Offene Enden Teil 3: Schreib Teil 4

Offene Enden – vierter Teil: Die Schatten der Vergangenheit
Die Fahrt zum Industriegebiet verlief zunächst in bedrückendem Schweigen. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, und die Scheinwerfer des Wagens schnitten durch die Dunkelheit. Richard Berger saß auf dem Beifahrersitz, die Hände fest ineinander verschränkt, während Christian Pfeiffer konzentriert auf die Straße blickte. Doch die Stille war schwer, fast unerträglich, und schließlich war es Berger, der sie durchbrach.
»Herr Pfeiffer«, begann er zögernd, seine Stimme leise, aber angespannt. »Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie es für Dorothea war? Wie es für sie ist, jeden Tag mit der Ungewissheit zu leben, was mit Marlene passiert ist?«
Pfeiffer hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet, doch seine Finger umklammerten das Lenkrad etwas fester. »Natürlich habe ich das«, antwortete er schließlich, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Schwere. »Ich weiß, dass es für sie nicht leicht war. Für niemanden in Ihrer Familie.«
Berger drehte den Kopf zu ihm, seine Augen suchten Pfeiffers Gesicht, als wollte er etwas darin lesen. »Nicht leicht? Sie hat sich daran aufgearbeitet, Herr Pfeiffer. Sie hat nie aufgehört, nach Marlene zu suchen. Sie hat sich Vorwürfe gemacht, sich gefragt, ob sie etwas hätte anders machen können. Und ich… ich habe ihr nie helfen können. Ich wusste nicht, wie.«
Pfeiffer schwieg einen Moment, bevor er leise sagte: »Manchmal gibt es keine Antworten, Herr Berger. Manchmal verschwinden Menschen, und wir können nichts dagegen tun.«
»Aber Sie wissen mehr, nicht wahr?« Bergers Stimme wurde schärfer, und er lehnte sich leicht nach vorne. »Sie wissen, was mit Marlene passiert ist. Sie wissen, warum sie verschwunden ist.«
Pfeiffer atmete tief durch, seine Kiefermuskeln angespannt. »Ich weiß, dass sie in Schwierigkeiten war. Und ich weiß, dass sie mich um Hilfe gebeten hat.«
Berger starrte ihn an, als hätte er nicht richtig gehört. »Sie… Sie haben ihr geholfen?«
»Ja«, sagte Pfeiffer, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Das habe ich. Sie war verzweifelt, Herr Berger. Sie hatte Angst. Und sie wollte nicht, dass jemand aus Ihrer Familie davon erfährt.«
»Warum nicht?« Bergers Stimme brach fast, und er schüttelte den Kopf. »Wir sind ihre Familie! Wir hätten ihr geholfen, egal, was es war. Dorothea hätte alles für sie getan.«
»Das weiß ich«, erwiderte Pfeiffer leise. »Aber Marlene hat das nicht so gesehen. Sie dachte, dass sie euch nur in Gefahr bringen würde, wenn ihr wüsstet, was los ist. Sie wollte euch schützen.«
»Schützen?« Berger lachte bitter. »Und was hat das gebracht? Sie ist weg, und wir haben keine Ahnung, ob sie überhaupt noch lebt. Dorothea hat sich fast daran kaputtgemacht, und Sie… Sie haben all die Jahre geschwiegen.«
Pfeiffer drehte den Kopf kurz zu ihm, seine Augen ernst. »Was hätte ich sagen sollen, Herr Berger? Dass ich ihr geholfen habe, unterzutauchen? Dass ich sie an einen Ort gebracht habe, an dem sie sicher sein sollte? Glauben Sie, das hätte irgendetwas besser gemacht?«
»Vielleicht«, sagte Berger, seine Stimme nun leiser, aber voller Emotionen. »Vielleicht hätte es uns wenigstens die Wahrheit gegeben. Vielleicht hätte Dorothea nicht jeden Tag mit der Frage leben müssen, ob sie etwas falsch gemacht hat.«
Pfeiffer schwieg, und für einen Moment war nur das Geräusch des Regens zu hören. Schließlich sprach er, seine Stimme schwer vor Schuld. »Ich habe damals gedacht, dass ich das Richtige tue. Sie hat mich angefleht, ihr zu helfen. Und ich… ich habe ihr geglaubt. Aber jetzt, Jahre später, frage ich mich, ob ich einen Fehler gemacht habe. Vielleicht hätte ich sie zu Ihnen zurückbringen sollen. Vielleicht … vielleicht hätte ich sie überzeugen sollen, … die Wahrheit zu sagen.«
Berger sah ihn lange an, bevor er leise sagte: »Es ist zu spät für vielleicht, Herr Pfeiffer. Jetzt geht es nur noch darum, sie zu finden. Und ich hoffe für Sie, dass wir das schaffen. Denn wenn nicht…« Er ließ den Satz unvollendet, doch die Bedeutung war klar.
Pfeiffer nickte stumm, seine Augen auf die Straße gerichtet. Der Regen wurde stärker, und das Industriegebiet kam in Sicht. Beide Männer wussten, dass die Antworten, die sie suchten, nicht ohne einen Preis kommen würden.

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Christian Pfeiffer parkte seinen Wagen mit einem mulmigen Gefühl im Magen neben einem verlassenen Industriegebäude. Die Straßenlaternen flackerten, und der Wind trieb leere Plastikflaschen und Papierfetzen über den Asphalt. Richard Berger stieg aus mit hochgezogen Schultern, als wolle er sich vor der Kälte und der Dunkelheit schützen. Beide schwiegen und überprüften die Adresse auf dem Zettel mit den verfallenen Gebäuden vor ihnen. Es war 19:58. Noch sieben Minuten bis zur vereinbarten Zeit.
»Das hier fühlt sich falsch an«, murmelte Berger und rieb sich die Hände, als wäre ihm plötzlich eiskalt. »Was, wenn er uns hier nur herlockt, um uns loszuwerden? Vielleicht hat er eine Waffe, oder …«
»Oder er will uns testen«, unterbrach Pfeiffer ihn, ohne den Blick von dem Gebäude zu nehmen, das der Beschreibung entsprach. »Das hier ist ein Spiel für ihn. Und wir sind die Figuren, die er nach Belieben verschiebt.« Seine Stimme klang härter, als er sich fühlte. Doch er wusste, dass sie keine Wahl hatten. Wenn sie Marlene retten wollten, mussten sie sich darauf einlassen.
Langsam näherten sie sich dem Gebäude. Die Eingangstür hing schief in den Angeln, und die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Pfeiffer zog eine Taschenlampe aus seiner Jacke und leuchtete in den Eingangsbereich. Staub und Schutt bedeckte alles, und der Geruch von Feuchtigkeit und Verfall lag in der Luft. »Hier entlang«, sagte er leise, als er eine offene Tür am Ende des Flurs entdeckte. Berger folgte ihm zögernd, seine Schritte hallten in der bedrückenden Stille. Mit jedem Schritt wuchs die Anspannung, und Pfeiffer konnte das Pochen seines eigenen Herzschlags in den Ohren hören.
Die Tür am Ende des Flurs knarrte leise, als Pfeiffer sie vorsichtig aufstieß. Dahinter lag ein großer, leerer Raum, dessen Wände mit Graffiti beschmiert waren. In der Mitte des Raumes stand ein einzelner Tisch, darauf ein Laptop. Ein schwaches Licht flackerte von der Decke, als würde es jeden Moment erlöschen. Pfeiffer und Berger tauschten einen Blick, bevor sie langsam nähertraten.
»Das sieht aus wie eine verdammte Inszenierung«, murmelte Berger und blieb ein paar Schritte hinter Pfeiffer stehen. »Er will, dass wir hier sind. Das ist eine Falle, ich spüre es.«
»Natürlich ist es eine Falle«, erwiderte Pfeiffer scharf, ohne sich umzudrehen. »Aber wir haben keine Wahl. Wenn wir hier rausgehen, ohne zu wissen, was er will, dann war’s das für Marlene.«
Er beugte sich über den Laptop und drückte vorsichtig auf die Leertaste. Der Bildschirm zeigte einen Mann mit einer Maske. Mit verzerrter Stimme kam eine neue Botschaft mit einem Hauch von Spott:
»Willkommen, meine Herren! Ich wusste, dass Sie kommen würden. Sie sind so berechenbar. Aber das ist gut. Berechenbarkeit macht es einfacher, die richtigen Entscheidungen zu treffen – oder die falschen.« Er lachte leise, ein Geräusch, das Pfeiffer die Nackenhaare aufstellte. »Vor Ihnen liegt eine einfache Aufgabe. Nur einer von Ihnen wird diesen Raum lebend verlassen.«
Berger schnappte hörbar nach Luft. »Was soll das heißen? Das ist doch ein kranker Witz!«
Der Sprecher setzte unbeirrt fort: »Ich habe die Tür hinter Ihnen verriegelt. Es gibt nur einen Schlüssel, und er befindet sich in der kleinen Box unter dem Tisch. Aber die Box öffnet sich nur, wenn einer von Ihnen den anderen … nun ja, sagen wir, ausschaltet. Sie haben zehn Minuten. Danach wird der Raum mit Gas geflutet. Viel Glück.«
Die Übertragung endete abrupt, und für einen Moment herrschte absolute Stille. Dann brach Berger in hektisches Flüstern aus. »Das ist Wahnsinn! Das ist ein verdammtes Spiel! Wir können das nicht tun, Herr Pfeiffer. Wir müssen einen anderen Weg finden.«
Pfeiffer starrte auf den Tisch, seine Gedanken rasten. »Beruhigen Sie sich«, sagte er schließlich, obwohl seine eigene Stimme alles andere als ruhig klang. »Es gibt immer einen anderen Weg. Wir müssen nur nachdenken.«
Doch Berger war bereits in Panik. »Nachdenken? Nachdenken?! Der Typ will, dass wir uns gegenseitig umbringen! Und Sie tun so, als könnten wir das irgendwie umgehen? Vielleicht sind Sie ja derjenige, der hier rauskommen soll. Vielleicht war das von Anfang an Ihr Plan!«
Pfeiffer drehte sich langsam zu ihm um, seine Augen verengt. »Was reden Sie da? Glauben Sie ernsthaft, ich stecke mit diesem Psychopathen unter einer Decke? Hören Sie auf, sich wie ein Idiot zu benehmen, und helfen Sie mir, einen Ausweg zu finden!«
Doch Berger wich einen Schritt zurück, seine Hände erhoben, als wolle er sich verteidigen. »Ich traue Ihnen nicht, Herr Pfeiffer. Sie sind viel zu ruhig. Sie haben doch schon längst entschieden, dass ich derjenige bin, der hier sterben soll.«
Die Spannung zwischen den beiden Männern war greifbar, und die Zeit tickte unerbittlich weiter. Pfeiffer wusste, dass sie keine Zeit für Misstrauen hatten, doch Berger schien in seiner Angst gefangen. Es galt, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden und gleichzeitig ihn zu beruhigen.
»Hören Sie zu«, sagte Pfeiffer schließlich mit einer leiseren, aber eindringlich Stimme. »Das ist genau das, was er will. Er will, dass wir uns gegenseitig zerfleischen. Aber wenn wir zusammenarbeiten, können wir ihn austricksen. Wir müssen die Box untersuchen, den Raum durchsuchen – irgendetwas muss hier sein, das uns hilft.«
Berger zögerte, seine Augen zuckten zwischen Pfeiffer und der Box hin und her. Schließlich nickte er langsam. »Okay. Aber keine Tricks, Herr Pfeiffer. Wenn Sie irgendwas versuchen …«
»Ich versuche nichts«, unterbrach Pfeiffer ihn. »Jetzt helfen Sie mir.«
Die beiden Männer begannen, den Raum abzusuchen, während die Minuten verstrichen. Pfeiffer untersuchte die Wände und den Boden, suchte nach versteckten Mechanismen oder Hinweisen. Berger blieb in der Nähe des Tisches, seine Hände zitterten, während er die Box betrachtete. Doch die Zeit lief ihnen davon, und die Panik begann erneut, sich in ihren Köpfen festzusetzen.
»Es gibt nichts!«, rief Berger schließlich und trat gegen den Tisch. »Wir sitzen in der Falle, Pfeiffer! Wir werden hier sterben!«
»Hören Sie auf damit!«, fuhr Pfeiffer ihn an. »Wir haben noch Zeit. Wir müssen nur –«
Ein leises Zischen unterbrach ihn. Beide Männer erstarrten. Der Täter hatte nicht gelogen – das Gas begann bereits, in den Raum zu strömen. Pfeiffer spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Sie hatten nur noch Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, fluchte Berger und griff nach einem Metallrohr, das am Boden lag. »Ich werde nicht sterben, Pfeiffer. Nicht für Sie!«
Pfeiffer wich zurück, seine Hände erhoben. »Berger, hören Sie auf! Das ist genau das, was er will! Wir können –«
Doch Berger hörte nicht mehr zu. Der Raum füllte sich mit dem beißenden Geruch des Gases, und die Luft wurde dünner. Pfeiffer wusste, dass er keine Wahl hatte. Wenn er überleben wollte, musste er handeln – und zwar jetzt.

Kabale und Triebe

»Ihr kennt die Frau?« Dorothea blickte mit weit aufgerissenen Augen zwischen ihrem Mann und Pfeiffer hin und her.
»Woher kennen Sie meine Tochter?« Pfeiffer sprang auf und starrte Berger an.
Dieser war so blass geworden, dass seine Haut fast mit der Wand hinter ihm verschmolz. Sein Blick zuckte zum Ehering an seinem Finger, dann zu seiner Frau. Keine zehn Ave Maria hätten ausgereicht, um den Ausdruck von Schuld aus seinem Gesicht zu tilgen.
»Richard?«
»Es … Ich … Sie … Wir …«
Wir. Dorothea war nicht dumm. Sie war seit 29 Jahren mit diesem Mann verheiratet. Sie wusste, dass nicht jede seiner Geschäftsreisen eine »Geschäftsreise« war. Dass er mehr als einmal der Versuchung erlegen war und die verbotene Frucht aus dem Garten Edens gepflückt hatte.
Aber diese Frau. Sie konnte kaum älter sein als ihre eigene Tochter.
»Mar- Mar- Marlene und ich …«, stotterte Berger weiter und sein Gestammel kollidierte mit Pfeiffers abgehakten Atemzügen.
Die Hand des Journalisten schoss vor und krallte sich in Bergers schlichte schwarze Krawatte. Immerhin eine Sache, aus der Dorotheas Mann gelernt hatte.
»Was zum Teufel haben Sie mit meiner Tochter zu schaffen?«
»Es tut mir leid«, brachte Berger keuchend hervor und wandte den Blick ab.
Pfeiffers Knöchel wurden weiß, als er den Griff um Bergers Krawatte verstärkte und ihn mit einem Ruck zu sich heranzog.
»Haben. Sie. Sich. An. Meiner. Tochter. Vergriffen?«
Sein Blick konnte kaum tödlicher sein und obwohl Richard es nicht verdient hatte, machte sich Dorothea doch ein wenig Sorgen um ihn. Und um die Frau im Video.
»Es sind nur noch 20 Minuten.«
Das brachte die beiden Männer wieder zur Besinnung.

+++

Bergers und Pfeiffers Schritte prallten von den Betonwänden des Gebäudes ab wie Gewehrkugeln. Pfeiffer war so angespannt, dass er kein Wort herausbrachte. Doch mit dem Abschaum neben ihm hätte er sowieso nicht reden wollen.
Marlene. Seine Marlene.
In seine Augen trat ein harter Glanz. Er würde sie retten. Komme, was wolle.
Berger und er zuckten synchron zusammen, als ein schrilles Klingeln durch das Fabrikgebäude hallte. Mit zitternden Fingern griff Pfeiffer nach seinem Handy und nahm ab.
»Heute einmal pünktlich, wie ich sehe.« Pfeiffer erkannte die Stimme sofort.
»Wo sind Sie? Wo ist Marlene?«
»Schalten Sie den Lautsprecher an«, drang Bergers Stimme an sein anderes Ohr. Er ignorierte ihn.
Ein dunkles Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Tun Sie, was er sagt.«
Pfeiffer nahm das Handy vom Ohr und suchte auf dem Display nach dem Lautsprechersymbol.
»Ts, ts, was sind Sie nur für ein lausiger Journalist, Pfeiffer. Können noch nicht einmal mit Ihrem eigenen Telefon umgehen.«
»Wo sind Sie? Wo ist Marlene?«, fragte Pfeiffer erneut und blickte sich nach allen Seiten um.
»Gehen Sie zum anderen Ende der Halle und öffnen Sie die Tür«, sagte die Stimme.
Pfeiffer fühlte sich, als ginge er geradewegs auf den Höllenschlund zu, als er die Halle mit schnellen Schritten durchquerte. Er trat vor die Tür, drehte den Knauf und riss sie mit einem Ruck auf.
»Marlene!« Pfeiffer stürzte auf seine gefesselte Tochter zu, doch ein Klicken ließ ihn in der Bewegung erstarren.
»Stop.« Aus dem Schatten trat eine schlanke Gestalt, das Gesicht hinter einer schwarzen Maske verborgen, einen Pistolenlauf auf Pfeiffers Brust gerichtet.
Der unbekannte Anrufer. Marias Mörder.
»Kommen Sie her.«
Wie hypnotisiert trat Pfeiffer einen Schritt auf den Fremden zu, den Blick unverwandt auf die Waffe gerichtet.
»Nehmen Sie sie.«
»Was?, Pfeiffer blickte schockiert auf den Mann, der eine zweite Pistole aus seiner Jackentasche zog und ihm mit dem Griff voran entgegenhielt.
»Nehmen Sie die Waffe und erschießen Sie Berger oder Ihre Tochter wird sterben. Sie haben 1 Minute.«
Entsetzen ließ Pfeiffers ganzen Körper eiskalt werden. Vor 20 Minuten hätte er Berger am liebsten erwürgt. Aber jetzt …
»40 Sekunden.«
Wieder sah Pfeiffer Marias vor Angst geweitete Augen vor sich. Hörte den Schuss. Eine Sekunde. Eine verdammte Sekunde zu langsam …
Das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Er packte die Waffe.
»Pfeiffer, bitte, Sie können doch nicht …«, hörte er Bergers flehende Stimme hinter sich. Er ignorierte ihn. Ignorierte das Grauen und die Schuldgefühle in seinem Inneren und drückte ab. Der Knall zerriss ihm beinahe das Trommelfell, Blut spritzte gegen die Tür in Bergers Rücken und er brach mit einem stummen »Oh« auf den Lippen vor ihm zusammen.
Taubheit ergriff Pfeiffers Körper und es war, als würde er sich selbst dabei zusehen, wie er sich wieder zu dem Fremden umdrehte. In seinen Ohren piepte es laut, seine Pupillen glichen zwei riesigen schwarzen Löchern.
Der Fremde ließ seine Waffe sinken und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
Ein ratschendes Geräusch drang durch das Pfeifen in Pfeiffers Ohren und sein unfokussierter Blick flackerte zu Marlene, die immer noch auf dem kalten Betonboden kniete.
Er hielt inne. Starrte seine Tochter an – vollkommen fassungslos.
Da waren keine Fesseln und kein Klebeband mehr. Stattdessen lag ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht.
»Gut gemacht, Papa.«

Sweety

„Unser Kind,“ jammerte Frau Berger.

Diese Schlampe, dachte Pfeiffer und vergewisserte sich: „Ihre Tochter?

„Ich habe keine Tochter mehr.“ Herr Berger hatte den Klapprechner zugeknallt und war in seinem Sessel versunken.

„Nicht schon wieder Richard. Sie ist unser Fleisch und Blut und ja – sie ist auf die schiefe Bahn geraten. Aber der Herr sagt: Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und …“ Pfeiffer fiel ihr harsch ins Wort.

„Wir haben keine Zeit zu beten, wir müssen überlegen was zu tun ist.“ Eigentlich war Christian völlig unmotiviert auch nur einen Finger für diese Marlene krumm zu machen. Wegen ihr war er in der Online Redaktion gelandet. Aber er witterte auch eine irre Story, die ihn im Verlag wieder hochspülen könnte. Er sah schon die Schlagzeile: Redakteur des Frankfurter Generalanzeiger rettet Geisel.

„Woher kennen sie Marlene?“ Berger sprach leise und kraftlos, als hätte er sich in sein, bzw. Merlenes Schicksal ergeben.

„Durch Recherche Arbeit für einen Artikel.“ Das war nicht mal gelogen, wenn auch nur ein Bruchteil der Wahrheit. Er war vor einem halben Jahr ins Rotlichtmilieu getaucht, auf der Suche nach inhaltlichem Futter für eine Serie der Wochenendausgabe, war er tagelang im Bahnhofsviertel unterwegs und hat in Abgründe geschaut. In der Moselstraße lernte er unter anderem Marlene kennen, mit Künstlernamen Sweety. Diese Süße mitsamt drei ihrer Kolleginnen buchte er kurzerhand für eine kleine Männerfeier. Magnus wollte einen lukrativen Abschluss feiern und beauftragte ihn für eine kleine Überraschung zu sorgen.

„Komm schon Christian, das feiern wir standesgemäß, lass mal deine Kontakte spielen.“ Die Feier begann in fröhlicher Vorfreude, wurde immer feuchter und endete für ihn, Christian, mit weißem Pulver zwischen den Zähnen und in der Nase. In dieser umnebelten Situation prahlte er vor Marlene damit, die Frau seines Chefs auch schon mal flach gelegt zu haben. Und diese Nutte hatte nichts Besseres zu tun als ihn damit zu erpressen, für 10.000 Euro würde sie das Beichtgeheimnis waren.

Er hatte nicht gezahlt und sie alles Magnus gesteckt.

„Magnus, du glaubst doch dieser Irren nicht mehr als mir,“ leugnete er noch in der direkten Konfrontation. Von dem Tag an wusste er was Mobbing ist und fand sich in der online Redaktion wieder, meilenweit von der gewohnten Etage entfernt.

Dorotheas schrille Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Richard, wir müssen zur Polizei.“

„Herr Pfeiffer, ich glaube das wäre wohl das Beste. Ich habe mit dieser Frau im Video nichts mehr zu tun. Mir steckt noch der Tote vor der Haustür in den Knochen. Und sie wollen doch sicher auch nicht ihr Leben riskieren für eine mehr oder weniger Unbekannte?“

Christian fühlte sich unvermittelt hilflos zwischen dem Hausherrn, der seine Tochter aus dem Bergerschen Paradies vertrieben hat und dessen Frau, die nun wieder das Ave-Maria betete.

Stimmt, was hatte er noch mit Sweety zu tun, soll sie doch zur Hölle fahren.

Jedoch – was war mit seiner Laufbahn? Er könnte groß rauskommen, wenn er hier dranbleibt. Andererseits war es nicht ungefährlich. Wer auch immer dahintersteckt war nicht zimperlich. Aber wieso Berger und er? Nur weil er mit Bergers verstoßener Tochter hautnahen Kontakt hatte erklärte die Taten nicht.

Was hatte er übersehen? Gab es womöglich eine Verbindung zwischen dem Toten hier im Vorgarten und seiner Maria? Was hatte es mit den 10.000 Euro auf sich, die Marlene auch von ihm erpressen wollte?

Pfeiffer war mit einem Mal absolut fokussiert. Er hatte es an Marias Grab versprochen, auch wenn er sich neben sie legen müsste. Er klappte den Laptop auf und schaute sich das Video mit scharf gestellten Augen noch einmal an und achtete dabei nicht auf Marlene, sondern auf das Drumherum. Schließlich stand er auf und pumpte seinen Schulterbereich auf.

„Berger, kommen sie, reißen sie sich zusammen. Wir müssen los.“

… Julie Burger saß im Home-Office über einer Online-Recherche zu ihrem neuen Projekt. Die Besuche bei Notausstieg.de und weiteren Communitys dieser Art kosteten ihre ganze Kraft. Ein Blick aus dem Fenster trug auch nicht gerade zu besserer Stimmung bei.
Hamburg im Herbst. Einer von den Tagen, an denen sich dort draußen verschiedenste Grautöne zu einer schmutzigen Brühe zusammenbrauten. Für die Augen nahezu undurchdringlich und für die Seele nur schwer auszuhalten.
Im Forum diskutierten die Todeswilligen endlos über sichere Selbsttötungsmethoden und warum ihr Leben nichts mehr wert war.

Julie war bei ihren Nachforschungen zu diesem Thema etwas aufgefallen. Eigentlich war es zu absurd, um wahr sein zu können. Trotzdem hatte sie das vage Gefühl, dass Kriminelle an diesem dusteren Ort Personen für irgendeine Schweinerei rekrutierten. Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten und die nur allzu gerne ihr Leben in die Waagschale warfen. Sie musste der Sache nachgehen.

Beängstigend passend zur Situation poppte plötzlich ein Fenster auf und spielte eine mit dem Handy gefilmte Szene ab. Dabei war nicht der Schuss das schockierendste Detail für Julie, sondern das Gesicht hinter der Tür. Sie hatte es gleich erkannt. Julie schlug sich die Hand vor den Mund und starrte mit großen Augen auf den Mann, bis das Bildschirmfenster wieder schwarz war. Ganze vierzehn Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Älter war er geworden, aber unverkennbar Richard Berger.

«Papa», murmelte sie, während ihr eine Träne an der Wange herablief.

Nachdem Julie sich ein wenig gefasst hatte, ließ sie einen starken Kaffee in der alten Maschine durchlaufen. Seinerzeit ein Geschenk von ihrem älteren Stiefbruder Chris zu ihrem ersten Job als Journalistin. Oh Gott, wie lange war das schon her … Und das alte Ding tat immer noch seinen Dienst. Die Kaffeemaschine war einer der wenigen Gegenstände, die sie damals aus ihrem alten Leben hatte hinüberretten können.
Die Geldforderung von zehntausend Euro in dem Video ließ Julie aufhorchen. Das entsprach genau der Summe der damals ausgesetzten Belohnung für Hinweise zur Ergreifung des Mafia-Killers. War das Zufall?
Wie Julie es auch drehte und wendete, das Video mit dem Verbrechen in Frankfurt war eine Botschaft an sie. Sie wollten sie aus ihrer Deckung locken.

Was sollte sie jetzt tun? Nach Frankfurt fahren? Sich an die Polizei wenden?

Und dann war da noch Chris. Hoffentlich ließen sie wenigsten ihn aus der Sache raus. Doch womöglich befand auch er sich längst in Gefahr. Er und Richard waren damals ihre engsten Angehörigen gewesen. Mutter und Stiefvater waren gemeinsam mit dem Auto tödlich verunglückt. Das schreckliche Ereignis hatte sie und ihren Stiefbruder noch enger zusammengeschweißt.
Täglich spürte sie den Schmerz darüber, die beiden ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung zurücklassen zu müssen, um sich weit entfernt von Frankfurt unter einer anderen Identität eine neue Existenz aufzubauen. Man hatte ihr zugesichert, im Zeugenschutz ungefährdet leben zu können.

Just in dem Moment poppte erneut ein Video auf Julies Bildschirm auf.
Wieder eine Handy-Aufnahme. Man sah, wie sich eine Frau im roten Mantel auf offener Straße erschoss. Parallel dazu lief die Aufzeichnung eines unfassbaren Telefongesprächs, in dem der Täter einen Online-Redakteur massiv unter Druck setzte. Die Gesprächspartner waren nicht im Video zu sehen. Aber diese Stimme – die Stimme des Zeitungsmitarbeiters ließ Julie den Atem stocken.

Sie sollte schnellstmöglich abtauchen! Nur das Allernötigste warf sie in die nächstbeste Tasche und buchte ein Hotelzimmer. Natürlich nicht online, sondern direkt vor Ort. Unterwegs achtete sie sorgfältig darauf, nicht verfolgt zu werden. In der Nacht könnte sie über ihr weiteres Vorgehen nachdenken.
Am nächsten morgen war die Frau aus Zimmer 111 verschwunden. Ihre Sachen hingegen lagen verstreut auf dem Bett.

Einige Tage später in einem Industriegebiet Nähe Frankfurt:

«He, aufwachen Marlene!» Ein Mann trat mit seinem handgenähten polierten Schuh gegen die Schulter der Frau, die auf einer fleckigen Matratze am Boden lag.

«Heute ist Familientreffen.»

Dorothea

Der Regen prasselte laut auf die Windschutzscheibe, zog wässrige Schlieren hinter sich her und verformte die Landschaft, die rasend schnell am Fenster vorbeiglitt.
Dorothea Berger starrte hinaus auf die graue Straße und umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Die Stimmung im Inneren des Wagens glich dem Wetter draußen.
Ihr Ehemann und Herr Pfeiffer saßen auf der Rückbank und schwiegen. Zu Anfang hatten die beiden den Schock noch verdauen müssen, den das Video in ihnen ausgelöst hatte, doch dann hatten sie recht schnell herausgefunden, was die Frau auf dem Video mit ihnen beiden verband.
„Sie ist meine Vorgesetzte“, hatte Herr Pfeiffer erzählt, während er sich seine Jacke überzog, damit sie zu der Adresse fahren konnten, die am Ende des Videos auf dem Bildschirm aufgeblinkt war. „Dummerweise hatte ich mich erst neulich dazu überwunden, Sie nach einem Date zu fragen. Und jetzt wurde ich in die Online-Redaktion verbannt.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Dass sie aber in die Fänge dieses Irren gerät, hätte ich ihr nie gewünscht.“
„Ich“, stotterte Dorotheas Ehemann dann. „Ich kenne sie nur flüchtig. Eine Bekannte.“
Sein Blick zitterte dabei immer wieder in Dorotheas Richtung. Als er sich sicher war, dass Dorothea nicht hinhörte, flüsterte er schnell: „Eine gute Bekannte.“
Eine gute Bekannte? Dorothea knirschte mit den Zähnen und setzte den Blinker etwas kraftvoller als nötig gewesen wäre. Natürlich hatte sie hingehört. Und natürlich wusste sie bereits, dass diese Frau für ihren Mann weit mehr als nur eine gute Bekannte war. Denn sie hörte immer hin. Auch bei den Telefonaten mit angeblichen Arbeitskollegen, die Richard leise im Wohnzimmer noch weit nach sechzehn Uhr führte. Und im Gegensatz zu den beiden Männern auf der Rückbank, befand Dorothea, dass Marlene im Moment an genau dem richtigen Ort war.
Jemand tippte ihr von hinten auf die Schulter. Sie zuckte zusammen.
"Wie weit ist es noch?“, fragte ihr Ehemann und rutschte angespannt auf dem Sitz herum. Dorothea verkniff sich ein genervtes Augenrollen.
„Gleich da“, antwortete sie ruhig. Dann bog sie auf eine Schotterstraße ein.
Schon nach wenigen Hundert Metern kam ein heruntergekommenes Wohnhaus in Sicht. Rumpelnd kam das Auto zum Stehen. Schweigend starrten sie auf die Wände, deren einst weiße Farbe zu einem Braun-Grau geworden war.
„Hier ist es“, stellte Pfeiffer das Offensichtliche fest. „Was nun?“
Da spürte Dorothea das Vibrieren ihres Handys an ihrem Bein. Zufrieden löste sie ihren Gurt.
„Jetzt steigen wir erstmal alle aus.“

Dorothea

Der Plan läuft aus dem Ruder! Theo läuft aus dem Ruder!

Vanessa, melde dich. Bitte … du musst ihn aufhalten. Ich hätte mich niemals auf ihren Plan einlassen dürfen. Aber unsere Begegnung in der Entzugsklinik erschien mir als göttliche Fügung. Der Plan als Weg, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen, meine Ehe zu retten, mein Zuhause! Vor allem um Richard wieder zur Vernunft zu bringen, ihn aus den Fängen dieser Schlange zu befreien. Es ist ihre Schuld, dass Richard sich von mir entfernt hat, weiter und weiter. Die Scheidung wäre mein Ende, der Sturz über die Klippe. Alles war gut, bis SIE auftauchte. Marlene.

Erschöpft sank Dorothea auf das cremeweiße Sofa. Ihre Hände zitterten, sie musste sich konzentrieren, damit ihr das Handy nicht entglitt. Verzweifelt starrte sie auf das Display, murmelte Beschwörungsformeln. Vanessa, melde dich!

Erbarmungsloses Klingeln … hätte sie doch Theos Handynummer. Vanessa hatte sich geweigert, ihr die Nummer zu geben. Das sei sicherer, damit Richard keinen Verdacht schöpfen könne. Ein gutes Argument. Doch jetzt …

Wenn Richard herausfindet, dass ich mit Marlenes Entführung zu tun habe … Oh Gott, das wäre das Ende, mein Ende. Sein Hass wäre unerträglich.

Dorotheas Atem beschleunigte sich, ihr Gesicht brannte vor Scham. Der Anblick von Marlene, wehrlos, erniedrigt … Er hatte Genugtuung in ihr ausgelöst. Genau so erniedrigt, hatte sie sich gefühlt, als sie Richards Affäre entdeckte, das Antwortschreiben seines Anwalts fand, wie teuer ihn eine Scheidung von ihr zu stehen käme. Dorothea war zusammengebrochen, doch bis Richard am Abend nach Hause kam, hatte sie sich wieder gefasst. Kochte wochenlang seine Lieblingsessen, achtete auf ihr Äußeres, flirtete mit ihm, erfolglos. Bis Richard mitbekam, dass Dorothea ihre Verzweiflung in Wodka ertränkte, war sie tief in die Abhängigkeit gerutscht. Statt ihn zurückzugewinnen, hatte sie ihm einen weiteren Scheidungsgrund geliefert.

„Ja…“ Vanessas schnarrende Stimme schreckte Dorothea aus den düsteren Erinnerungen.

„Du musst Theo aufhalten!“

„Waas …“

Verdammt. Sie hat getrunken. „Vanessa! Es ist wichtig! Theo! Du musst ihn aufhalten! Er hat Marlene entführt, das …“

„Die Hure?“

„Vanessa! Wenn Richard herausfindet, dass … Theo darf ihr nichts antun … Das war nicht abgemacht. Ich hätte diesem Plan niemals zustimmen dürfen.“

Ein freudloses Lachen hallte Dorothea entgegen.

„Mein Sohn tut das für dich!“ Vanessas Stimme war plötzlich messerscharf, mit aller Willenskraft hatte sie den Nebel ihres Alkoholrausches verdrängt. Sie würde ihren Sohn schützen! „Wenn du Theo verrätst,“ zischte sie drohend, „wird Richard erfahren, dass es dein Plan war! “

„Das ist nicht wahr!“

„Wen interessiert das? Theos Plan ist perfekt. Hast du der Enkelin von dem Alten schon das Geld geschickt?“

Die Kälte in Vanessas Stimme raubte Dorothea den Atem.

„Doro? Bist du noch dran?“

Langsam Ausatmen, die Panik wegatmen. Das war der Rat ihres Therapeuten. Dorothea schaffte es, bei Sinnen zu bleiben, trotz Rauschen im Kopf und Herzrasen. Es kostete sie jede Faser ihrer Willenskraft.

„Der Plan war perfekt.“, presste sie hervor. „Die Entführung von Marlene war nie Teil des Plans. Gib mir Theos Nummer!“

„Warum sollen nur die Männer bestraft werden. Die Hure hat es verdient. Meine Ehe hat mich zerstört, die Untreue, die Erniedrigung. Wir werden dich retten Dorothea. Vertraue uns.“

„VANESSA!“

Aufgelegt. Ich habe den Teufel von der Leine gelassen. Theo ist wahnsinnig, Vanessa schützt ihn. Ich war verblendet von Eifersucht, der Angst mein Leben zu verlieren, mein Zuhause. Theos Plan schien so einfach und genial, einen Freiwilligen bei der Gesellschaft für humanes Sterben zu finden, ihn mit dem Angebot zu locken, er könne mit seinem Suizid die Erbschaft seiner Hinterbliebenen aufbessern. Der alte Mann war sofort bereit, behauptete Theo. Die Enkelin bräuchte unbedingt Unterstützung für ihr Studium. 10.000 €. Das Video sollte Richard zum Buh-Mann machen, geächtet für seine Hartherzigkeit. Es hat funktioniert. Richard war in der letzten Woche so dankbar, dass ich nicht von seiner Seite gewichen bin. Anfeindungen getrotzt habe. Das Ziel ist erreicht. Warum macht Theo weiter? Und warum musste die Ex dieses Journalisten sterben? Was hat Pfeiffer mit Marlene zu tun? Pfeiffer war nützlich für die Verbreitung des Videos. Doch Marias Schuss ging los, als das Video bereits hochlud …

Ich muss Theo aufhalten.

Dorothea nahm mit spitzen Fingern den Schmierzettel vom Tisch, auf den Richard die Koordinaten des Treffpunktes gekritzelt hatte. Sie hielt ihn vor sich wie ein ekelhaftes Insekt. Packte mit der linken Hand Autoschlüssel und Handy. Mir bleibt keine Wahl.

Theo

Flackerndes Scheinwerferlicht näherte sich dem verlassenen Firmengelände über die von Schlaglöchern zersetzte Zufahrt. Theo scannte das Gelände mit dem Nachtsichtfernrohr ab.

Sie sind allein. Mein Plan funktioniert wie ein Uhrwerk!

Euphorie wallte durch Theos Blutbahnen bis in sein Glied. Theo genoss das angenehme Prickeln, das Gefühl von Macht. Drei Schuldige und es war an ihm das Urteil zu fällen.

Das Auto hielt. Die Türen öffneten sich.

„Licht aus!“, rief Theo vom Dach herunter.

Das Scheinwerferlicht erlosch.

Theo beobachtete, wie die zwei Männer ausstiegen. Der Fahrer verharrte abwartend am Auto, der andere näherte sich dem Gebäude. Das muss Pfeiffer sein .

Theo eilte fiebrig die Treppe hinunter. Das Spiel kann beginnen!

Dorothea
Die blonde Frau entfesselte sich fix selbst, riss sich das Klebeband vom Mund und fluchte. Es musste nur echt genug aussehen. Der Mensch sieht, was er sehen will. Hände hinterm Rücken sieht man nicht, aber im Kopf sieht man sie gefesselt. Ein Teil der Maske dehnte sich endlos und klatschte zurück in ihr Gesicht. Patsch! Es zog in die Wange wie eine Ohrfeige.
«Verfluchtes Panzertape.»
Ihr Gesicht ließ erkennen, wie sehr es sich anstrengte nicht zu explodieren und alles im Raum umzuwerfen. Ein paarmal traten ihre Füße in die Luft vor die Tischplatte und stampften auf die Dielen, dass die beiden Gläser mit Orangenlimo wackelten.
«Lina, bitte», sagte die Männerstimme, die immer noch nach Kind klang.
«Lina bitte.» Sie äffte ihn nach in einer langgezogenen Tonlage.
«Bitte was? Willst du nicht das es besser, wird?»
«Wird schon funktionieren. Du bist eine echt gute Marlene, hmhm. Timo schwört dir. Diesmal klappt es.» Der Junge strahlte sie an und leckte über die Schwurfinger.
«Ecklig, lass das.»
Er grinste etwas zu breit dabei, das brachte sie noch mehr in Rage. Es war alles so ungerecht und ihre Wut darüber konnte nirgendwo hin. Sie musste diese Muster verlassen, damit aufhören sich von ihnen regieren zu lassen.
«Ich schwöre dir auch etwas. Ich schwöre dir, wenn es nicht klappt, wenn es diesmal nicht klappt, dann liegst du hier im Dreck gefesselt und geknebelt mit einer Scheißlatexmaske auf, die ich dir mit Sekundenkleber ins Gesicht klebe! Das wird passieren. Bete lieber! Hier!» Sie warf ein Buch, eine Bibel flatterte zu ihm wie ein angeschossener Wildvogel und hackte ihm die Ecke ins Gesicht wie ein Schnabelhieb.
«Mann Lina. Scheiße Mann Lina, Timo gibt sein Bestes, okay?»
«Pfft. Dein Bestes. Sag noch einmal Mann zu mir und ich trete dir in den Unterschied. Dann weißt du, warum ich deine große Schwester bin. Manchmal denke ich, Mutter hatte recht, sie hätten dich nicht zurückholen dürfen. Du warst schon tot, stell dir das mal vor, verdammt.»
«Sag das nicht immer. Du machst mir Angst.»
«Ist aber so. Da wäre dir viel erspart geblieben, all der Schmerz, wo sollst du noch damit hin, Baby? All der Schmerz. Ich kann es kaum noch ertragen, dich so leiden zu sehen.» Sie zündete sich eine Zigarette an und hüllte ihn in eine Wolke.
Timo schluckte hörbar und sein Hals wirkte, als würde ein Pingpong hinduchwandern.
«Linaaa? Duhu?»
«Was denn noch?»
«Ich kann Frau Berger für dich anrufen. Lina, echt, kein Problem für Timo. Ich hab auch mit Professor Paulsen ganz allein telefoniert.»
«Ja hast du, und ist richtig in die Hose gegangen, falls du dich erinnerst?»
Lina sah ihn an, die zerzausten Haare die in süßen gedrehten Löckchen endeten, sein ewig breites Grinsen, bei allem. Gott, er hatte sich sogar angewöhnt, bei Schmerz zu grinsen, manchmal lachte er ihn weg. Seine eigene Methode, mit den Behandlungen umzugehen. Sie strich ihm übers Haar.
«Mein süßer kleiner Bruder, Professor Paulsen ist nur ein Handlanger. Ein Nichts. Dorothea Berger ist die Hexe. Die schlimmste Person, die je ein Fuß auf diesen Planeten gesetzt hat. Und dieser Dämon hat freien Zugang zum Medizinschrank der Wissenschaft. Hat Patente angemeldet. Patente, von denen du malle geworden bist!»
Ihre Hand streichelte jetzt sanft über seinen Nacken. Ihr Herz beruhigte sich, ihr impulsives Gemüt sank auf den Grund wie schweres Sediment im Meer. Unversehens rollte eine Träne aus dem Augenwinkel. Ja, sie hatten ihn zurückgeholt, doch wenn du die Überfahrt bezahlt hast, dem Fährmann seinen Lohn gegeben hast, dann will die andere Seite dich nicht mehr hergeben. Sie hatten irgendetwas zurückgeholt, ein Stück Bruder, einen Fetzen, ein achtel Hirn, dessen Herz immer noch am rechten Fleck schlug. Was zurückgekommen war, war ein ausgewachsener Mann, der im Kopf ein Junge war, mit einem Körper, der nicht das tun konnte, was ein Junge mit seinem Körper tun möchte.
Sie griff den Rollstuhl und schob ihn näher ans Feuer.
«Ach Timolein, mein kleiner unschuldiger Engel, wenn doch schon alles vorbei wäre. Es tut mir so leid, ich wollte dich nicht anschreien. Manchmal ist es ach,…warum ist nur alles so schwer?»
«Schwer ist egal, Lina. Wir leben gern, oder? Jeder Tag ein Geschenk, oder? Hast du immer gesagt! Weißt du doch. Timo liebt seine Schwester. Lina ist ein Goldstück. Mama hat nicht recht, sie war böse. Immer nur so so böse zu uns. Genau wie Frau Berger.»
«Pssst. Denk nicht an die beiden, sie haben unsere Gedanken nicht verdient. Nicht einen einzigen. Wir halten uns an ihren Mann. Er wird das Geld besorgen müssen. Sie denken, wir haben Marlene in unserer Gewalt.»Timo lachte schräg, schaute unsicher, fast ängstlich.
«Sind wir böse? Lina? Wird Gott und bestrafen?»
«Gott? Sieh dich an Schatz, wie viel Strafe soll er noch über dich schütten. Ne, mein Lieber, du hast schon zehnfach bezahlt, du hast Freikarten. Zahlen werden jetzt mal die Schuldigen.»
Ihre Arme umschlossen ihn und sie standen einen Moment eng und innig wie ein Körper, fühlten sich atmen und spürten das Herz des anderen schlagen. Leben. Ja Leben, wie auch immer es sich gerade anfühlte, es war ein Leben. Und jedes Leben ist es ein Geschenk. Jeder Tag ist ein wertvolles Geschenk. Kaum hatte sie das gedacht, rollte Timo ein kleines Papier vor ihrem Gesicht aus.
«Timo betet für dich.» Sie grabschte es aus der Luft weg und las. Dann weinte sie. Wie konnte jemand, der so viel Schmerz ertragen hatte, trotzdem so viel Liebe für andere in sich tragen? Oder war es gerade deshalb? Sie war froh darüber, nur noch verschwommen zu sehen, denn sie konnte unmöglich alles lesen, die Zeilen hätten sie in endloses Schluchzen gestürzt. Er konnte so wunderschön schreiben. Als würde er sein komplettes Herz mit Worten auf die Seiten pinseln.
«Wäre ich damals nur dabei gewesen, ich hätte dieser Kurpfuscherin die Spitze in ihren eigenen Arsch gerammt.» Lina schüttelte den Kopf, ballte die Faust und schlug sie in ihre Handfläche. Dabei wiederholte in den Arsch gerammt noch zweimal.
«Es ist Bergers schuld. Diese geldgierigen Teufel. Sie werden die Rechnung begleichen. So oder so.»
«Maria ist tot», sagte Timo. Er schaute geschockt mit großen Augen, als wäre es gerade passiert. Er mochte das Schulthema nicht, weil es nie ein Ende nimmt.
«Ja Baby, Maria ist tot und dieser Pfeiffer sitzt bei Bergers und palavert sich seine schwarze Seele aus dem Leib. Wie sind die Kugeln in die Waffen gekommen, häh? Wer? Es kann nur die Hexe sein. Diese Frau geht über Leichen.»
«Ich hab es gesagt, falsche Kugeln. Timo hat es gesehen. Maria ist tot, aber ich hab es rechtzeitig gesagt, falsche Kugeln!»
«Ich weiß, Baby. Ich weiß! Mein Bruder mit dem zweiten Gesicht. Und hast du auch gesehen, wer es war? Ich weiß nämlich, wer es war.»
«Alles gesehen. Ich hab alles gesehen. Besser jetzt anrufen. Sofort anrufen. Timo macht das.»
Bevor Lina was sagen konnte, piepte Timos Handy schon. Sie schrie noch ein schroffes Nein, aber jemand nahm den Anruf bereits an.
«Pfeiffer? Wo brennt es? Ich bin im Meeting. Komm mach! Name sagen oder auflegen.»
«Laufen. Schnell! Timo sieht deinen Tod.»
«Zur Hölle, wer spricht da? Melde dich mit Namen oder lass es. Du Pfeife.»
Pfeiffer hörte sich an, als würde er auflegen wollen, doch dann hörte Timo zwei andere Stimmen. Lina legte den Zeigefinger auf Timos Lippen und sie hörten mit.
«Ihr Journalisten, keine Manieren. Handy bei Tisch gab es bei uns nicht», sagte die Stimme, die Lina und Timo als Dorothea Bergers erkannten. Sie hörten klimpern von Kaffeegeschirr, umrühren, Fragen nach Milch und Zucker. Wieder Rühren. «Dorothea ist streng aristokratisch erzogen, das müssen sie wissen, wenn sie als Gast in unserem Hause überleben wollen, Pfeiffer», sagte Berger.
«Ein Scherzanruf entschuldigen sie bitte.», sagte Pfeiffer.
«So nennt man Affären heute? Scherzanrufe? Sie sind und sie bleiben mir ewig unsympathisch Pfeiffer. Aber sei’s drum, mit dem Thema hat es nichts zu tun und wenns durch ist, sehen wir sie nie wieder.»
«Worauf sie einen, hm, hm ich meine, worauf sie Gift nehmen können.»
«Weder noch Pfeiffer. Nun, was wissen sie über die Hintergründe des Geschehens. Bringen sie uns etwas Licht in die Sache oder bringen sie einzig ihre schlechte Erziehung mit?»
«Hm, hm, sie wissen genauso gut wie ich, Frau Berger, was damals vorgefallen ist. Und es ist mehr als ein Verdacht, dass da jemand die Sache von hinter abrollt, dieser Teppich an alten Geschichten kann uns also alle begraben.»
«Wovon redet er Schatz? Marlene? Hat es was mit ihr zu tun? Ich erwarte eine Erklärung.»
«Entschuldige uns kurz Christian, du kannst später noch genug erwarten, ich möchte ein paar Worte mit Herrn Pfeffer allein sprechen. Geh deinen Kopf lüften, kannst es brauchen, die Luft ist klar draußen. Mach schon.» Sie wedelte ihn mit eindeutigen Handbewegungen aus dem Raum. Berger trotte sich wie ein gut erzogener Hund hinaus.
«Was wissen sie Pfeiffer. Ich brauche ihre Informationen. Wo sind die Dokumente über die Sache?»
«Frau Berger, wenn ich ihnen meine Trümpfe in die Hand gebe, bin ich der nächste auf ihrer Liste. Ich kann ihnen versichern, die Daten sind Safe. Niemand wird je über ihre kranken medizinischen Versuchsreihen erfahren. Ihren Impfdreck, den sie zu Millionen verhökert haben.»
«Trümpfe? Sie spielen selbst mit allen Trümpfen wie ein Stümper. Sehen sie das hier? Es ist ein Gegengift. Das könnte ich ihnen verabreichen, wenn sie mir sagen, was ich hören möchte.»
«Was? Du verfluchte Hexe.»
«Die Uhr tickt. Spüren sie schon das Kribbeln in den Gliedern. Jetzt müsste es bereits in allen Extremitäten angekommen sein. Spüren sie die Müdigkeit. Antworten sie mir, solange sie noch können, denn ihre Zunge wird gleich anschwellen und sie werden einschafen und ersticken. Was ich verhindern könnte. Nur ich!»

Timo schüttelte den Kopf. Ein stummes Nein. Er sah seine Schwester, an die seine Gedanken lesen konnte. «Wir werden nicht da rüber gehen, ganz sicher nicht», flüsterte sie.
Eine Zeitlang war schweigen. Berger sagte tschau bis gleich.
«Vielleicht noch einen letzten Kaffee?»
«Mir wird schlecht. Ich bin so, …müde. Bitte, geben sie mir das Fläschchen.»
«Dummer Schmierfink! Meinst du es, ist ein orales Serum. Ich fülle es jetzt in die Spritze und kann es noch rechtzeitig injizieren. Daten? Sind sie im Büro, auf einem Stick, auf deinem Stümper PC. Sag es!»
Ein Stöhnen. Dann Stille. Ein Schrei, Au.
«Was ist das denn? Dieser verfluchte Schmierfink hat sein Handy an, …he wer ist dran?»
Lina tippte auf den roten Button. Das Gespräch war weg. «Gib schon her.»Sie riss Timo das Handy aus der Hand und schnippe die Sim - karte raus. Dann löset sie den Akku.
«Timo?» Er hing am Fenster und lugte durch den Spalt der Gardinen vom zweiten Stockwerk hinunter zum Haus der Bergers. «Verschwinde vom Fenster. Verschwinde da.», sagte Lina.
Vorn auf dem Gehsteig parlierte der Berger unter der Laterne auf und ab.
Dann zuckte Timo zurück.
«Ah! Sie hat geschaut. Sie hat mich angeschaut, direkt in Timos Augen.»

Ein Moment vollkommener Stille hielt die Zeit an.

Die Männer sahen sich perplex an und Frau Berger sie beide.
„Wer ist Marlene?“ fragte sie fassungslos, dabei wurden ihre Augen schmal und ihr Körper straffte sich merkbar. Ein Zeichen dafür, dass sich Wut zu ihrem Entsetzen gesellte.
Das Schweigen,das nun folgte, war eines von der Sorte, das das Unbehagen steigert, je länger es anhält.
Herr Berger war der erste, der die Nerven verlor. Er senkte den Kopf, um seiner Frau nicht in die Augen sehen zu müssen. Seine Finger spielten an der Bügelfalte seiner Jeans.
„Ich kenne sie aus der Zeit, als wir die neuen Anlagen im östlichen Mittelmeer für das Büro geprüft haben.“ Defensiver konnte kein Ton sein, offensichtlicher konnte man ein schlechtes Gewissen nicht zur Schau stellen. Es war spürbar, wie sich in Sekunden die Stimmung im Raum geändert hatte.
Frau Berger atmete tief ein und bemühte sich sichtlich, nicht die Fassung zu verlieren. „Herr Pfeiffer, was soll das alles hier? Ich verstehe das nicht. Wer ist die Frau? Was um Gottes willen ist ihr zugestoßen?“
Christian Pfeiffer durfte nicht preisgeben, was er wusste. Das war ein anderes Leben gewesen. Was ihn mit Marlene Fabiani verband, ging hier keinen etwas an. Sie war in Gefahr, und eine zweite Frau würde er nicht im Stich lassen. Sie hatten sich immer aufeinander verlassen können.
Schluss mit Nebensachen und zurück zum Wesentlichen: Ihrer Aufgabe!
Er war schon so lange im Job, hatte in der Realität so viel gesehen, nicht nur aus der Retorte online. Er würde einen kühlen Kopf behalten! Darauf kam es jetzt an, das wusste er. Auf IHN kam es jetzt an!
Er schob seine Tasse ruckartig von sich weg, sodass der Kaffee überschwappte und einen größer werdenden braunen Fleck auf dem weißem Damast hinterließ. Er schnappte sich das Diensthandy, legte es vor sich auf den Tisch und öffnete eine Kartenapp.
„Diktieren Sie mir den Straßennamen!“ Forderte er resolut.
„Letzte Pappel 80-92.“ Kam es kieksend von Herrn Berger.
Verfluchte winzige Tastatur! Dachte Pfeiffer. Seine breiten Finger mühten sich mit den kleinen Touchfeldern ab. Langsam, viel zu langsam baute sich ein Kartenausschnitt auf.
Er sah, dass sie die halbe Stadt würden durchqueren müssen, und fing an, flacher zu atmen. Ein schneller Blick auf seine alte Casio zeigte ihm, dass das Ultimatum kein weiteres Zögern erlauben würde. Die Bergers hatte er darüber fast vergessen.
In einer einzigen Bewegung sprang er auf, griff nach Handy und Autoschlüssel. Dann schnappte er seine Jacke im Hinauslaufen von der Garderobe und rief hinter sich; “Kommen Sie, Mann!“
Ohne zu beachten, was hinter ihm vorging, hetzte er zu seinem alten VW Golf. In diesem Moment hasste er sich für all seine kleinen manierierten Trotzigkeiten, wie die fehlende Fernbedienung oder kein Navi zu wollen.
Da hupte es neben ihm. Frau Berger starrte ihn vom Steuer eines penibel gepflegten Kleinwagens entschlossenen an.“Kommen Sie! Ich habe ein Navi!“ Pfeiffer zuckte zusammen, nicht nur wegen des lauten Geräusches, sondern weil er sich in seinen Gedanken belauscht fühlte.
Ihr Körper war angespannt, wie eine Bogensehne. Ihr Mann hockte zusammengesunken auf der Rückbank. Dort starrte er vorn übergebeugt in den Fußraum.

Er rannte um die Kühlerhaube und sprang auf den Beifahrersitz. Noch während er seine Tür schloss, legte Frau Berger einen Kavalierstart hin. Er musste sie nicht fragen, ob sie würde fahren können. Ihre rasanten Manöver und ihr konzentrierter Blick sprachen für sich.
Marlene Fabiani, meine Güte. Dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen würden, hätte ich nie für möglich gehalten, dachte Pfeiffer, während er sich an den seitlichen Griff der Tür klammerte. Die schöne Marlene - fast hätte er sie vorhin nicht erkannt so zerschunden und …hilflos.
Er hatte die ganze Fahrt über die Uhr nicht aus den Augen gelassen.
19.58 Uhr noch 7 Minuten. Das Navi zeigte das kleine Zielfähnchen um 20.06 Uhr. Sein Kiefer spannte sich an, weil er die Zähne so fest aufeinander biss. Er würde wieder zu spät kommen.
20.00 Uhr noch 5 Minuten. Das Fähnchen stand jetzt bei 20.05 Uhr.
Die zusammengekniffenen Lippen von Frau Berger waren weiß.
20.03 Uhr „Sie haben ihr Ziel erreicht!“ Sagte eine mechanische Stimme, aber das hörte Pfeiffer schon nicht mehr. Er war aus dem Wagen gestürzt und hatte nur:“Los Berger!“ gebrüllt.
Er rannte über einen mit Müll übersäten Vorplatz auf eine schmutzige Metalltür zu. Mit Stickern beklebt, mit Graffitis besprüht und verbeult. Als er sie aufriss erwartete ihn dahinter absolute Dunkelheit. Er prallte dagegen wie gegen eine Wand.
Nach nur einem Atemzug stürmte er einfach hinein und im selben Augenblick hörte einen markerschütternden Schrei, einen lauten Knall und eine Lautsprecheransage: „Es ist 20.00 Uhr und 5 Minuten und 34 Sekunden!“

Fata Morgana

Die letzten Reste des Tages färben das Dach der Industriehalle in einem dunklen rot. Blutrot. Richard Berger hatte das eiserne Eingangstor ununterbrochen beobachtet, seit er gemeinsam mit diesem Journalisten vor einer Stunde angekommen war. Seine Augen brannten, doch er wagte es nicht, unaufmerksam zu werden. Jeden Moment konnte etwas Entscheidendes passieren.
Auf dem Beifahrersitz neben ihm saß Pfeiffer und blickte durch ein Fernglas. Doro hatte zwar ebenfalls darauf bestanden, die beiden zu begleiten, doch Richard konnte das nicht zulassen. Nachdem, was Pfeiffer widerfahren war, wollte er seine Frau auf keinen Fall dieser Gefahr aussetzen. Sie hatte widersprochen (nicht gerade leise), doch er war unnachgiebig geblieben und so hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie zu Hause bleiben würde – unter der Bedingung, dass sie um Punkt 21 Uhr die Polizei rufen würde, sollte sie vorher kein Lebenszeichen von Richard erhalten. Das war nur fair, dachte sich Richard, schließlich hatte sie keine einzige Frage zu meiner Verbindung zu Marlene gestellt. Er hatte jedoch in ihren Augen gesehen, dass ihm das noch bevorstand.
»Wie lange sind Sie und Dorothea eigentlich schon verheiratet?«, brach Pfeiffer das Schweigen, ohne das Fernglas abzusetzen.
»Nächsten Mai werden es 25 Jahre.«
»Und hatten Sie je andere Beziehungen?«
»Ein oder zwei schon«, er fügte schnell hinzu: »Aber das ist lange her.« Außer Marlene natürlich.
Pfeiffer gab ein kleines Lachen von sich, das überhaupt nicht ehrlich klang. Richard zögerte einen Augenblick, rang mit sich selbst, dann: »Und … Maria und Sie … wie lange?«
»Zu kurz.«
»Ich … tut mir leid.«
Pfeiffer senkte das Fernglas und drehte sich dann langsam zu Richard. Seine blauen Augen fixierten ihn kalt.
»Ihnen muss das nicht leidtun, aber ich schwöre Ihnen, wer auch immer da drinnen-«. Er verstummte schlagartig und griff wieder nach dem Fernglas.

Die nächste halbe Stunde verbrachten die beiden wieder in schweigender Erwartung. Nichts regte sich in der Halle. Richards Armbanduhr gab ein Piepsen von sich; er hatte einen Wecker für 20 Uhr gestellt. Er blickte zu Pfeiffer, der die unausgesprochene Frage mit einem Nicken beantwortete. Richard startete den Wagen.
Sie parkten direkt vor dem großen Eingang. Der soll uns ruhig kommen hören, dann lässt er Marlene in Ruhe. Richard war sich nicht sicher, ob er das wirklich dachte oder einfach nur hoffte. Pfeiffer öffnete das quietschende Tor – es war unverschlossen.
Im Innern war es dunkel und der Geruch von Metall und Abgasen lag schwer in der Luft. Richard zückte sein Handy und aktivierte die Taschenlampe. Die Halle war noch größer, als sie von außen den Anschein gehabt hatte. Überall lag Schrott und Geröll auf dem Boden. Richard ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Raum wandern.
»Da hinten ist etwas«, flüsterte Pfeiffer.
Oder jemand, dachte Richard.
Sie gingen vorsichtig in die Richtung, in die Pfeiffer gezeigt hatte. Je näher sie kamen, desto mehr gab die Dunkelheit preis: ein loser Frauenschuh; dann das Ende eines Seils, das schließlich – um die Beine einer Frau gewickelt – endete.
Dort lag Marlene. Genau wie im Video. Ihre Augen vor Angst geweitet.
Gleichzeitig stürzten Richard und Pfeiffer zu ihr. Pfeiffer entfernte die Fesseln; Richard das Tape vor ihrem Mund. Sie rang sofort nach Luft.
Die beiden Männer halfen ihr, sich aufzusetzen.
»Marlene, geht es dir gut? Bist du verletzt?«, fragte Richard. Sie schaute ihn an und schien erst jetzt zu erkennen, wer sie da gerettet hatte.
»Richard? Christian? Was macht ihr denn hier?« Dann: »Ihr solltet nicht hier sein! Sie könnten jeden Moment-«
Ein Lichtblitz, gefolgt von einem lauten Knall. Richard spürte ein Stechen in Nase und Hals, dann verschluckte ihn die Dunkelheit um sich herum.

Richard versuchte, die Augen zu öffnen, doch seine Lider fühlten sich so schwer an. Unter größter Anstrengung schaffte er es, sie ein klein wenig anzuheben. Sofort wurde er von hellem Licht geblendet; die Welt um ihn herum zog Schlieren. Er erkannte die Umrisse von Personen. Vor ihm tauchte ein Gesicht auf. Doro? Das ist nicht möglich. Das muss eine Fata Morgana sein. Er konnte seine Augen nicht länger offen halten. Die Dunkelheit kehrte zurück und das Gesicht seiner Frau verschwand in ihr.

»Aufwachen! Genug geschlafen!«
Richard zuckte zusammen. Sein Kopf dröhnte. Ansonsten war die Wirkung des Gases, das ihn betäubt hatte, jedoch vollständig verflogen und er konnte wieder klar sehen. Er befand sich immer noch in der Industriehalle, jedoch waren die Deckenlampen eingeschaltet und füllten den Raum mit einem kaltweißen Licht. Richard versuchte sich zu bewegen, musste jedoch feststellen, dass er an einen Stuhl gefesselt war. Neben ihm ertönte ein Stöhnen. Richard drehte sich in Richtung des Geräuschs und sah Pfeiffer – in der gleichen Verfassung wie er selbst. Ein kurzer Blick.
»Hallo, hallo! Wie schön, dass ihr endlich wach seid.«
Eine Hand legte sich von hinten auf Richards Schulter und gab ihm einen leichten Klaps. Da stand er: blondes Haar, eisblaue Augen, kaum älter als 20. Der junge Mann, der keine Woche zuvor in Richards Garten gefilmt hatte, wie sich ein Mann in den Kopf schoss. Er bedachte Richard und Pfeiffer mit einem breiten Lächeln.
»Wie lange habe ich mich schon auf diesen Tag gefreut. Nach all dieser Zeit.«
In diesem Moment erkannte Richard es. Der Junge lächelte ihn an.
»Endlich lerne ich meinen Vater kennen.«

Das Filmchen zeigte nun ein Standbild mit dem Gesicht von Marlene und den Worten „Kapiert Ihr es endlich?“

Sekundenlang starrten sich die beiden Männer an, unfähig, ihre Fragen zu formulieren.

Pfeiffer fing sich zuerst: „Woher kennen Sie sie?“

„Arbeit“, bellte Berger. „Und Sie?“

„Arbeit“, echote Pfeiffer trocken. Er schnaufte durch, dann fügte er hinzu, „Wir sind Kollegen.“

Berger schluckte trocken. „Sie hat Artikel über uns geschrieben. Sie wissen schon: Die Sorte Artikel, die in der Nähe doppelseitiger Annoncen wohnen. Nur, dass sie da eben richtig gut drin war, sodass man es den Texten nicht anmerkt.“

„Klar.“ Pfeiffers Lippen schlossen sich zu einem dünnen Strich. Er selbst hatte auch schon Dutzende solcher Berichte und Reportagen geschrieben. Man fühlte sich dabei wie eine Dirne, aber von irgendwas mussten Zeitungen ja leben.
Er beobachtete Bergers rechten Schuh. Dort hob und senkte das Leder über der großen Zehe. Pfeiffer hob den Blick, bis sich ihre Augen trafen. „Das ist aber nicht alles, oder?“

Richard Berger wurde blass, und das nervöse Zucken seiner Zehe hörte auf. Man konnte geradezu mitverfolgen, wie er versuchen wollte, sich in Rage zu versetzen - und den Mut verlor. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder. Kein Ton.

Pfeiffer wartete. Das hatte er früh in seiner Karriere gelernt. Wenn man einfach wartete, bis die Leute etwas sagten, machte sie das nervös. Manchmal rutschte ihnen so etwas Ungeplantes heraus.
Berger kämpfte mit sich, ehe er zugab: „Sie hat uns erpresst.“ Doch nun ging er unvermittelt zum Angriff über. „Glauben Sie bloß nicht, dass Sie das auch tun können!“

Pfeiffer schnaubte amüsiert. „Ich bin nicht Marlene. Mich hat sie nur aus meinem Chefredakteursposten gedrängt, aber ich schätze, wir hätten beide einen Grund, sie nicht unbedingt retten zu wollen. Also worauf hat dieser Mann es abgesehen?“

Bergers Stirn kräuselte sich nachdenklich. „Er ist schlau. Ich wette, es gibt hier eine Kamera.“ Sein Blick glitt nervös durch den Raum, blieb am Fenster hängen, verlor den Fokus „Oder er geht davon aus, dass wir als gegenseitige soziale Kontrolle ausreichen.“ Die Stirn glättete sich, während er Pfeiffer wieder ansah. „Stimmt ja auch. Ich weiß, dass Sie Journalist sind und es eine Top-Story wäre, wenn ich nochmals jemanden sterben ließe. Und Sie wissen…“ Er sah Pfeiffer argwöhnisch an. „Was?“

„Was sollte ich denn wissen? Ich hab bis jetzt nur ein paar Theorien, was dieser Irre denken könnte; hatte ja kaum Zeit zum Überlegen. Und Sie?“

„Ich…“ Berger hielt seinem Blick nicht stand und drehte sich hilfesuchend zu seiner Frau um. „Ich hab keine Ahnung!“

„Hattest du eine Affaire?“ Sie klang überraschend ruhig, beinahe gelassen.

„Was?“ Er war genuin entsetzt. „Nein! Liebes, wie kannst du so etwas denken!“

„Schade. Das wäre noch einfach gewesen.“ Dorothea Berger wirkte emotional unbeteiligt, als ginge ihr das Ganze am Allerwertesten vorbei. Doch sie blieb zugleich fokussiert: „Also, womit wurdest du erpresst?“

„Nicht ich,“ stellte ihr Mann klar. „Wir. Das Reisebüro.“ Er fuhr sich mit zitternder Hand durch die Haare. „Und wir dachten, es sei vorbei, weil sie sich nicht mehr meldete. Die großen Scheine im Tresor waren für sie vorgesehen gewesen. Wegen ihr hatte ich so viel Geld zuhause. Nur wegen dieser…“ Seine Stimme versagte, und sein Seufzer klang fast wie ein leises Fiepen.

„Und Sie?“, wandte sich Dorothea Berger an den Journalisten und zog eine Augenbraue hoch. „Hatten Sie eine Affaire mit ihr?“

Pfeiffer grunzte und schüttelte den Kopf. Marlene war eine sehr attraktive Frau, die er dennoch nicht mal mit einer langen Stange angerührt hätte. Sie hatte etwas Derbes an sich, das ihn zutiefst abstieß. „Eher würd ich mit einem Eisbären was anfangen. Aber das wäre ja kein verbindendes Element, außer dieser Erpresser sitzt einem Irrtum auf.“

„Dazu ist er zu schlau“, erwiderte Berger fatalistisch.

„Erzählen Sie uns von ihren Theorien“, forderte Frau Berger nun.

Pfeiffer zählte sie an seinen Fingern ab. Zeigefinger: „Wir haben es mit einer Sekte oder Hypnose zu tun. Das würde die Panik Ihres Selbstmörders erklären. Dann ist pure Psychopathie der Grund, mehr nicht.“ Mittelfinger: „Die Erpressung ist ein Ablenkungsmanöver und eigentlich ging es nur darum, die Morde zu begehen.“ Ringfinger: „Marlene steckt in Wahrheit selbst hinter allem - der trau ich alles zu.“ Kleiner Finger: „Diese Leute sind alles Extremisten, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Marias Tod spricht zwar dagegen, aber… Die wollen jedenfalls etwas von uns, das nur wir beide liefern können.“

„Wenn wir Pech haben,“ flüsterte Berger, „dann sind das unsere Leben.“

„Das werden die nicht wagen!“

Dorothea Berger hatte offenbar den richtigen Ton getroffen, denn ihr Mann richtete sich auf und schürzte entschlossen die Lippen. Er nickte und stellte fest: „Ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen. Lassen Sie mich noch eben ein paar Sachen holen, dann können wir los.“

„Wer ist Marlene?“, forschte Dorothea mit einer Mischung aus Sorge und Verblüffung nach.
Berger, innerlich zutiefst entsetzt, hatte sich zu seiner eigenen Verwunderung mehr in Griff als Christian Pfeiffer. Kreidebleich saß dieser vor ihm. Er glaubte, zu sehen, wie sein Verstand die Fakten sortierte, denn wenn sie beide ‚Marlene‘ kannten – dann waren sie beide … ihre Kunden. Langsam spürte Berger das Ausmaß dieser Erkenntnis doch am eigenen Leib. Klopfte sein Herz? War das kalter Schweiß auf seiner Stirn?
„Was ist mit euch? Wer ist diese arme Frau?“ Wenn Dorothea skeptisch war, dann nur für den Bruchteil einer Sekunde. Jetzt schien sie wieder besorgt um die für sie Fremde. Doch was war mit ihnen?
Pfeiffer hatte seine Maria verloren und er hatte seine Dorothea behalten, aber wie lange ginge das noch gut?
„Ich muss los“, platzte es aus Pfeiffer neben ihm und er klappte den Laptop zu und klemmte ihn unter den Arm. Ein wenig sprach er wie zu sich selbst. „Ich kümmere mich darum.“ Steif wandte er sich zum Ausgang, als hätte er eine schwere Last auf den Schultern. Und die hatte er auch, wenn er Marlene kannte.
„Warte!“, meinte Berger. „Wir müssen doch beide dort sein!“
„Wollen wir nicht lieber die Polizei rufen?“, rief Dorothea im Hintergrund. Ihre verwirrte Stimme verklang ungehört.

Sie saßen beide in Pfeiffers grünen Mazda-Cabriolet und fuhren die Hauptstraße in Richtung Industriegebiet. Sie hatten eigentlich noch Zeit, aber der Fakt, dass die schöne Marlene dort im Industriegebiet festgehalten wurde, gab ihnen das Gefühl, irgendwas tun zu müssen.
„Wie oft warst du bei ihr?“, fragte Berger plötzlich. Es war keine Eifersucht im wirklichen Sinne. Er wusste natürlich, dass Marlene andere Kunden hatte, aber das hier war sehr speziell. Eine spezielle Neigung.
„Einmal … aus Neugier, ein weiteres Mal, weil ein so einnehmendes Erlebnis war und selbst?“
Fünfzehnmal im ersten Jahr klänge unverschämt und gleichzeitig erschrak er auch ein bisschen vor sich selbst. Berger sah kurz aus dem rechten Fenster. „Nur ein paar wenige Male“, log er und lächelte schwach. Christian Pfeiffer nickte. „Darum geht es“, sagte er schließlich. „Die 10.000 Euro von ihnen und das ich das Video hochladen sollte. Es geht um sie und ihre … Fähigkeiten. Jemand glaubt, wir sind es ihm schuldig, wegen uns und ihr.“
Beide hingen ihre Gedanken nach, unfähig auszusprechen, welchen besondere Fähigkeiten Marlene auszeichnete.
„Hast du sie dabei mal berührt?“, fragte Pfeiffer.
„Niemals“. Berger sah kurz zu seinem Fahrer. „Meinst du, man will uns eine Lektion erteilen?“
Sie bogen in das Industriegebiet ein. Hohe Laternen mit orangegelben, alten Lichtern verströmten ein unruhiges Straßenbild. Etwas Nebel zog durch die Gitterzäune und sie blickten auf die Rohrleitungen, die am Zaun oberirdisch entlang geführt wurden. Die Digitaluhr im Wagen zeigte 19:04. Sie waren eine Stunde zu früh.
„Lass es uns herausfinden“, meinte Pfeiffer, nachdem er den Wagen geparkt hatte. Sein Gesicht hatte sich verändert. Die Last, oder die Schuld war verschwunden. Er wirkte … entschlossener, womöglich sogar gefährlicher. Er nahm aus dem Handschuhfach vor Berger Lederhandschuhe und zog sie sich über. Außerdem hatte er dort eine Sturmhaube liegen, die er sich über den Kopf zog.
„Du warst nicht nur zweimal bei Marlene, oder?“, kam es leise von Berger.
„Du doch auch nicht.“
Sie sahen sich beide eine Weile mit stillschweigender Erkenntnis in die Augen, ehe sie sich zum Zaun aufmachten.

Richard Berger und Christian Pfeiffer rasten in Pfeiffers Auto zu der angegebenen Adresse, schlängelten sich durch den noch immer dichten Verkehr der Großstadt, wieder und wieder nervöse Blicke auf das Armaturenbrett werfend, wo die Uhrzeitanzeige mitleidlos Minute um Minute vorrückte.
Dorothea war zu Hause geblieben und hielt dort für alle Fälle die Stellung.
Auf dem Weg zum Auto hatte Berger versucht, aus Pfeiffer herauszubekommen, woher dieser Marlene kannte und wie sie beide miteinander verbunden sein könnten. Doch Pfeiffer schwieg beharrlich. Darum erzählte auch Berger nichts.

Nur zwei Minuten vor Ablauf der gesetzten Frist brachte Pfeiffer sein Auto mit quietschenden Reifen direkt vor der Tür einer kleinen, verlassen wirkenden Halle im Industriegebiet zum Stehen. Die Halle schien früher einmal eine Werkstatt gewesen zu sein, aber inzwischen machte das Grundstück einen verwahrlosten Eindruck. Die Hecke, die es an drei Seiten umschloss, war offensichtlich schon lange nicht mehr beschnitten worden, zwischen den Pflastersteinen auf dem kleinen Parkplatz wuchsen zahlreiche Pflanzen, teils schon wieder verdorrt. In der Halle war ein Fenster eingeworfen worden und Graffiti zogen sich über die restlichen Scheiben und Teile der Außenwand.
Richard Berger schwante etwas. Die Werkstatt kannte er von früher und langsam dämmerte ihm auch, worin die Verbindung zu Marlene bestehen könnte.
Er überlegte, ob er Pfeiffer warnen sollte, doch der war schon aus dem Auto gesprungen, riss gerade die nicht abgeschlossene Eingangstür auf und verschwand in der stockdunklen Halle, während die schwere Stahltür mit lautem Knall gegen die Wand krachte. Berger gab sich einen Ruck und folgte Pfeiffer.
Vor der dunklen Türöffnung zögerte er. Der Tag war schon seit dem Vormittag verregnet gewesen und die Dämmerung inzwischen hereingebrochen, die Sichtverhältnisse entsprechend schwierig.
Berger wollte Marlene helfen, sie retten. Schließlich hatte sie ihm früher einmal viel bedeutet, auch wenn sie nicht im Guten auseinandergegangen waren. Doch so mir nichts, dir nichts kopflos in eine dunkle Halle zu rennen, in der sich ganz sicher Verbrecher aufhielten, war seine Sache dann doch nicht.
Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen, doch dann hörte er von irgendwo weiter hinten im Gebäude ein Poltern und Krachen und einen halberstickten Schrei.
»Hilfe!«
Pfeiffer hatte geschrien, nicht Marlene! Berger dachte nicht weiter nach und rannte seinerseits in die Halle. Bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er den schwachen Lichtschein aus dem Lager an der Rückseite der Anlage wahrnahm, hatte er die Werkstatt schon halb durchquert und sich zweimal an zurückgelassenen Maschinen gestoßen.
Dann erreichte Richard Berger die Tür zum Lager, die offen stand. Hinter der Öffnung zeichneten sich im schwachen Licht einer einzelnen nackten Glühbirne mehrere Regale ab. Verstaubte Spinnweben schälten sich nach und nach aus der Dunkelheit. Berger späht vorsichtig in den Raum, suchte nach Pfeiffer, als er ohne Vorwarnung einen heftigen Stoß im Rücken fühlte und überrascht durch die Türöffnung stolperte.
Die Tür schlug krachend hinter ihm zu, der Schlüssel wurde herumgedreht.
Berger fing sich mit beiden Händen am nächsten Regal ab und entdeckte im gleichen Augenblick Pfeiffer, der zusammengesackt auf dem Boden an der Wand lang. Vielleicht bewusstlos.
»Endlich habe ich euch beide dort, wo ich euch schon lange haben wollte! Jetzt wird abgerechnet«, sagte jemand draußen vor der Tür. Die Stimme war eiskalt und Berger auf grauenhafte Weise vertraut. Mit einem Mal war ihm alles klar.
»Marlene!«, stieß er hervor. »Bitte, das ist ein Missverständnis. Wir können doch über alles reden. Bitte, Marlene, ich habe das damals doch nicht gewollt!«
»Das hättest du dir früher überlegen sollen. Du hättest alle Zeit der Welt gehabt, um deinen Fehler wiedergutzumachen.«
»Marlene, ich kann es doch jetzt gutmachen, bitte«, flehte Berger verzweifelt. Er ahnte, was sie vorhatte, verstand nur nicht, wie Pfeiffer in die Geschichte passte, und fühlte sich hinter der verschlossenen Tür unfassbar hilflos.
Und dann sagte die eiskalte, gefühllose Stimme genau, was er befürchtet hatte.
»Mach dir keine Hoffnungen, du könntest noch irgendetwas oder irgendjemanden retten. Dein Handy hat dort drinnen keinen Empfang und die Polizei würde dir auch nichts nützten. Meine Leute sind schon längst bei dir zu Hause und helfen deiner Frau, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich werde dein Leben genauso zerstören, wie du meins zerstört hast.«
Schritte entfernten sich. Berger trommelte hilflos gegen die Tür und schrie: »NEIN! MARLENE! KOMM ZURÜCK!«
Marlene kam nicht zurück. Berger hörte noch die schwere Außentür ins Schloss fallen, dann schossen ihm die Tränen in die Augen.
Pfeiffer neben ihm ächzte und kam langsam wieder zu sich.
Berger, von Entsetzen, Hilflosigkeit, Wut und Angst überwältigt, packte Pfeiffer am Kragen, schüttelte ihn und schrie ihn an: »Was haben Sie eigentlich mit der ganzen Sache zu tun? Warum haben Sie mich hierhergebracht? Warum haben Sie mich dazu gebracht, meine Frau im Stich zu lassen?«
Pfeiffer schüttelte nur benommen den Kopf und sagte nichts.

Marlene

Der Regen prasselte laut auf das Autodach und versuchte, die letzten Lichtfetzen des Tages zu löschen.

20:01

Die roten Ziffern der Digitaluhr brannten sich in das Zwielicht im Innenraum. Berger und Pfeiffer saßen regungslos im Auto und starrten auf die verlassene Lagerhalle im Industriegebiet. Die Straßenlaternen funktionierten nicht am Ende der Sackgasse. Das Gebäude musste schon seit Jahren leer stehen. Selbst in der Dämmerung sah es heruntergekommen aus.

Die Adresse stimmte.

20:02

Marlene war Marias Tochter. Pfeiffer konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was hatte sie mit der Sache zu tun?

20:04

Maria war seine Geliebte. Gewesen, dachte Berger. Vor langer Zeit, vor vielen Jahren. Dorothea hatte ihm verziehen. Was hatte Marias Tochter mit der Sache zu tun?

20:05

Ohne ein Wort zu sagen, stiegen beide aus und gingen zur Lagerhalle. Der Regen prasselte auf ihre Mäntel, die Gesichter in Kapuzen verborgen. An der Gebäudefassade ging plötzlich eine Lampe an. Licht explodierte wie eine Granate und erhellte eine geöffnete Tür.

Im Inneren des Lagerhauses war das Tosen des Regens kaum zu hören. Eine Lagerhalle voller dumpfer Stille und warmer Dunkelheit. Pfeiffer und Berger traten aus dem Lichtkegel der Eingangstür heraus und schlugen ihre nassen Kapuzen zurück.

„Wir sind da!“, rief Pfeiffer in den großen Raum. Er wollte auf keinen Fall wieder die Initiative verlieren, was Maria das Leben gekostet hatte. „Ohne Polizei!“ Berger stand neben ihm und regte sich nicht.

Relais klackten metallisch als Antwort und schalteten die Deckenlampen ein. In der Mitte der Lagerhalle stand ein weißer Frachtcontainer.

Pfeiffer und Berger hasteten zum Container und versuchten, die Türenhälften zu öffnen. Verschlossen. Pfeiffer rüttelte verzweifelt an den Türhebeln, während Berger still daneben stand und ihn anstarrte. Plötzlich klackte es wieder metallisch. Das Geräusch schien aus dem Container zu kommen. Pfeiffer ließ von der Tür ab, trat einen Schritt zurück und stieß dabei gegen Berger. Das Türschloss entriegelte sich leise und beide Türhälften öffneten sich nach innen.

„Bitte kommen Sie herein“, forderte sie eine mechanische Stimme auf. Pfeiffer zögerte kurz, bevor er eintrat, während Berger ihm nur langsam folgte.

Am Ende des Containers saß ein Mann hinter einem Schreibtisch, umgeben von Monitoren und blinkenden Maschinen, die den Raum spärlich beleuchteten. Er trug einen eleganten Anzug und dunkle Lederhandschuhe. Verstörend an seinem Äußeren war die gräuliche Latexmaske, die seine Gesichtszüge wie bei einer Puppe einzufrieren schien und ihn völlig teilnahmslos wirken ließ. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber aufgrund der Körperstatur musste er um die fünfzig sein. In seinen blauen Augen lag kalte Gleichgültigkeit. Auf dem Schreibtisch vor ihm befand sich ein kleines Pult mit Schaltern.

„Willkommen, meine Herren“, schallte es aus Lautsprechern, ohne dass der maskierte Mann seine Lippen bewegte und weiter völlig ausdruckslos blieb. „Vielen Dank, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Ich…“

Pfeiffer stürzte auf den Mann zu und wollte sich voller Hass über den Schreibtisch auf ihn werfen, als er mitten im Sprung von einer Kunststoffscheibe brutal gestoppt wurde.

„Ich muss Sie doch bitten.“ Der Mann im eleganten Anzug hatte während der Attacke keine Miene verzogen. Berger half Pfeiffer auf, der vom Aufprall noch benommen war. Alle Wut war aus ihm gewichen.

„Wo ist Marlene?“, fragte Berger ruhig.

Einer der Computerbildschirme flackerte plötzlich auf. Marlene war zu sehen. Wie im Video war sie an Armen und Beinen gefesselt und lag auf dem Boden vor einer grauen Betonwand. Ihr Gesicht war von der Kamera abgewendet und auf dem Monitor nicht zu erkennen. Sie bewegte sich leicht, schien also zu leben.

„Bevor Sie fragen“, sagte die emotionslose Stimme aus den Lautsprechern, ohne auf Bergers Frage weiter einzugehen. "Es ging mir um Aufmerksamkeit.“ Ohne eine körperliche Regung zu zeigen, blickte der maskierte Mann Pfeiffer und Berger gleichgültig an: „Ich musste morden, um Gehör zu finden. Bitten ist vergebliches Betteln. Und ein Mord verschafft auch kein Gehör mehr. Es müssen schon Morde sein, und auch das will nicht mehr reichen, um Gehör zu finden. Es müssen Morde sein, die nicht zu verstehen, die nicht nachzuvollziehen sind. Nur die Willkür des Todes verschafft mir Gehör.“

Pfeiffer und Berger hörten, wie sich die Tür hinter ihnen verschließt, hörten das Klacken der Riegel im Schloss, die sich festsetzten. Berger schlurfte langsam zur Containertür und rüttelte vergebens an den Griffen.

„Ich möchte Ihnen danken, meine Herren“, tönte es weiter aus den Lautsprechern, und der Mann mit der gräulichen Latexmaske beugte sich langsam zum Schreibtisch vor, um auf dem Pult einen Schalter umzulegen, „dass Sie mir helfen, Gehör in einer Welt zu finden, in der so viele Menschen verlernt haben, einander zuzuhören und nur noch sich selbst zuhören.“

Mit einem zischenden Geräusch trat Gas in das Containerabteil ein, in dem sich Pfeiffer und Berger befanden. Pfeifer blickte zur Decke, im Versuch, das laute Geräusch zu orten, und bemerkte dabei die halbkugelförmige Überwachungskamera.

Der Mann mit der gräulichen Maske lehnte sich wieder im Sessel zurück: „Es gibt nur das Geschrei der eigenen Bedürfnisse, des eigenen Wollens, lauter und lauter. Wie also sich in diesem Lärm des Brüllens Gehör verschaffen, in einer Welt der Stumpfen, die sich weigern zuzuhören?“ Jetzt schaute er Pfeiffer direkt an, der dabei war, seinen Mantel auszuziehen. „Oder zu lesen, nicht wahr, Herr Pfeiffer?“

Berger rüttelte weiter voller Verzweiflung an der Tür und die Hoffnung ließ ihn nicht aufhören. Pfeiffer hingegen suchte im Halbdunkeln angestrengt nach einer Öffnung in der Decke und am Boden, aus der das Gas in ihren Kabinenabschnitt eintrat.

Es knackte kurz in den Lautsprechern. „Und um Gehör zu finden, reicht auch nicht die Einmaligkeit des willkürlichen Todes. Wieder und wieder muss es sein, bis das Stumpfe der Gewöhnung in den Menschen bricht. Ein willkürlicher Selbstmord vor der Haustür reicher Menschen. Allein nicht genug. Der willkürliche Mord einer Frau von nebenan, am helllichten Tag, im öffentlichen Park. Allein nicht genug.“

Pfeiffer versuchte jetzt mit den Händen zu erfühlen, wo das Gas in ihren Containerabteil eintrat. Er spürte, wie er zunehmend müder wird, ihm das Abtasten der Wände schwerer fällt und auch das hektische Hämmern seines Herzens sich nicht mehr so drängend zu sein schien. Richard hatte aufgehört, an der Tür zu rütteln, und sank langsam röchelnd zu Boden.

„Willkürlich ist vielleicht etwas übertrieben. Es gibt schon Beziehungen zwischen den Morden.“ Die mechanische Stimme aus den Lautsprechern wies einen leichten Hauch von Hohn auf. „Oder wussten Sie, Herr Pfeiffer, dass Ihr Bekannter Herr Berger eine Affäre mit Maria hatte? Sie, der glaubt immer die Wahrheit zu kennen, aber für den es immer nur seine Meinung gibt, nur seine Wahrheit richtig ist und alle anderen zu blind und dumm sind, seine Wahrheit und seine Größe zu sehen und anzuerkennen?“

Entsetzen blitzte in Pfeiffers Augen auf, als er langsam an der Wand zu Boden sank. Er hatte keine Kraft mehr zu widersprechen und schaute auf den Monitor, um noch einmal Marlene zu sehen, wie sie gefesselt und hilflos am Boden lag, auf Rettung wartete und wie er in ihrer Verletzlichkeit seine Wahrheit finden und bestätigt wissen wollte. Als er aber auf den Monitor guckte, sah er, wie sich Marlene langsam in die Kamera drehte. In der Hand hielt sie ein Mikrofon.

„Der nie nachfragte“, hallte es aus den Lautsprechern im Container, „wer eigentlich Marlenes Vater war, der nie nachfragte, was vor zwanzig Jahren geschah.“

Marlene war jetzt aufgestanden, das Mikrofon in den Händen, und starrte in die Kamera. Ihr Gesicht glich einer Fratze, die im Fieber des Wahns strahlte. Irrsinn spiegelte sich in ihren Augen.

„Und dennoch“, sagte sie mit klarer und ruhiger Stimme. „Darum geht es hier nicht. Es geht um Aufmerksamkeit und die bedarf immer eines Opfers, und ich habe geopfert, für die Aufmerksamkeit, um das Gehör von Milliarden zu erreichen, damit…“

Weder Richard Berger noch Christian Pfeiffer hörten Marlenes Worte. Beide lagen auf dem Fußboden des Containers, völlig regungslos. So als ob sie schliefen.

(C) Felyx

Der Showdown – Teil 1

Es war genau 19:46 Uhr, als Richard Berger seinen SUV im Industriegebiet am Straßenrand parkte. Schräg gegenüber von der Adresse, die der Verrückte ihnen gegeben hatte. Wie sich herausstellte, stand dort eine große Lagerhalle. Neben Berger auf dem Beifahrersitz saß Christian Pfeiffer, der einen Kugelschreiber in der Hand hielt, auf dem er wie wild herum klickte. Es machte Berger wahnsinnig, aber er sagte nichts. Er selbst war auch ein Nervenbündel, hatte auf dem Weg hierhin die ein oder andere Vollbremsung machen müssen, weil er kaum auf den Verkehr geachtet hatte. Dorothea, die auf dem Rücksitz saß, hatte ihn mehrfach hysterisch angeschrien, er solle bloß keinen Unfall bauen.

„Ich finde es immer noch keine gute Idee, dass du mitgekommen bist“, sagte Berger jetzt zu seiner Frau, nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte. „In der Nachricht stand, es sollen nur Pfeiffer und ich kommen.“

„Es geht um Marlene, meinst du denn, ich sitze da tatenlos zuhause rum und warte auf die nächste Hiobsbotschaft? Ganz sicher nicht. Da stand nur, wir sollen keine Polizei einschalten. Ich bin nicht die Polizei“, erwiderte sie stur. Christian Pfeiffer hörte kurz auf, seinen Kuli zu malträtieren und steckte ihn in seine Jackentasche. „Aber vielleicht sollten Sie erstmal im Auto bleiben? Der Typ hat jetzt schon zwei Menschen auf dem Gewissen – wir sollten ihn nicht provozieren. Denken Sie an Marlene!“

Dorothea grummelte etwas unverständliches, stimmte aber letztendlich doch zu, im Hintergrund zu warten und notfalls die Polizei zu verständigen, sollte irgendetwas schief gehen. Und schief gehen konnte bei ihrem Plan so einiges, wenn man ihn denn überhaupt Plan nennen konnte. Im Laufe des Nachmittags hatte sich herausgestellt, dass die Bergers Marlene für drei Jahre als Pflegekind aufgenommen hatten. Als sie 15 war, hatte das Jugendamt sie zu ihnen geschickt, weil ihre Mutter tablettenabhängig und ihr Vater ein Schläger war. Wenige Tage nach ihrem 18. Geburtstag war sie aus dem Hause Berger verschwunden – mit ihren Sachen, ohne eine Verabschiedung. Das Einzige, was sie zurückließ war ein kleiner Zettel, auf den sie Danke für alles! Ich gehe jetzt meinen Weg alleine und werde die weltbeste Journalistin geschrieben hatte. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Christian Pfeiffer kannte Marlene, weil er derjenige war, der dafür gesorgt hatte, dass das Jugendamt von ihr erfuhr. Er hatte ein paar Monate neben der Wohnung von Marlene und ihrer Familie gelebt und sich im Laufe der Zeit mit der Teenagerin angefreundet. Sie waren sich öfters im Hausflur begegnet und als Marlene erfuhr, dass er Journalist war, hatte sie ihm regelrecht aufgelauert, um mehr über seinen Beruf zu erfahren. Sie wollte damals schon unbedingt Investigativ-Journalistin werden, eine, die Missstände und Skandale aufdeckte. Eine, die die Welt verbesserte. Doch je mehr Zeit Christian Pfeiffer mit Marlene verbrachte, desto mehr fielen ihm Sachen an ihr auf, die nicht so ganz zusammenpassten. Marlene trug selbst im Hochsommer langärmlige Shirts, zum Teil mit Rollkragen. Wenn er danach fragte, wich sie aus und wechselte das Thema. Der Journalist in ihm beschloss, nachzuforschen. Er passte ihre Eltern ab, fing unauffällig unverfängliche Gespräche an. Sowohl ihr Vater, als auch ihre Mutter wirkten auf den ersten Blick nett, aber irgendwas störte Pfeiffer an der Familie, bis es ihm eines Tages wie Schuppen von den Augen fiel – Marlene wurde geschlagen. Es war Freitag Nachmittag, er hatte frei und war zuhause, als er auf einmal Schreie aus der Nachbarwohnung hörte. Dann zerschellte Glas und es hörte sich an, als würden Möbel durch die Wohnung fliegen. Er rief die Polizei und alles nahm seinen Lauf. Marlene kam in eine Pflegefamilie und er zog um, weil Marlenes Vater ihn mehrmals bedroht hatte. Seiner Meinung nach war es allein Christian Pfeiffers Schuld, dass die Ämter ihm seine Tochter genommen hatten. Danach hatte Christian Pfeiffer Marlene nicht mehr gesehen, bis sie vor einem Jahr auf einmal in der Redaktion stand. Sie machte ein Praktikum beim Frankfurter General Anzeiger. Es machte ihr unfassbar viel Spaß, ihre Texte waren gut. Sein Chef Magnus mochte sie und bot ihr sogar eine freie Mitarbeiterstelle an. In den ersten Wochen nach dem Praktikum arbeitete sie regelmäßig für die Zeitung, doch dann meldete sie sich auf einmal nicht mehr. Christian Pfeiffer war davon ausgegangen, dass sie eine andere Arbeit gefunden hatte. Doch jetzt fragte er sich, ob schon damals etwas anderes hinter ihrem Verschwinden steckte.

In dem Moment riss Richard Berger Pfeiffer aus seinen Gedanken. „Also, wie genau ist jetzt unser Plan?“, fragte er mit einer unnatürlich hohen Stimme. Er hatte Angst.

„Also, wir gehen beide davon aus, dass uns dort drinnen ihr Vater erwartet. Richtig?“ Berger nickte. Es war die einzig schlüssige Erklärung – er wollte sich rächen, weil Pfeiffer und Berger ihnen die Tochter weggenommen hatten. „Marlenes Vater ist ziemlich groß und muskulös – er hat mich damals schon mehrfach bedroht. Also, was auch immer passiert, wir sollten Abstand von ihm halten. Und sollte er näher kommen, zücken wir das hier.“ Er griff in die Tasche seines Parkas und zog zwei mittelgroße Küchenmesser heraus, deren Klingen er in weißes Küchenkrepp gewickelt hatte, damit sie sich nicht verletzten. Eins davon gab er Richard Berger, das andere steckte er wieder in seine Tasche. „Das Küchenkrepp sollten Sie natürlich vorher abmachen“, fügte Pfeiffer hinzu, als Berger das Messer ansah, als wäre es eine giftige Schlange. Er hasste Gewalt. Trotzdem steckte er es in seine Jackentasche. „Und was wollt ihr mit den Messern, wenn er eine Pistole hat? Das ist doch ein bescheuerter Plan“, warf Dorothea von hinten ein. „Hast du einen besseren?“ fuhr Richard seine Frau an, woraufhin sie stumm blieb, abgesehen von einigen Schluchzern, die sie bisher erfolgreich unterdrückt hatte. Christian Pfeiffer sah auf seine Uhr. „Es ist 19:55 Uhr. Wir sollten gehen.“

Richard Berger und Christian Pfeiffer öffneten gleichzeitig ihre Türen und stiegen aus dem Auto. Als sie die Türen zuschlugen, hallte das Geräusch unnatürlich laut in der leeren Straße nach. Sie überquerten die Straße und näherten sich der Industriehalle, die komplett dunkel und verlassen vor ihnen lag. Nichts deutete darauf hin, dass sich darin ein Verrückter aufhielt, der Marlene in seiner Gewalt hatte. Ihre Schritte auf dem nassen Asphalt – es hatte bis vor kurzem Bindfäden geregnet – kamen ihnen viel lauter vor als sonst. Das lag aber wahrscheinlich daran, dass ihre Nerven gespannt waren wie noch nie. Für Maria und Marlene , dachte Christian Pfeiffer, als sie die nächstgelegene Tür erreichten. Für Marlene und dafür, mein ruhiges und friedliches Leben zurückzubekommen , dachte Richard Berger. Sie blickten sich an, dann nickten beide entschlossen und Pfeiffer drückte die Türklinke herunter. Die Tür öffnete sich quietschend – und kündigte sie somit lautstark an. Sie betraten langsam und vorsichtig die Halle. Sie war komplett leer und dunkel, nur weiter hinten sahen sie eine Art Büro mit einem kleinen Fenster, in dem Licht brannte. Langsam gingen sie darauf zu und blickten sich dabei immer wieder um. Es war totenstill. Abgesehen von dem Licht im Büro machte nichts den Eindruck, als ob hier jemand war. „Hallo?“, rief Berger zaghaft. Seine Stimme hallte durch die Halle. Dann hörten sie hinter sich erneut das Quietschen der Tür. Erschrocken drehten sie sich um und sahen die Umrisse eines Mannes. Als der Mann die Halle betrat, fing auf einmal das Deckenlicht an zu flackern, nur um Sekundenbruchteile später die gesamt Halle mit Licht zu fluten. Für einen kurzen Moment waren Berger und Pfeiffer so geblendet, dass sie die Augen zusammenkneifen mussten. Doch dann blickten sie wieder zu dem Mann, der gerade eben durch die Tür gekommen war. Pfeiffer erkannte ihn sofort. Es war Marlenes Vater – groß und muskulös wie eh und je in einer schweren Lederjacke. Automatisch steckte Pfeiffer seine rechte Hand in die Tasche und griff nach dem Messer. Als er aber ins Gesicht von Marlenes Vater blickte, ließ er das Messer wieder los, auch wenn er die Hand in der Tasche ließ. Der Mann, der gerade zur Tür hereinkam und sich suchend umblickte, sah nicht gefährlich aus – eher ängstlich, so als wüsste er nicht, was genau ihn hier erwarten würde. Seltsam , dachte Pfeiffer und auch Berger schaute verwirrt zwischen Pfeiffer und dem ihm fremden Mann hin und her. Als Marlenes Vater Pfeiffer und Berger entdeckte, wurde sein Blick hart. „Ihr habt meine Marlene entführt! Wo ist sie?“ schrie er und lief auf die beiden zu, die erschrocken ein paar Schritte zurückwichen. Doch bevor er sie erreicht hatte, hörten sie hinter sich weitere Schritte und ein Klatschen. Marlenes Vater blieb neben Pfeiffer und Berger stehen, und alle drei drehten sich zu den Geräuschen um. Aus dem Büro trat ein Mann mit einer Pistole in der Hand, die er abwechselnd auf die drei Männer richtete. Pfeiffer hatte ihn noch nie gesehen, Richard Berger aber sehr wohl. Ihm wurde schlecht. Es war der Mann, der den Selbstmord gefilmt hatte. „Dann sind wir jetzt ja vollzählig“, sagte er und jetzt erkannte auch Pfeiffer seine Stimme wieder. Dieser Mann hatte ihn am Telefon bedroht und Maria auf dem Gewissen. In ihm kroch unbändige Wut hoch, die seine Angst verdrängte. Sein erster Impuls war es, loszurennen und ihm das Messer in den Bauch zu rammen. Doch bevor er dies tun konnte, tauchte hinter dem Mann ein weiterer auf. Christian Pfeiffers Herz blieb vor Schock stehen: Aus dem Büro war gerade niemand anderes gekommen, als sein Chef Magnus mit einem irren Grinsen im Gesicht.

Marlenes Geheimnis

Berger schaute hilfesuchend zu seiner Frau. Pfeiffer hingegen fixierte Herrn Berger. »Sie zuerst.«
Stotternd gab er ein »Das ist unsere Tochter, unser Lenchen« von sich.
Dorothea legte sanft ihre Hand auf die Schulter ihres Mannes und setzte mit leiser Stimme fort. »Sie studiert in den Niederlanden und kommt jedes Wochenende nachhause. Wir haben sie für morgen früh erwartet.«
»Was reden Sie da?« Pfeiffer fuhr vom Sofa hoch. »Marlene ist eine Weise.«
Dorothea bewegte sich ein Stück in Richtung des aufgebrachten Journalisten. »Bitte, setzen Sie sich. Ich werde es ihnen erklären. Jetzt sind allerdings Sie dran.« Sie setzte ein sanftes Lächeln auf.
»Nagut.« Pfeiffers Blick streifte über den Tisch. »Wir waren ein Paar.«
Berger zog die Augenbrauen hoch. »Waren?«
»Wir haben uns vor fast zwei Jahren getrennt. Sie wollte plötzlich Neurowissenschaften studieren und einen neuen Lebensweg einschlagen. Eine Woche vor unserer Hochzeit.«
Dorotheas Stirnfalte zeichnete sich deutlich ab. »Hochzeit?«
Ein rhythmisches Ticken wurde hörbar.
»Klopf, Klopf.« Eine rauchige Stimme ertönte im Eingangsbereich.
Alle drei zuckten zusammen und wandten sich ruckartig zum Störenfried.
»Die Tür stand einen Spalt offen. Ich bin mal so frei.« Der etwa türstockgroße, leicht untersetzte Mann, hob beschwichtigend die Hände und positionierte sich gut sichtbar vor seinen erstarrten Zuschauern. »Keine Panik. Ich bin Kriminalhauptkommissar Erik Holm-Magnusson. Allerdings in Zivil. Ich gehe einem Anonymen Hinweis nach.« Er deutete auf die Tür. »Das sollten Sie sich nicht zur Gewohnheit machen.«
Pfeiffers Anspannung löste sich zuerst. »Was wissen Sie?«, platzte es aus ihm heraus.
»Durch und durch Journalist, nicht wahr?« Eriks Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Zu wenig, offensichtlich.«
»Spucken Sies aus, alter Mann.«
»Hey.« Erik stemmte seine Fäuste in die Hüften. »So ungehalten kenne ich Sie gar nicht, Herr Schreiberling.« Er lachte laut auf.
»Ich wüsste nicht, wann wir uns schon mal begegnet wären.«
»Darf ich?« Der Beamte in Zivil deutete auf das Ledersofa. »Persönlich nicht. Aber seis drum.« Seine tiefschwarze Hose raschelte leise bei jedem Schritt. »Wollen Sie sich keine Notizen machen?« Beim Hinsetzen erklang das markante Geräusch von Leder. Als schreite man genüsslich über einen reichlich beschneiten Weg. »Eigentlich sollte ich Sie alle zu einer Befragung aufs Revier mitnehmen. In Anbetracht der Umstände …«
Herr Berger ergriff zornig das Wort. »Sie bringen uns in Teufelsküche.«
Eriks Tonfall wurde weich. »Keine Polizei. Ich weiß. Wissen Sie …« Seine Stimme klang nicht mehr so kraftvoll wie zuvor. »Als Kriminalhauptkommissar sind mir die Hände gebunden. Die Polizei tappt im Dunklen und wird an der Nase herumgeführt. Die Fälle häufen sich.«
Pfeiffer rutscht an die Kante des Sofas. »Himmel, Arsch und Wolkenbruch, uns läuft die Zeit davon. Reden sie endlich Tacheles.«
Erik sah den Journalisten mit geröteten Augen an. »Nachdem mein…« Der Beamte wischte sich mit der Hand über sein Gesicht. »Nein …« Er nahm einen tiefen Atemzug und fixierte die Wanduhr hinter Dorothea. »Ich sitze hier als Bürger und ermittle privat. Eine SMS hat mich hierher geführt mit der Anweisung Sie zu unterstützen. Und bevor Sie fragen, ich habe keinen blassen Dunst.« Erik nahm die durchbohrenden Blicke seiner Zuhörer wahr, betrachtete dennoch die Uhr. »Fakt ist …« Jetzt sah er Pfeiffer direkt in die Augen. »Es gibt eine Verbindung zwischen uns, die ich noch nicht greifen kann.«
Dorothea schluckte und sah zu ihrem Mann. »Wie, um Himmels Willen …«
»Schatz.« Berger zog sie sanft zu sich aufs Sofa.
Pfeiffer massierte seine Nasenwurzel. »Was hat Marlene mit all dem zu tun?«
Erik fuhr fort. »Das versuche ich seit zwei Jahren herauszufinden. Denn da hat alles seinen Anfang genommen. In den Niederlanden, so wie es im Moment aussieht.«

Masken der Wahreit

Das Lagerhaus lag wie eine Festung aus Stahl und Beton in der Dunkelheit. Eine einzelne Neonröhre beleuchtete die metallene Tür, die höhnisch einladend offen stand. Eine Windbö wirbelte ein paar lose Blätter über den Asphalt. Hier werden Klischees bedient, dachte Pfeiffer und konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken, der ihm über den Rücken kroch.

Schweigend sahen Pfeiffer und Berger durch die Windschutzscheibe. Das Lenkrad knirschte hin und wieder unter dem festen Griff Bergers. Die Anspannung war kaum greifbarer.
„Meine Tochter war also Ihre Kollegin“, nahm Berger zäh und wie geistesabwesend die Information auf, die Pfeiffer vor Kurzem im Wohnzimmer der Bergers geteilt hatte, um die nahezu unerträgliche Spannung zu brechen. „Vor… zwei Jahren?“
Pfeiffer nickte und sah vom Beifahrersitz aus nach links. „Ja, genau. Bis sie ins Ausland ging. Zumindest dachte ich das.“
„Das dachten wir alle…“

Pfeiffer und Berger traten durch den Eingang. Ihre Schritte hallten auf dem nackten Betonboden. Der Raum war grau und karg und kalt, abgesehen von dem Tisch in der Mitte, auf dem ein Laptop stand. Zwei Metallstühle standen davor, und eine schwache, alte Schreibtischlampe beleuchtete die Szene. Das dazugehörige Stromkabel verschwand irgendwo in der Dunkelheit.
„Das ist doch ein verdammtes Theaterstück“, murmelte Pfeiffer.
„Marlene“, keuchte Berger und zeigte auf den Laptop. Mit dem nächsten Wimpernschlag hastete er auf den Laptop zu, stieß mit einem groben Ruck die Stühle zur Seite, als könne er seiner Tochter näher sein, indem er nah genug am Laptop stand.
Pfeiffer folgte ihm langsamer, ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch die Halle gleiten. Doch der Raum war leer. Keine Bewegung, keine weiteren Hinweise – nur der Tisch und die Stühle.

Das Display zeigte ein Video: Marlene. Noch immer auf dem Boden liegend, an Armen und Beinen gefesselt, der Mund mit Klebeband verschlossen. Ihr Atem ging stoßweise. Irgendetwas störte Pfeiffer an dem Anblick, doch er konnte keinen Finger drauf legen.

„Wo ist sie? Wo ist meine Tochter“, presste Berger hervor. Sein Tonfall verriet beginnende Hysterie - die tiefsitzende Angst eines Vaters um sein Kind. „Wir müssen sie da rausholen!“

Pfeiffer zögerte. Er musterte das Video genau, während Berger weiterhin den Laptop mit dem Namen seiner Tochter anschrie, als könne sie ihn dadurch hören und verraten ,wo sie steckte. Berger wandte sich schließlich vom Laptop ab, spie in die Dunkelheit, was das alles solle und zu bedeuten habe.

„Das ist ein Loop“, murmelte Pfeiffer, die Nase dicht vor dem Display. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Scheiße.

Bevor Berger antworten konnte, flackerte der Bildschirm und das Video verschwand. Stattdessen erschienen Worte:

Wenigstens einmal denken Sie an andere.

„Verdammt noch mal! Was wollen Sie von uns?“, schrie Berger und gab dem neben ihm stehenden Metallstuhl einen Tritt. Stimme und Stuhl hallten gespenstisch in dem leeren Raum.

„Schön, dass Sie es einrichten konnten, Herr Berger und Herr Pfeiffer.“ Die Stimme kam aus versteckten Lautsprechern, ruhig und kalt. Pfeiffer erkannte sie sofort. Es war der Anrufer. „Bitte nehmen Sie Platz.“

“Hören Sie auf mit dem Theater“, rief Pfeiffer. Ihm gefiel die Situation ganz und gar nicht und ihm schwante Übles. "Zeigen Sie sich, oder wir gehen.“ Er hoffte, er klang selbstsicher.
“Oh, Herr Pfeiffer“, sagte die Stimme fast spöttisch. "Glauben Sie wirklich, Sie hätten noch eine Wahl?“

Hinter ihnen ertönte plötzlich ein leises Klicken. Metallisch, bedrohlich.

Pfeiffer erstarrte. Der Lauf einer Pistole drückte sich gegen seinen Hinterkopf. Verdammt, wie konnte der sich anschleichen?, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Aber er wusste bereits die Antwort. Der Laptop hatte gut für Ablenkung gesorgt.

“Keine Bewegung”, sagte die Stimme, nun ganz nah. “Es ist Zeit, die Wahrheit zu sehen.“
“Was für eine Wahrheit?“ Berger trat einen Schritt zurück, die Hände erhoben. Die Röte der Aufregung auf seinen alten Wangen wich fahler Blässe. "Was immer Sie wollen, ich mache es. Aber lassen Sie meine Tochter frei!“

“Was ich will?” Die Stimme lachte leise. “Es geht nicht darum, was ich will. Es geht darum, was Sie getan haben.“

Berger öffnete den Mund, doch bevor er sprechen konnte, erklang ein weiteres Geräusch. Schritte, leise und vorsichtig, näherten sich aus dem Schatten. Berger keuchte, als eine Gestalt in den Lichtkegel trat.

Marlene.

Sie war nicht mehr gefesselt, nicht mehr verängstigt. Sie trug einfache Kleidung, die Haare locker zurückgebunden, und ihr Blick war kühl. Sie hielt keinen Augenkontakt mit ihrem Vater, sondern sah zwischen Berger und Pfeiffer hindurch.

“Marlene?“ Berger taumelte. Er musste sich mit einer Hand am Tisch abstützen, sonst wäre er womöglich in die Knie gesunken. Pfeiffer seinerseits sah sie nicht. Er stand noch immer mit dem Gesicht zum Laptop, mit dem Lauf am Hinterkopf.

"Dem Herrn sei Dank, mein Kind, du lebst! Aber… was tust du hier?“ Jegliche Farbe war aus Berger Stimme und Gesicht gewichen. Und nun wagte es auch Pfeiffer, den Kopf ein wenig zu drehen, um sehen zu können, was da vor sich ging. Der Lauf ließ es zu.

“Ich bin hier, weil ich es sein muss“, sagte sie leise. Ihre Stimme war ruhig, aber sie zitterte leicht. “Es tut mir leid, Papa.“ An Pfeiffer gerichtet: “Christian, ich hab es dir damals gesagt. Dich gebeten, es nicht zu tun. Du wusstest, was passieren würde und trotzdem hast du es veröffentlicht. Nun stehen wir hier.” Sie wirkte traurig.

“Was redest du da?“ Berger machte einen Schritt auf sie zu, doch der Lauf der Pistole bohrte sich tiefer in Pfeiffers Kopf.
“Keine Dummheiten, Herr Berger“, sagte die Stimme. “Marlene ist genau da, wo sie sein soll. Und Sie nun auch.“

Pfeiffer schloss die Augen, atmete ein und versuchte, die Ruhe zu bewahren. In seinem Inneren aber tobte ein Sturm. Und trotzdem hast du es veröffentlicht…Darum geht’s also?“, fragte Pfeiffer bitter.

“Ganz genau“, sagte die Stimme zufrieden und vor Bosheit verhärtet zugleich. “Sie beide haben in Ihrem Profitwahn Leben zerstört. Aus Geiz. Egoismus. Storygeilheit.“ Das letzte galt eindeutig Pfeiffer. “Aber nun holen wir die Vergangenheit zurück.“

“Nein, nein, nein!“ Berger schüttelte den Kopf heftig, die Hände weiterhin brav erhoben. “Ich bin nur ein einfacher Geschäftsmann. Was immer Sie denken, ich habe nichts getan!“
“Oh, wirklich?“ Die Stimme wurde eisig. “Profit war Ihnen schon immer wichtiger als Menschlichkeit, Herr Berger. Sie haben es oft genug bewiesen. Zuletzt vor Ihrer eigenen Haustür. Sein Name war übrigens Thomas. Er hätte das Geld für seinen behinderten Sohn gebraucht.“

Berger starrte. Sprachlos. Pfeiffer sah zu ihm, dann zu Marlene. Etwas in ihrem Gesicht – eine Mischung aus Schuld und Entschlossenheit – ließ ihn begreifen.

“Du bist Teil davon“, sagte Pfeiffer leise. "Das ist alles inszeniert.“

Marlene machte einen Schritt zurück, als Berger und Pfeiffer sie starr ansahen. Dann sah sie zu Pfeiffer. “Ich hatte keine Wahl. Euretwegen.“

Die Worte hingen wie Blei in der Luft. Die Pistole blieb fest an Pfeiffers Kopf, und der Raum schien mit jeder Sekunde kälter zu werden.

“Setzen. Sie. Sich“, sagte der Mann mit der Pistole schließlich, ruhig wie zuvor. Und diese Ruhe trug einen unverweigerbaren Befehl mit sich. “Es ist Zeit, die Wahrheit neu zu formulieren.”

Vierter Teil
„Marlene“, wiederholte Pfeiffer, „Marlene Castelnaudary!“
Seine Gedanken überschlugen sich.
Wie war die Castelnaudary in diese missliche Lage geraten? Das passte überhaupt nicht zu ihr.
Wer hatte es gewagt, sie zu entführen, zu fesseln und so zu erniedrigen? Sie so zu ängstigen? Die weit aufgerissenen Augen. Normalerweise war es sie, die ihren Gegnern Angst einjagte. Allerdings nicht auf diese profane Weise. Höchstens dass mal einer ihrer Wächter das Jackett zur Seite schlug und den Pistolenknauf unter der Schulter hervorlugen liess.
So sprang man nicht mit der Bankerin, besser Geldwäscherin der Mafia um.
Und woher kannte Berger Marlene Castelnaudary?
Sollte dieser rundliche Herr gar nicht so harmlos sein?
Und was war mit seiner Frau?

„Sie kennen sie?“, fragte Berger und deutete auf den Laptop.
„Ja“, antwortete Pfeiffer, „ich bin dabei eine Reportage über sie zu schreiben.“
Er musste vorsichtig sein, wollte nicht verraten, dass er einiges an Material über Castelnaudary zusammengetragen hatte, ihren Machenschaften als nach aussen seriöse Bankerin, die aber Milliarden von Euros wusch, spezialisiert war auf den Handel mit Kunst.
Wie passten die Bergers da rein?
Wie der Selbstmörder vor ihrem Haus?
Was hatte Maria damit zu tun? Und er selbst? Und jetzt die Castelnaudary, eine Gefangene?

„Was für eine Geschichte?“, fragte Berger. Misstrauisch, wie es Pfeiffer schien, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.
Sei auf der Hut sagte er sich.
„Sie ist eine erfolgreiche Bankerin.“, sagte er. „Hat eine unübliche Karriere eingeschlagen. Als Frau meine ich. Sie ist außerordentlich tüchtig. Im höheren Bankenmanagement finden sich fast nur Männer, kaum Frauen. Und woher kennen Sie die Dame? Ist sie mit Ihnen verwandt?“
„Wir haben beruflich mit ihr zu tun“, sagte Frau Berger.

Der Journalist erwachte in Pfeiffer, ging mit ihm durch. Da stinkt etwas ganz gewaltig, dachte er und sagte dann: „Beruflich, was genau beruflich? Sie werde sie ja kaum um einen Kredit gebeten haben. Also was haben Sie beide mit der Castelnaudary zu tun?“

Er bereute seine Worte. Hatte er nicht vorsichtig sein wollen. Zu spät, aber es ging ja schliesslich auch noch um Maria. Die Bergers war jedenfalls nicht so harmlos, wie sie sich gaben.

„Ich muss kurz telefonieren“, sagte Frau Berger und zu ihrem Mann gewandt, „Pass auf ihn auf!“ Sie verschwand in einen Nebenraum.
„Was soll das“, sagte Pfeiffer. Er fühlte sich unbehaglich. „Ich glaube ich gehe jetzt besser.“
„Ich denke, es ist besser Sie bleiben“, sagte Berger. Er hob die linke Seite seines Jacketts an und gewährte Pfeiffer einen Blick auf den schwarzen, matt glänzenden Pistolenknauf.

„So ist das also“, sagte Pfeiffer und sank in das Ledersofa zurück. „Wo sind Sie denn in die Schauspielschule gegangen? Was für ein Theater spielen Sie mir da vor?“

Frau Berger trat aus dem Nebenraum ins Wohnzimmer.
„Wir sollen ihn mitbringen“, sagte sie. „Freuen Sie sich Herr Pfeiffer. Heute Abend werden Sie endlich erfahren, wieso Maria sterben musste.“

Deswegen bin ich ja eigentlich hier, dachte Pfeiffer. Allerdings hatte er vom Besuch bei Bergers etwas anderes erwartet. Aber das war jetzt egal.

„Antonio wartet draussen mit dem Wagen. Wir fahren direkt zur Villa“, sagte Frau Berger. „Gehen wir!“.

»Tja.«

»Selber tja. Sie haben sich entschieden, zurück zu gehen. Und?«

»Findest du nicht, dass du es ihnen ein bisschen zu leicht gemacht hast?«

»Finde ich nicht. In Quantentor 2 ist immer noch diese Turbulenz. Und außerdem sind wir nicht dazu da, Leute gegen ihren Willen zu retten.« Der erste Zwerg räusperte sich und deklamierte: «Alternativen beruhen auf Freiwilligkeit, sonst sind es keine Alternativen, sondern Zwangshandlungen…«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön philosophisch bist?«

»Wortfummler!«

»Haarspalter!«

»Du mich auch.«

Der zweite Zwerg beendete das Geplänkel mit einem Grunzen. Für eine ganze Weile war Schweigen im Raum. Irgendwann nutzte ihn eine Fliege, um ihr ganz eigenes Gebrummel zu veranstalten.

»Möchtest Du Tee?«

»Ja, gerne.«

Als die beiden Schalen auf dem Tisch vor sich hin dampften,
fragte der erste Zwerg: »Soll ich die Übertragung aktivieren?«

»Wieso? Willst du dir die Tragödie auch noch ansehen?« Er verdrehte die Augen: »Sie haben sich entschieden,« sagte er. »Was mich angeht, mir ist jetzt nach einem kleinen Spaziergang. Vielleicht treffen wir heute endlich mal Murmeltiere …«

Der erste Zwerg seufzte leise. Seinen Traum loszulassen von einer Welt, in der es Alternativen gab die auch genutzt wurden, war schwer.

»Nun kuck nicht, als wäre die ganze Welt untergegangen. Wie ich die anderen kenne, schreiben die jetzt auch alle um Knopf und Kragen. Das kann doch ganz lustig werden …«

»Du meinst, ich soll das Ganze einfach als Fiktion betrachten?«

»Also, wenn du es so genau nehmen willst … warum nicht?«

»Naja, dann stimmt die Perspektive wenigstens – vierte Wand und so … «

»Und wir haben ja immer noch den Ausknopf.«

»Wie wahr. Also?« Der erste Zwerg klang etwas angestrengt, als er das sagte. Er hüpfte gerade auf einem Bein, um seinen zweiten Hüttenschuh ebenfalls gegen einen bergsicheren Stiefel zu tauschen. Plötzlich hielt er mitten im Hüpfen inne. Er sah ein bisschen wacklig aus, während er überlegte.

Schließlich grinste er: »Glaubst du im Ernst, irgendeiner aus dieser Schreibrunde gibt uns für diesen Sennhüttendialog auch nur ein einziges :book: ? Wir halten doch den ganzen Betrieb auf.«

»Naja,« antwortete der zweite Zwerg, das ist genau wie beim Sendeschluss-Clip nach dem Spätprogramm – die einen schalten ab und die andern … das bayrische Fernsehen brachte zum Sendeschluss sogar mal einen kontemplativen Kameraschwenk durchs Gebirge.’ Zuschauen, Entspannen, Nachdenken’ nannten sie das.«

Er grinste melancholisch und setzte hinzu: »Gesünder als in die Küche zu gehen und die Chipstüte holen sind wir doch allemal.«

Der erste Zwerg lachte. »Hast recht!« Mit einer fast akrobatisch anmutenden Verrenkung zog er seinen Bergstiefel zu Ende an.
»Ich bin fertig« sagte er und stampfte auf. »Können wir?«

»Wir können.« Im Hinausgehen rieb der zweite Zwerg sich die Nase.
»Aber … « Mit einer fast klagend anmutenden Miene drehte er den Kopf.

»Was denn?«

»… jetzt arbeiten wir schon so lange zusammen, und du hast mir immer noch nicht verraten, wieso die Turbulenz in Quantentor 2 ausgerechnet ’Marlene’ heißt.«

Um meinen Schmerz zu ehren, will ich die Welt zerstören
von petias

„Wer ist Marlene?“
Dorothea Berger sah ihren Mann fragend an.
„Die war eine Teilnehmerin in dem Börsenseminar, das ich vor einigen Monaten besucht hatte. Sie war mit einem Magnus dort gewesen.“

„Ja, Magnus Overath, mein Chef!“, mischte sich jetzt auch Christian Pfeiffer ein. „Magnus hatte Marlene in die Redaktion gebracht und war eine Zeit lang seine Freundin. Sie hat vor zwei Monaten überraschend gekündigt. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

„Marlene hatte sich mit dem Leiter des Seminars, einem Jens Hundertreich, angelegt. Sie stellte seine Methoden, ja alle Versuche an leistungsloses Einkommen, das „„Schnelle Geld““, wie sie es nannte, als unmoralisch und und unethisch hin“, erinnerte sich Richard Berger.
„Der Seminarleiter hatte das von sich gewiesen und erklärt, dass er dazu stehe, dass er schnell reich werden wolle. Das wäre in unserer Gesellschaft nicht verwerflich, so wären die Gesetze. Als unmoralisch sah er die an, die sich heuchlerisch als gut bürgerlich und menschenfreundlich verkaufen, sich aber einen Dreck um notleidende Mitmenschen scheren würden.“

„Marlene und Magnus hatten diesen Hundertreich mit ihren Beiträgen in der FGZ unmöglich gemacht und ihn aus dem dubiosen „„WIE WERDE ICH SCHNELL REICH““-Markt gedrängt“, ergänzte Pfeiffer.

Dorothea fasste zusammen: “Mein Mann, diese Marlene und ihr Freund und Chef, beide von der FGZ besuchen ein Seminar. Der Leiter wird diskreditiert. Ich erinnere mich noch, wie Richard ihn online angegangen ist. Er hatte sich darüber lustig gemacht, dass Hundertreich eigentlich von Beruf Psychiater wäre.“
Herr Berger nickte zustimmend.
Pfeiffer fuhr fort: „Dann will sich der Seminarleiter an den kritisierenden Teilnehmern seiner Veranstaltung rächen und die Toten und ich sind nur Kollateralschäden?“

„Das ist doch zu verrückt um wahr zu sein!“
Herr Berger schüttelte den Kopf.
„Einen Menschen zu zwingen, sich umzubringen, um einen anderen damit zu erpressen, das ist verrückt, zutiefst pervers! Einfach krank!“ Christian konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

„Jedenfalls gibt es keinen Grund zu diesem Termin um 20:05 Uhr, irgendwo im Industriegebiet, aufzutauchen! Zumindest nicht ihr beide!“, stellte Frau Berger erstaunlich entschlossen fest.

„Aber die Polizei sollte das tun“, sagte Herr Berger und griff zum Hörer.


Kurz vor 20 Uhr hatte eine Sondereinheit der Polizei die fragliche leerstehende Industriehalle umstellt. Pünktlich im 20 Uhr flammte ein Projektor auf, der ein überdimensionales Bild auf die gegenüberliegende Gebäudewand warf. Marlene Curo tanzte leicht bekleidet auf einer Bühne, eingesperrt in einen großen Raubtierkäfig in der Form einer Voliere. Sie tanzte mit einer Schlange, die sie sich anmutig um Körper und Arme legte.

Die bereits bekannte Stimme des bisher in Erscheinung getretenen Täters erschallte, vielfach verstärkt, durch die Nacht.

„Ihr seid zu früh! Die Polizei habe ich erwartet, aber meine Bedingungen sind nicht erfüllt. Den Tod der Schlangenbeschwörerin haben sich Pfeiffer und Berger auf ihr Gewissen zu buchen.
Diese Nachricht geht um die Welt auf vielen Online-Kanälen. Es wird ein neues Zeitalter eingeleitet.
Marlene, die sich gleich durch den Biss einer Viper töten wird, ebenso wie die anderen Selbstmörder, stehen unter dem Einfluss einer Droge. Sie besteht aus Nano-Bots, die geheime Ingredienzen im Körper verteilen. Das macht das Opfer zu einem programmierbaren Zombie, den man mittels Hypnose zu allem veranlassen kann.

Diese Droge ist ab jetzt für jeden käuflich zu erwerben. Findet unter dem Begriff „„Zombiedrug““ und ähnlichen Begriffen die für euch geeignete Bezugsquelle. …“

Die Polizeieinheit war in das Gebäude eingedrungen. Sie fanden die Bühne und den Käfig mit der Tänzerin darin, waren aber nicht in der Lage, die Eisenstäbe rechtzeitig zu entfernen.
Ein Millionen-Publikum sah zu, wie die Tänzerin sich die Viper – wie von Kleopatra, der Herrscherin Ägyptens berichtet wurde – an den Busen setzte und das Tier durch drücken mit der Hand dazu reizte, sie zu beißen. Die Frau mit den glasigen Augen glitt geradezu anmutig zu Boden und wand sich dann in offensichtlichen Qualen. Unter Röcheln trat weißer Schaum aus ihrem Mund. Die Bewegungen wurden langsamer und erstarben schließlich ganz. Der Kopf war nach hinten gebeugt, die Augen weit aus ihren Höhlen getreten.

„Wie spät ist es?“ rief Berger in die inzwischen muffig gewordene Luft und atmete hektisch weiter. „Was wollen die von uns, woher kennen sie denn Marlene?" fragte er weiter. Pfeiffer dessen Gesichtsfarbe unmittelbar leichenblass geworden war, schüttelte nur den Kopf und stammelte „das darf nicht wahr sein.“ „Was darf nicht wahr sein? Sie kommen hierher faseln etwas von Gerechtigkeit und nun…“. „Sein sie still. Sie, Herr Berger, sind doch genauso betroffen wie ich, also lassen sie uns eine Lösung finden“, entgegnete Pfeiffer, der unerwartet schnell seine Fassung wiedergewonnen hatte, „wir müssen die Polizei verständigen, damit nicht noch mehr Unheil passiert!“ „Auf keinen Fall“, hechelte Berger, seine Stimmer war fast unauffällig geworden und er suchte den Blick seiner Frau. Doch diese war nicht mehr im Wohnzimmer und er flüsterte weiter, „meine Frau darf davon nichts erfahren, bitte lassen sie uns in aller Ruhe nachdenken, am besten gehen wir auf die Terasse!“

So leise, wie Frau Berger das Wohnzimmer verlassen hatte, stand sie nun in der Tür und hielt eine Pistole auf ihren Mann gerichtet. „Los, beide aufstehen und in den Keller mit euch“, befahl sie. „Ist ihre Frau wahnsinnig geworden? Was soll das Frau Berger?“. Pfeiffer verstand die Welt nicht mehr und schon gar nicht Herrn Berger, der fast teilnahmslos ausharrte. „Kommen sie Pfeiffer, meine Frau würde abdrücken, lassen sie uns in den Keller gehen.“ „Lassen sie uns reden, Frau Berger!“ „Da gibt es nichts zu reden, ich sage jetzt zum letzten Mal, Handy auf den Tisch legen und ganz langsam aufstehen, sie Pfeiffer zuerst, na los, machen sie schon! Und du steh auch auf Richard, dein Handy auf den Tisch und nun gehe voran in den Musikraum, du weißt ja, ich würde abdrücken!“

Die Kellertür zum Musikraum war fast schalldicht mit Styroporplatten bestückt, so wie auch die Wände des Raumes. Nur eine kleine Lüftung, deren Ventilator unaufdringlich lief, gab etwas Luft in den Raum. Nachdem die Tür von Frau Berger zugeschlagen wurde, ging das Licht aus und Berger und Pfeiffer standen im Dunkeln. Kurze Zeit später hörten sie nur ganz dezent eine Autotür zuschlagen begleitet von dem feinen Surren des Ventilators.