Achtung, jetzt wird’s fies, nicht weiterlesen.
Ich sitze auf einem abgenutzten Holzstuhl in der Ecke eines fahlgelb gefliesten Raumes. Einst war dies der Ort, an dem man Schlachtvieh mit einem Bolzenschussgerät betäubte, es zum Ausbluten an einen Fleischerhaken hängte und das Fleisch von den Knochen schnitt.
Ich habe hier einige Zeit als Aushilfe gearbeitet. In Gedanken höre die Schreie all jener Tiere, bei denen ich den Stab ‚falsch‘ angesetzt habe, sodass zwar ihre Muskulatur versagte, sie aber bei vollem Bewusstsein blieben. Vor mir steht ein schwerer Metalltisch, Igor habe ich ihn getauft, stummer Zeuge meiner vielen Missetaten, die ich damals aber zum Lernen brauchte…
Heute steht darauf ein Laptop, der mir den Zugriff auf alle acht Kameras ermöglicht. Jede ist präzise ausgerichtet, jede bereit, den großen Moment festzuhalten.
Die flackernden Bilder auf dem Bildschirm zeigen das Gelände draußen, wo Berger und Pfeiffer gleich ankommen werden. Es ist still, abgesehen vom dumpfen Surren der Technik und dem rhythmischen Pochen meines Herzens, das in meinen Ohren dröhnt. Alles ist vorbereitet…
Meine Finger zittern leicht, als ich die Pfeiltasten am Laptop drücke und so die Kameraansicht fortlaufend wechsle. Da, endlich! Sie sind fast da. Die Vorfreude kribbelt in mir, ein unaufhaltsames Kitzeln, das mich fast verrückt macht. Sie glauben, dass sie hierher kommen, um Marlene zu retten. Wollen sicher ihre Gewissen rein waschen - was für Narren! Ich starre auf den Monitor, der die Eingangstür zeigt. Da sind sie – Berger und Pfeiffer. Sie wirken angespannt, aber entschlossen, wie die Helden eines schlechten Films. Alles läuft nach Plan.
Als sie die Halle durchschreiten, sehe ich, wie sie den gefesselten Frauenkörper im Kühlraum bemerken. Ihre Gesichter verändern sich sofort.
„Ist das Marlene?“ ruft Pfeiffer, seine Stimme pfeift wie ein eisiger Wind durch den Raum. Ich halte den Atem an und beobachte, wie sie auf das gefesselte Bündel zustürmen, ahnungslos. Dann höre ich das schwere Zufallen der Tür hinter ihnen. Der Kühlraum hat minus zehn Grad Celsius. Ich grinse.
„Was… was soll das?“, murmelt Berger, nachdem er das Bündel als Schaufensterpuppe identifiziert. Als er sich umdreht, ist die Tür hinter ihm verschlossen. Der Raum ist still, bis auf das Summen der Kühlaggregate, und die Schwenkgeräusche der Kameras, die unaufhörlich alles aufzeichnen.
Beide prüfen nun Ihre Mobiltelefone, aber hier, in der Hölle, gibt es keinen Empfang. „Lasst uns beginnen“, flüstere ich der Frau neben mir ins Ohr. „Lasst uns beginnen“, wiederholt sie halbmechanisch und nickt, ihre Stimme klingt fast ein heiseres Grunzen. Ich drücke einen Knopf, und plötzlich erwachen die Lautsprecher in dem Raum zum Leben. Ich mache ein Handzeichen. Eine weibliche Stimme durchdringt die Stille.„Hallo Richard, hallo Christian, es ist angerichtet. Mögt ihr euer Fleisch blutig?“, fragt sie und bricht über diesen makabren Gag in ein lautes Gickern aus, so wie wir es geübt haben. Es hallt durch den Raum, bevor sie sich abrupt wieder fängt.
„Ihr ahnt bestimmt schon, worum’s geht. Sommer 1995“, liest sie steif den vorbereiteten Text ab, „Auf Texel war es typisch nordisch: mild und windig. Mal sonnig, mal regnerisch – perfektes Inselwetter für alle, die Salz in der Luft lieben.“ Sie hustet, schaut mich fragend an und liest dann weiter „Ich war vierzehn, jung und sehr verliebt“.
Ich beobachte auf dem Monitor die Gesichter der beiden Männer. Die Verwirrung mischt sich langsam einer dunklen Erkenntnis, als sie begreifen, wer hier mit ihnen spricht.
„Marlene… bist du das? Was… was ist hier los?“, fragt Berger, „Steckt Haas dahinter?“. Bergers Stimme zittert.
„Peter und ich“, fährt Marlene stockend fort, „wir waren vom ersten Tag an unsterblich ineinander verliebt. Ja, er war die große Liebe meines Lebens.“ Sie schluckt hart, ihre Stimme stockt. „Aber ihr wolltet das nicht akzeptieren. Stattdessen habt ihr euch eingemischt, um mich gestritten, um mich gebuhlt.“ Eine Träne läuft ihr über das geschwollene Gesicht, doch ich fordere sie sanft auf, weiterzulesen. „Dann hat Berger einen schrecklichen Plan geschmiedet. Er hat sich als Peter verkleidet, hat mir im Wald aufgelauert und mich…“ Ihre Stimme bricht, sie schluchzt unkontrolliert, unfähig, den Satz zu beenden.
Auf dem Monitor sehe ich, wie Pfeifer wütend gestikuliert, seine Arme wild durch die Luft wirft und hektisch etwas zu erklären scheint. Doch ich habe zuvor den Ton stummgeschaltet. Berger bleibt regungslos. Sein Blick bohrt sich in die Kamera, als könnte er hindurchsehen, während er offenbar still nachdenkt und einen Plan schmiedet. Ich hole Marlene erneut ans Mikrofon. „Weiter!“, bitte ich sie, „Lies bitte weiter!“
„Aufgrund Bergers Lüge ist Peter ins Gefängnis gekommen, und das hat sein ganzes Leben zerstört!“.
Pfeiffer ist jetzt völlig außer sich, tobt und beginnt, die Kameras zu demolieren. Ich drehe den Ton wieder auf und räuspere mich. „Christian“, sage ich.
„Haas, du altes Schwein!“, brüllt Christian Pfeiffer mich an, „Was hast du Marlene angetan? Lass sie in Ruhe! Und überhaupt, wie kannst du da von Liebe reden? Sie war vierzehn, du über vierzig!“
Ich schalte auf eine andere Kamera um und sehe Pfeiffer direkt in die Augen. „Christian“, sage ich ruhig, „das habe ich dir doch damals schon erklärt: Marlene und ich haben uns nicht körperlich geliebt. Wir wollten warten, bis sie achtzehn ist. Richard Berger hat mich jedoch erpresst. Zwei Tage, bevor Marlene im Wald überfallen wurde, hat er mir gedroht, mir eine Vergewaltigung anzuhängen, wenn ich ihm nicht zwanzigtausend D-Mark gebe. Doch das Geld hatte ich nicht. Dann hat er mein Leben zerstört, mich als Mensch getötet.“
Pfeiffer scheint verwirrt , scheint nachzudenken. Zumindest schlägt er nicht mehr auf die Kameras ein.
Marlene tritt erneut ans Mikrofon und flüstert sehr verständnisvoll: „Auch ich brauchte Zeit, um das zu verstehen aber nach langen Gesprächen habe ich die Wahrheit erkannt. Peter ist jetzt nämlich Therapeut, musst du wissen, und er kann sehr überzeugend sein.“
Ich sehe, wie sich Berger und Pfeiffer verwirrte Blicke zuwerfen und dann miteinander tuscheln.
Ohne Skript fährt Marlene fort: „Peter ist vor zwei Jahren bei uns als Untermieter eingezogen. Er stellte sich meinem Mann als Dr. Schmerz, als Therapeut, vor. Als ich dann merkte, wer er wirklich war, wollten wir das Mietverhältnis kündigen. Wir meldeten ihn sogar bei der Polizei, weil wir dachten, er schikaniert uns und stellt mir nach. Doch in der Therapie haben Martin und ich erkannt, wie falsch wir damals gehandelt haben.“
Ich beobachte die beiden Männer, die wie erstarrt im Raum stehen, ihre Blicke entsetzt und starr, als könnten sie kaum fassen, was sie gerade hören.
„Ich konnte es anfangs auch nicht fassen“, fährt Marlene fort, „aber als du dann meinen Mann direkt vor deiner eigenen Haustür ermordet hast, Berger, war mir klar, dass du hinter allem steckst!“
„Marlene“, versucht Berger mit belegter Stimme zu sprechen, doch sie brüllt ihm wütend entgegen: „Nein, Berger, du hast ihn umgebracht – mit deinem Geiz! Dr. Schmerz hat alles gefilmt und es mir alles gezeigt. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!“
Ich tippe nochmal auf das Blatt, das vor Marlene liegt. Ich sehe, wie sie mit sich kämpft. „Christian“, liest sie dann aber doch die letzten Sätze vor, „Du musst über uns berichten. Du musst unsere wahre Geschichte erzählen!„.
Ich sehe, wie Marlene ins Taumeln gerät, fast vom Stuhl kippt und Dr. Schmerz beinahe die Kontrolle über ihre Hypnose und die Therapie verliert. Schnell legt er beruhigend seinen Arm um sie, stützend, und flüstert ihr dann das Schlüsselwort ins Ohr.
„Kein Problem“, hört Marlene Dr. Schmerz’ warme, vertraute Stimme. „Das mit der Untermiete und der Therapie schneiden wir aus dem Film raus.“ In diesem Moment kehrt Ruhe in Marlene zurück, und die Anspannung löst sich wieder. „Wir werden einen epochalen Film daraus machen, Christian und alle andern werden darüber berichten…Lass uns weiter machen!“
Dr. Schmerz drückt Marlene ein längliches Gerät in die Hand. „Weißt du noch“, fragt er, „wie man es so benutzt, dass das Vieh die Muskelkontrolle verliert, aber dennoch bei Bewusstsein bleibt? Versuche es bei Christian. Bei Richard kannst du dich ruhig austoben!“.
Natürlich weiß Marlene bestens wie man es bedient – Dr. Schmerz hat es ihr oft genug an ihrem Mann und ihr selbst demonstriert.