Offene Enden – vierter Teil: Die Schatten der Vergangenheit
Die Fahrt zum Industriegebiet verlief zunächst in bedrückendem Schweigen. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, und die Scheinwerfer des Wagens schnitten durch die Dunkelheit. Richard Berger saß auf dem Beifahrersitz, die Hände fest ineinander verschränkt, während Christian Pfeiffer konzentriert auf die Straße blickte. Doch die Stille war schwer, fast unerträglich, und schließlich war es Berger, der sie durchbrach.
»Herr Pfeiffer«, begann er zögernd, seine Stimme leise, aber angespannt. »Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie es für Dorothea war? Wie es für sie ist, jeden Tag mit der Ungewissheit zu leben, was mit Marlene passiert ist?«
Pfeiffer hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet, doch seine Finger umklammerten das Lenkrad etwas fester. »Natürlich habe ich das«, antwortete er schließlich, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Schwere. »Ich weiß, dass es für sie nicht leicht war. Für niemanden in Ihrer Familie.«
Berger drehte den Kopf zu ihm, seine Augen suchten Pfeiffers Gesicht, als wollte er etwas darin lesen. »Nicht leicht? Sie hat sich daran aufgearbeitet, Herr Pfeiffer. Sie hat nie aufgehört, nach Marlene zu suchen. Sie hat sich Vorwürfe gemacht, sich gefragt, ob sie etwas hätte anders machen können. Und ich… ich habe ihr nie helfen können. Ich wusste nicht, wie.«
Pfeiffer schwieg einen Moment, bevor er leise sagte: »Manchmal gibt es keine Antworten, Herr Berger. Manchmal verschwinden Menschen, und wir können nichts dagegen tun.«
»Aber Sie wissen mehr, nicht wahr?« Bergers Stimme wurde schärfer, und er lehnte sich leicht nach vorne. »Sie wissen, was mit Marlene passiert ist. Sie wissen, warum sie verschwunden ist.«
Pfeiffer atmete tief durch, seine Kiefermuskeln angespannt. »Ich weiß, dass sie in Schwierigkeiten war. Und ich weiß, dass sie mich um Hilfe gebeten hat.«
Berger starrte ihn an, als hätte er nicht richtig gehört. »Sie… Sie haben ihr geholfen?«
»Ja«, sagte Pfeiffer, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Das habe ich. Sie war verzweifelt, Herr Berger. Sie hatte Angst. Und sie wollte nicht, dass jemand aus Ihrer Familie davon erfährt.«
»Warum nicht?« Bergers Stimme brach fast, und er schüttelte den Kopf. »Wir sind ihre Familie! Wir hätten ihr geholfen, egal, was es war. Dorothea hätte alles für sie getan.«
»Das weiß ich«, erwiderte Pfeiffer leise. »Aber Marlene hat das nicht so gesehen. Sie dachte, dass sie euch nur in Gefahr bringen würde, wenn ihr wüsstet, was los ist. Sie wollte euch schützen.«
»Schützen?« Berger lachte bitter. »Und was hat das gebracht? Sie ist weg, und wir haben keine Ahnung, ob sie überhaupt noch lebt. Dorothea hat sich fast daran kaputtgemacht, und Sie… Sie haben all die Jahre geschwiegen.«
Pfeiffer drehte den Kopf kurz zu ihm, seine Augen ernst. »Was hätte ich sagen sollen, Herr Berger? Dass ich ihr geholfen habe, unterzutauchen? Dass ich sie an einen Ort gebracht habe, an dem sie sicher sein sollte? Glauben Sie, das hätte irgendetwas besser gemacht?«
»Vielleicht«, sagte Berger, seine Stimme nun leiser, aber voller Emotionen. »Vielleicht hätte es uns wenigstens die Wahrheit gegeben. Vielleicht hätte Dorothea nicht jeden Tag mit der Frage leben müssen, ob sie etwas falsch gemacht hat.«
Pfeiffer schwieg, und für einen Moment war nur das Geräusch des Regens zu hören. Schließlich sprach er, seine Stimme schwer vor Schuld. »Ich habe damals gedacht, dass ich das Richtige tue. Sie hat mich angefleht, ihr zu helfen. Und ich… ich habe ihr geglaubt. Aber jetzt, Jahre später, frage ich mich, ob ich einen Fehler gemacht habe. Vielleicht hätte ich sie zu Ihnen zurückbringen sollen. Vielleicht … vielleicht hätte ich sie überzeugen sollen, … die Wahrheit zu sagen.«
Berger sah ihn lange an, bevor er leise sagte: »Es ist zu spät für vielleicht, Herr Pfeiffer. Jetzt geht es nur noch darum, sie zu finden. Und ich hoffe für Sie, dass wir das schaffen. Denn wenn nicht…« Er ließ den Satz unvollendet, doch die Bedeutung war klar.
Pfeiffer nickte stumm, seine Augen auf die Straße gerichtet. Der Regen wurde stärker, und das Industriegebiet kam in Sicht. Beide Männer wussten, dass die Antworten, die sie suchten, nicht ohne einen Preis kommen würden.
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Christian Pfeiffer parkte seinen Wagen mit einem mulmigen Gefühl im Magen neben einem verlassenen Industriegebäude. Die Straßenlaternen flackerten, und der Wind trieb leere Plastikflaschen und Papierfetzen über den Asphalt. Richard Berger stieg aus mit hochgezogen Schultern, als wolle er sich vor der Kälte und der Dunkelheit schützen. Beide schwiegen und überprüften die Adresse auf dem Zettel mit den verfallenen Gebäuden vor ihnen. Es war 19:58. Noch sieben Minuten bis zur vereinbarten Zeit.
»Das hier fühlt sich falsch an«, murmelte Berger und rieb sich die Hände, als wäre ihm plötzlich eiskalt. »Was, wenn er uns hier nur herlockt, um uns loszuwerden? Vielleicht hat er eine Waffe, oder …«
»Oder er will uns testen«, unterbrach Pfeiffer ihn, ohne den Blick von dem Gebäude zu nehmen, das der Beschreibung entsprach. »Das hier ist ein Spiel für ihn. Und wir sind die Figuren, die er nach Belieben verschiebt.« Seine Stimme klang härter, als er sich fühlte. Doch er wusste, dass sie keine Wahl hatten. Wenn sie Marlene retten wollten, mussten sie sich darauf einlassen.
Langsam näherten sie sich dem Gebäude. Die Eingangstür hing schief in den Angeln, und die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Pfeiffer zog eine Taschenlampe aus seiner Jacke und leuchtete in den Eingangsbereich. Staub und Schutt bedeckte alles, und der Geruch von Feuchtigkeit und Verfall lag in der Luft. »Hier entlang«, sagte er leise, als er eine offene Tür am Ende des Flurs entdeckte. Berger folgte ihm zögernd, seine Schritte hallten in der bedrückenden Stille. Mit jedem Schritt wuchs die Anspannung, und Pfeiffer konnte das Pochen seines eigenen Herzschlags in den Ohren hören.
Die Tür am Ende des Flurs knarrte leise, als Pfeiffer sie vorsichtig aufstieß. Dahinter lag ein großer, leerer Raum, dessen Wände mit Graffiti beschmiert waren. In der Mitte des Raumes stand ein einzelner Tisch, darauf ein Laptop. Ein schwaches Licht flackerte von der Decke, als würde es jeden Moment erlöschen. Pfeiffer und Berger tauschten einen Blick, bevor sie langsam nähertraten.
»Das sieht aus wie eine verdammte Inszenierung«, murmelte Berger und blieb ein paar Schritte hinter Pfeiffer stehen. »Er will, dass wir hier sind. Das ist eine Falle, ich spüre es.«
»Natürlich ist es eine Falle«, erwiderte Pfeiffer scharf, ohne sich umzudrehen. »Aber wir haben keine Wahl. Wenn wir hier rausgehen, ohne zu wissen, was er will, dann war’s das für Marlene.«
Er beugte sich über den Laptop und drückte vorsichtig auf die Leertaste. Der Bildschirm zeigte einen Mann mit einer Maske. Mit verzerrter Stimme kam eine neue Botschaft mit einem Hauch von Spott:
»Willkommen, meine Herren! Ich wusste, dass Sie kommen würden. Sie sind so berechenbar. Aber das ist gut. Berechenbarkeit macht es einfacher, die richtigen Entscheidungen zu treffen – oder die falschen.« Er lachte leise, ein Geräusch, das Pfeiffer die Nackenhaare aufstellte. »Vor Ihnen liegt eine einfache Aufgabe. Nur einer von Ihnen wird diesen Raum lebend verlassen.«
Berger schnappte hörbar nach Luft. »Was soll das heißen? Das ist doch ein kranker Witz!«
Der Sprecher setzte unbeirrt fort: »Ich habe die Tür hinter Ihnen verriegelt. Es gibt nur einen Schlüssel, und er befindet sich in der kleinen Box unter dem Tisch. Aber die Box öffnet sich nur, wenn einer von Ihnen den anderen … nun ja, sagen wir, ausschaltet. Sie haben zehn Minuten. Danach wird der Raum mit Gas geflutet. Viel Glück.«
Die Übertragung endete abrupt, und für einen Moment herrschte absolute Stille. Dann brach Berger in hektisches Flüstern aus. »Das ist Wahnsinn! Das ist ein verdammtes Spiel! Wir können das nicht tun, Herr Pfeiffer. Wir müssen einen anderen Weg finden.«
Pfeiffer starrte auf den Tisch, seine Gedanken rasten. »Beruhigen Sie sich«, sagte er schließlich, obwohl seine eigene Stimme alles andere als ruhig klang. »Es gibt immer einen anderen Weg. Wir müssen nur nachdenken.«
Doch Berger war bereits in Panik. »Nachdenken? Nachdenken?! Der Typ will, dass wir uns gegenseitig umbringen! Und Sie tun so, als könnten wir das irgendwie umgehen? Vielleicht sind Sie ja derjenige, der hier rauskommen soll. Vielleicht war das von Anfang an Ihr Plan!«
Pfeiffer drehte sich langsam zu ihm um, seine Augen verengt. »Was reden Sie da? Glauben Sie ernsthaft, ich stecke mit diesem Psychopathen unter einer Decke? Hören Sie auf, sich wie ein Idiot zu benehmen, und helfen Sie mir, einen Ausweg zu finden!«
Doch Berger wich einen Schritt zurück, seine Hände erhoben, als wolle er sich verteidigen. »Ich traue Ihnen nicht, Herr Pfeiffer. Sie sind viel zu ruhig. Sie haben doch schon längst entschieden, dass ich derjenige bin, der hier sterben soll.«
Die Spannung zwischen den beiden Männern war greifbar, und die Zeit tickte unerbittlich weiter. Pfeiffer wusste, dass sie keine Zeit für Misstrauen hatten, doch Berger schien in seiner Angst gefangen. Es galt, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden und gleichzeitig ihn zu beruhigen.
»Hören Sie zu«, sagte Pfeiffer schließlich mit einer leiseren, aber eindringlich Stimme. »Das ist genau das, was er will. Er will, dass wir uns gegenseitig zerfleischen. Aber wenn wir zusammenarbeiten, können wir ihn austricksen. Wir müssen die Box untersuchen, den Raum durchsuchen – irgendetwas muss hier sein, das uns hilft.«
Berger zögerte, seine Augen zuckten zwischen Pfeiffer und der Box hin und her. Schließlich nickte er langsam. »Okay. Aber keine Tricks, Herr Pfeiffer. Wenn Sie irgendwas versuchen …«
»Ich versuche nichts«, unterbrach Pfeiffer ihn. »Jetzt helfen Sie mir.«
Die beiden Männer begannen, den Raum abzusuchen, während die Minuten verstrichen. Pfeiffer untersuchte die Wände und den Boden, suchte nach versteckten Mechanismen oder Hinweisen. Berger blieb in der Nähe des Tisches, seine Hände zitterten, während er die Box betrachtete. Doch die Zeit lief ihnen davon, und die Panik begann erneut, sich in ihren Köpfen festzusetzen.
»Es gibt nichts!«, rief Berger schließlich und trat gegen den Tisch. »Wir sitzen in der Falle, Pfeiffer! Wir werden hier sterben!«
»Hören Sie auf damit!«, fuhr Pfeiffer ihn an. »Wir haben noch Zeit. Wir müssen nur –«
Ein leises Zischen unterbrach ihn. Beide Männer erstarrten. Der Täter hatte nicht gelogen – das Gas begann bereits, in den Raum zu strömen. Pfeiffer spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Sie hatten nur noch Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, fluchte Berger und griff nach einem Metallrohr, das am Boden lag. »Ich werde nicht sterben, Pfeiffer. Nicht für Sie!«
Pfeiffer wich zurück, seine Hände erhoben. »Berger, hören Sie auf! Das ist genau das, was er will! Wir können –«
Doch Berger hörte nicht mehr zu. Der Raum füllte sich mit dem beißenden Geruch des Gases, und die Luft wurde dünner. Pfeiffer wusste, dass er keine Wahl hatte. Wenn er überleben wollte, musste er handeln – und zwar jetzt.