekidnappt?“
Seufzend setzte sich der Reisebüro-Inhaber und erklärte in knappen Worten, wie er Anfang 2020 eine beträchtliche Summe in Aktien einer renommierten Airline investiert hatte. „Das Geld war von einem Tag zum nächsten futsch.“
Seine Frau legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Damals ist einfach alles auf ein Mal schief gelaufen“, bekräftigte sie die Worte ihres Mannes. „Richard hatte Angst, die Firma könnte pleite gehen. Wir hängen mit unserem Privatvermögen, mit diesem Haus, da drin“, klärte sie Pfeiffer auf.
„Es war unfair von mir, ausgerechnet Marlene zu kündigen. Sie hätte ein paar Monate später ihr 30-jähriges Firmenjubiläum gefeiert, einschließlich Anspruch auf zusätzliches Jubiläumsgeld von drei Monatsgehältern.“
Pfeiffer machte seinem Namen ehre und entließ geräuschvoll Luft durch die Zähne. „Mann könnte annehmen, Marlene ist nicht gerade gut auf sie zu sprechen.“
Beschämt presste sein Gegenüber die Lippen aufeinander.
„Was uns aber keinen deut weiterhilft. Immerhin ist sie offensichtlich selbst ein Opfer dieses Irren. Wir müssen verhindern, dass Marlene sich etwas antut.“
„Ich sehe das genauso. Allerdings muss ich gestehen, dass ich am eigenen Leben hänge. Ich fühle mich äußerst unwohl bei dem Gedanken, mich ohne Rückendeckung durch die Polizei zu dieser Adresse locken zu lassen.“
„Besitzen Sie eine Waffe, Herr Berger?“
„Natürlich nicht! Man kann mich einen Geizhals und Kapitalisten schimpfen, aber Gott weiß, ich könnte keiner Fliege etwas zu leide tun.“
„Gut. Ich muss Ihnen jetzt erzählen, warum ich eigentlich zu Ihnen gekommen bin.“
„Ich dachte, Sie wollten sich entschuldigen, dieses Video hochgeladen zu haben.“
„Sie wissen, ich wurde erpresst. Trotzdem, natürlich, es tut mir aufrichtig leid. Die Sicherheitsalgorithmen der meisten Social Media Plattformen sollten es inzwischen getilgt haben. Wahrscheinlich kursiert es noch auf einzelnen Darkweb-Servern. Es sind einige Tage vergangen und die Schnelllebigkeit unserer Zeit mit ihrer Informationsflut trägt das ihrige bei. Es wird in Vergessenheit geraten, wie das Verschwinden eines vollbesetzten Flugzeugs, wie die Hintergründe vor einem Kriegsausbruchs, wie die Zerstörung des World Trade Centers in New York.“
Berger runzelte verwirrt ob des Themenwechsels die Stirn. „Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“
„Es tut mir leid. Seit einer Woche recherchiere ich die psychologischen Hintergründe von Gewalttaten. Was treibt unschuldige Menschen dazu, Verbrechen zu begehen? Sie haben doch der ermittelnden Kommissarin gegenüber erwähnt, dass der Mann, der sich vor Ihrer Haustüre das Leben genommen hat, irgendwie ferngesteuert wirkte? Was wenn er gar nicht bewusst gehandelt hat?“
Unruhig wechselte das Ehepaar Berger Blicke. „Sie sprechen von Hypnose?“ Dorothea Berger hatte eins und eins zusammengezählt. „Wir haben in diversen Ferienclubs solche Shows gesehen. Auch wenn es für das Publikum unterhaltsam war, irgendwie war es auch extrem unheimlich.“
Pfeiffer nickte. „Fakt ist, unser Gehirn ist dazu in der Lage, die Wahrnehmung der Umgebung zu verändern. So etwas passiert zum Beispiel auch, wenn wir träumen.“ Er holte tief Luft. „Ein anderes Kaliber ist die Beeinflussung der Massen.“
„Ha! Das sagt genau der Richtige. Ihr Medienfritzen müsst es ja wissen“, echauffierte sich Richard Berger.
Der Journalist ignorierte die Provokation. „Meine Verlobte hat sich vor meinem Fenster in den Kopf geschossen“, erinnerte er die beiden, dass auch er ein Opfer war.
„Mein aufrichtiges Beileid“, sagte Dorothea Berger mitfühlend, „aber auch ich finde, wir sollten jetzt die Polizei informieren.“
„Das können wir nicht. Ihr Mann und ich haben indirekt den Tod von zwei Menschen zu verantworten. Wir dürfen das Risiko nicht eingehen, dass Marlene das nächste Opfer dieses Irren wird.“
„Was schlagen Sie also vor?“ Richard Bergers Gesicht war blass, aber er straffte die Schultern.
„Wir müssen zu dieser Adresse fahren. Und diesen Verrückten austricksen. Ich hätte da einen Plan.“

Investitionen ins Heil

Berger fand als erster seine Sprache wieder und sah Pfeiffer sowohl entsetzt als auch erstaunt an:

»Woher kennen Sie Marlene?«

»Die Kurzfassung? Sie ist die Cousine meiner Maria und arbeitet in einem Forschungslabor. Und Sie, woher kennen Sie sie?«

»Das erzähle ich Ihnen unterwegs, denn wir sollten uns wohl beeilen, oder?«, drängte Berger Pfeiffer aus dem Wohnzimmer, aus der Wohnung. Das klang so, als wollte er die Verbindung zu Marlene vor seiner Frau nicht völlig offenbaren, fand Christian und er ließ sich bereitwillig hinauskomplimentieren. Im Auto allerdings drängte er Richard, seine Geschichte zu erzählen.

»Rede!«, ging er unvermittelt ins Du über und Richard nickte:

»Ich habe Marlene im Reisebüro kennengelernt. Sie wollte für ein Forschungsprojekt nach Lateinamerika reisen. Da das Institut, in dem sie arbeitet aber kein Geld für Flug, Unterbringung und sonstige Spesen erübrigen konnte oder wollte, organisierte sie selbst alles Notwendige.«

Christian nickte. Erinnerte sich an die Euphorie, die Marlene bezüglich des Projektes an den Tag gelegt hatte.

»Da sie mehrmals umplante, erschien sie auch des Öfteren in meinem Büro. Darüber kamen wir ins Gespräch und sie erzählte mit Freuden von dem bevorstehenden Abenteuer. Es schien eine wichtige Aufgabe zu sein, derer sie sich widmete, aber genau so geheim. Endlich hatten wir ihre Reiseroute bis in die kleinste Kleinigkeit festgelegt und sie reiste ab. Allerdings,«, sagte Richard mit einem Stirnrunzeln, »allerdings dachte ich, sie wäre noch dort, denn ihr Rückflug war erst für nächste Woche vorgesehen.«

Mehr sagte er nicht, aber Christian vermutete, dass Berger ihm nicht alles erzählt hatte.

»Das war alles?«

»Ja!«

»Wie konnte jemand Drittes davon erfahren? Ob man sie verfolgt hat, so wie man uns offensichtlich beobachtet hat?«

»Ich habe keinen Schimmer!«

»Jedenfalls stecken wir alle in einem riesigen Schlamassel und wir sollten kein Geheimnis voreinander haben, wenn wir diesen Irren stoppen wollen, bevor auch Marlene…,« Christian versagte die Stimme. Schweigen.

»Wusstest du auch von der Reise?«, nahm Richard das Gespräch mit einem Seitenblick auf Christian wieder auf.

»Ja! Sie konnte es ja vor ihrer Cousine kaum geheim halten«.

»Okay, das war doch nicht alles und ich glaube, das könnte die Ursache sein!« Richard bremste den Wagen ab und hielt am Straßenrand an. »Da ich wusste, dass Marlene Finanzierungsprobleme hatte, bot ich ihr an, in das Forschungslabor 10.000 zu investieren, damit die Geschäftsleitung für alle Eventualitäten aufkam. Dafür wollte ich eine Gewinnbeteiligung von 10%, wenn die Sache erfolgreich am Markt platziert werden konnte. Allerdings wurden sie immer dreister mit ihren Geldforderungen, sodass ich irgendwann telefonischen Kontakt zu Marlene aufnehmen wollte. Doch es kam zu keinem Gespräch und so stellte ich die Zahlungen ein.« Christian verspürte Schuldgefühle in Bergers Stimme und er drängte nicht weiter.

»Weißt du denn, was sie da forschte?« Christian schämte sich, dass er sich nicht so sehr für die Arbeit seiner angeheirateten Cousine interessiert hatte, und jetzt bedauerte er es zutiefst.

»Ja. Ich investiere ja mein Geld nicht in eine Blackbox.«, war Richards unwillige Antwort und er startete das Auto und fuhr wieder los.

»Es ging um einen Rohstoff für ein Medikament, dass die meisten Krebserkrankungen heilen sollte und zwar ohne die üblichen Nebenwirkungen einer sonstigen Chemo. Man hatte im Urwald von Bolivien eine Pflanze gefunden, die diesen Rohstoff in sich trug und eher wie ein Unkraut wuchs als wie eine seltene Orchidee. Es gab Versuche an Ureinwohnern im Regenwald im Norden des Landes und die waren sehr erfolgversprechend. Dann wurden ihre Berichte seltener und kruder. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, denn ich bewunderte ja ihren Eifer. Da konnte man einen älteren Herrn aus einem Reisebüro nicht ständig Bericht erstatten. Als ich sie dann wegen des Geldes erreichten wollte, bekam ich doch etwas Angst und hatte das Geld schon abgeschrieben.

Als aber die Summe von dem Irren mit der Videokamera genannt wurde, ging mir wohl ein kleines Licht auf. Es tut mir unendlich leid.«

»Weiß deine Frau von deiner Investition?« Christian staunte über sich selbst. Als wäre das die dringendste Frage.

»Nein! Es sollte eine Überraschung zu meinem Ruhestand werden, wenn ich ihr die vielen Tausende auf den Küchentisch blätterte.«

»Was hat denn der erschossene Mann mit der Geschichte zu tun?«, rätselte Christian.

»Das weiß ich auch nicht. Er sah schon aus wie ein Latino, das muss ich jetzt im Nachhinein gestehen, hab mir aber nichts dabei gedacht.«

»Okay, lass uns eine Strategie entwickeln, denn diesmal sind wir in der Überzahl.« Sie warfen praktikable wie unlogische Ideen in den Raum und verwarfen sie wieder. So erreichten sie ergebnislos das Ziel ihrer Reise und sie stiegen frustriert aus.

Berger und Pfeiffer betrachteten das Industriegebiet und steuerten auf die einzigen Hallen zu, die zu den GPS-Daten passten. Der Wind wehte kühl durch die leerstehenden Hallen, und ein Gefühl der drückenden Anspannung lag in der Luft. Es war eine unheimliche Kulisse und die Dämmerung brach bald herein.

»Wir müssen einen Plan haben, wie wir vorgehen«, sagte Christian mit gedämpfter Stimme, während er die Umgebung absuchte. »Wenn Marlene wirklich hier ist, dürfen wir keine Zeit verlieren!«

Richard nickte und sah sich ebenfalls um. »Wir wissen nicht, ob der Erpresser uns beobachtet. Wir sollten uns besser verteilen und die Hallen erkunden. Wenn wir etwas Verdächtiges entdecken, rufen wir uns sofort.«

Christian stimmte zu und sie zogen sich in verschiedene Richtungen zurück, wobei Berger sich auf die größere der beiden Hallen konzentrierte. Innerhalb der ersten fünf Minuten fand er eine Tür, die leicht offen stand. Zögernd schob er sie auf.

Der Raum dahinter war dunkel und verwinkelt, der Geruch von Öl und Metall lag in der Luft. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er, dass es sich um eine Art Werkstatt handelte. Überall lagen Werkzeuge verstreut, und an einer Wand hingen einige Plakate von Forschungsprojekten, einschließlich eines mit einem Bild von Marlene.

Schnell zog er sein Handy heraus und schickte Christian eine Nachricht: »Ich habe ein Bild von Marlene gefunden. Hier ist es dunkel, aber ich glaube, sie könnte hier vielleicht gefangen sein.«

Kaum hatte er die Nachricht abgeschickt, hörte er ein Geräusch hinter sich. Berger wirbelte herum und sah einen Schatten, der sich in der Dunkelheit bewegte. Adrenalin schoss durch seinen Körper. »Wer ist da?«, rief er, als er sich in Position brachte, um gegebenenfalls zuzuschlagen.

Plötzlich trat Christian aus dem Schatten hervor und entblößte seine Hände. »Ich hab dich gesucht! Der Erpresser hat anscheinend mit einem anderen Zeugen Kontakt aufgenommen, den ich ausfindig machen konnte. Und ich habe erfahren, dass er mehr über dein Geld weiß.»

Berger machte einen Schritt auf ihn zu und fragte: »Was meinst du?«

Christian seufzte schwer. »Es gibt jemanden, der über deine Investitionen Bescheid weiß. Jemand, der wahrscheinlich hinter Marlene her ist. Ich bin mir sicher, dass sie nicht das einzige Ziel ist.«

Ein Geräusch aus der hinteren Ecke des Raumes ließ sie beide verstummen. Sie hielten den Atem an und lauschten. Plötzlich hörten sie eine Stimme, die leise durch das Metall hallte – es war Marlene.

»Hilfe! Bitte, helfen Sie mir!«

Berger und Pfeiffer sahen sich an und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rannten sie in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihre Herzen schlugen schnell, als sie durch die Gänge hasteten.

Bald standen sie vor einer weiteren Tür. Durch einen kleinen Spalt konnten sie hineinsehen – und tatsächlich, dort war Marlene, gefesselt und verängstigt lag sie auf dem Boden.

»Wir sind hier, Marlene!«, rief Berger sofort und versuchte die Tür zu öffnen. Doch sie war verschlossen.

In diesem Moment hörten sie Schritte hinter sich. Der Erpresser war zurück! »Das ist ein Fehler, den ihr hier gemacht habt!«, knurrte er und richtete eine Waffe auf sie. »Und jetzt wird einer für eure Neugier bezahlen!«

Bevor Berger und Pfeiffer reagieren konnten, wurde der Erpresser von einem weiteren Mann überrascht, der plötzlich aus dem Schatten trat. Es war ein Sicherheitsmann aus dem Industriegebiet, der offenbar die Verdächtigen beobachtet hatte.

Marion Kulinna©

Vierter Teil
Von @Conny1

Christian Pfeiffer und Richard Berger standen vor der Adresse im Industriegebiet, einer verlassenen Lagerhalle, deren dunkle Silhouette gegen den düsteren Himmel abzeichnete. Der Regen hatte nachgelassen und hinterließ große Pfützen auf dem unebenen Boden. Mit zögernden Schritten betraten sie die Halle, die in bedrohlichem Schweigen lag.
Drinnen fanden sie eine weitere Nachricht, sorgfältig auf einem alten, verstaubten Schreibtisch platziert. Pfeiffer öffnete das Blatt Papier und las laut vor: „Im Büro findet ihr Antworten.“
„Das klingt, als ob wir noch mehr Rätsel lösen müssen“, murmelte Berger und tauschte einen schnellen, entschlossenen Blick mit Pfeiffer.
Sie machten sich auf den Weg zu einem kleinen Büro im hinteren Teil der Halle. Dort, unter einem Haufen alter Akten, entdeckten sie ein Tagebuch. Die Seiten waren vergilbt und die Tinte teils verblasst, aber die Worte waren noch lesbar. Es gehörte einer Person, die offenbar mit dem Täter in Verbindung stand.
„Sieh dir das an“, sagte Pfeiffer, während er die erste Seite aufschlug. „Das Tagebuch scheint Hinweise auf vergangene Verbrechen zu enthalten.“
„Glaubst du, es führt uns zum Täter?“, fragte Berger hoffnungsvoll.
„Vielleicht. Wir müssen es durchlesen“, antwortete Pfeiffer, die Stirn in Falten gelegt.
Das Tagebuch enthüllte vergangene Verbrechen und geheimnisvolle Verbindungen, die sowohl Pfeiffer als auch Berger betrafen.
Eintrag 1: 5. Mai 2005
„Heute habe ich das erste Mal den Namen Christian Pfeiffer gehört. Er war derjenige, der meinen Bruder bei seiner Reportage bloßgestellt hat. Sie haben ihn als Schwindler und Betrüger dargestellt. Aber sie wissen nicht, was wirklich passiert ist. Ich werde alles tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.“
Eintrag 2: 12. September 2007
„Ich habe begonnen, Richard Berger zu beobachten. Der meine Familie um Ihr Vermögen gebracht hat. Er hat uns verraten. Ich werde sicherstellen, dass er dafür bezahlt.“
Eintrag 3: 3. April 2010
„Ich habe erfahren, dass Pfeiffer und Berger jetzt zusammenarbeiten. Sie haben sich für einen Artikel über Korruption in der Stadt zusammengetan. Sie glauben, sie können die Welt verbessern, aber sie haben keine Ahnung, welche Konsequenzen ihre Handlungen haben. Ich werde ihnen zeigen, was wahre Gerechtigkeit bedeutet.“
Eintrag 4: 15. November 2013
„Meine Pläne nehmen Gestalt an. Ich habe Informationen gesammelt und Kontakte geknüpft. Pfeiffer und Berger werden keine Ahnung haben, was auf sie zukommt. Ich werde sie leiden lassen, wie sie mich und meine Familie leiden ließen.“

Eintrag 5: 1. August 2014
„Der Tag der Abrechnung rückt näher. Ich habe Pfeiffer und Berger seit Jahren beobachtet, ihre Schwächen studiert. Jetzt ist es an der Zeit, zuzuschlagen. Marlene wird der Köder sein, der sie in meine Falle lockt. Alles läuft nach Plan.“
Eintrag 6: 30. November 2023
„Sie sind mir auf der Spur, aber das ist in Ordnung. Es ist alles Teil des Spiels. Ich habe noch eine letzte Überraschung für sie. Wenn sie denken, sie könnten mich aufhalten, dann irren sie sich. Ich bin immer einen Schritt voraus.“
Alexander Stahl.
„Das darf nicht wahr sein“, sagten beide entsetzt.
„Er hat uns die ganze Zeit beobachtet“, flüsterte Berger entsetzt. „Warum gerade uns?“
„Es muss einen Grund geben“, sagte Pfeiffer fest. „Und wir werden ihn herausfinden.“
Mit dieser neuen Information bewaffnet, machten sich Pfeiffer und Berger auf den Weg zu der zweiten Adresse im Industriegebiet. Dort angekommen, fanden sie eine versteckte Tür, die sie zu einem unterirdischen Komplex führte. Sie traten ein und wurden sofort von einer kühlen, metallischen Luft empfangen.
„Es fühlt sich an wie eine Falle“, sagte Berger nervös.
„Wir haben keine Wahl“, entgegnete Pfeiffer. „Wir müssen Marlene retten.“
Im Inneren des Komplexes fanden sie Hinweise auf den Aufenthaltsort des Täters und seiner Geisel. Die Spannung stieg ins Unermessliche, als sie tiefer in das Labyrinth eindrangen. Schließlich erreichten sie einen Raum, in dem die Luft vor Aufregung knisterte.
Alexander Stahl ein Mann mittleren Alters mit kaltem Blick erwartete sie bereits. Neben ihm stand Marlene, gefesselt und mit Panik in den Augen. Stahl grinste sie an, als würde er ein besonders interessantes Spiel spielen.
„Willkommen, meine Herren“, sagte er mit einer Stimme, die vor Gift triefte. „Ich habe euch erwartet.“
„Lassen Sie sie frei!“, forderte Pfeiffer mit bebender Stimme.
„Oh, ich denke nicht“, antwortete er gelassen. „Ihr seid beide Teil eines größeren Spiels.“
„Was wollen Sie von uns?“, fragte Berger, seine Stimme fest, aber mit einem Hauch von Angst.
„Es geht nicht darum, was ich will“, entgegnete Stahl mit einem kalten Lächeln. „Es geht darum, was ihr verdient. Ihr habt Leben zerstört, ohne es zu wissen, und jetzt werdet ihr die Konsequenzen tragen.“
„Das ist Wahnsinn!“, rief Pfeiffer. „Sie können uns nicht für Ihre Probleme verantwortlich machen.“
Stahl trat näher an Marlene heran, die immer noch gefesselt und verängstigt nun zu Boden sang. „Oh, aber das kann ich“, sagte er leise. „Und ich werde es tun.“
Plötzlich zog er ein Messer hervor und stach auf Marlene ein noch bevor Pfeiffer und Berger etwas unternehmen konnten.
„Nein“, schrie Berger, als er sich neben Marlene kniete. „Halte durch, Marlene!“
Marlene sah Pfeiffer und Berger mit schwachen Augen an. „Ich … ich wollte euch helfen …“, flüsterte sie.
„Wir wissen“, sagte Pfeiffer, während ihm Tränen über die Wangen liefen. „Und es tut uns so leid.“
In diesem Moment nutzte Stahl die Ablenkung und verschwand. „Das Spiel ist noch lange nicht vorbei“, rief er, als er zur Hintertür der Lagerhalle rannt. Pfeiffer und Berger konnten ihn nicht mehr aufhalten, da sie mit Marlenes Verletzungen beschäftigt waren.
Als die Polizei eintraf, war Stahl bereits verschwunden. Die Beamten versorgten Marlene, aber für sie kam jede Hilfe zu spät. Sie starb in Bergers Armen, und die Trauer der beiden Männer war überwältigend.
Pfeiffer und Berger standen am Eingang der Lagerhalle, als die Sirenen der Polizeiautos in der Ferne verklangen. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Berger, seine Stimme gebrochen von Schmerz und Verzweiflung.
„Wir müssen weiterkämpfen“, antwortete Pfeiffer fest. „Für Marlene. Für die Wahrheit. Wir können nicht aufgeben.“
Die beiden Männer wussten, dass sie jetzt mehr denn je zusammenarbeiten mussten, um die dunklen Geheimnisse aufzudecken, die Stahl verborgen hielt. Der Tod von Marlene hatte ihre Entschlossenheit nur gestärkt.
Mit schweren Herzen und festem Entschluss verließen sie die Lagerhalle, bereit, den Kampf fortzusetzen und die Gerechtigkeit zu suchen, die Marlene und alle anderen Opfer verdienten.