4.
Zu Fall Bringer
Das dunkelgrüne Understatement auf Rädern, ein Dacia Sandero, durchquerte auf der Mainzer Landstraße das nächtliche Frankfurt und näherte sich der Abzweigung zum Gewerbegebiet Westside. Die Skyline funkelte vor dem anthrazitfarbenen Dezemberhimmel wie ein Kristall. Ein gelbes Herz unterhalb der, wie eine Kathedrale illuminierten, Spitze des Commerzbank-Towers sandte seine paradox anmutende Botschaft.
Die Männer hatten sich auf Pfeiffers kleineres, wendigeres Fahrzeug und ihn als Fahrer geeinigt, da er Frankfurt berufsbedingt aus dem Effeff kannte. Seit sie überstürzt gemeinsam aufgebrochen waren, Dorothea Berger war als kommunikatives Bindeglied zuhause geblieben, hatten sie noch kein Wort gesprochen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Christian Pfeiffer dachte voller Trauer an die Geschehnisse im Oktober und Marias gewaltsamen Tod. Die Polizei war einigen Spuren erfolglos nachgegangen, da die Identität des älteren Graubarts, der sich vor Bergers Haustür selbst gerichtet hatte, noch immer nicht geklärt worden war. Auch Pfeiffer hatte keinerlei Verbindungen zwischen den Beteiligten aufdecken können. Bis zu dem aktuellen Hinweis, war es zu keinen weiteren Vorfällen gekommen. Dieses Video war dafür in seiner Grausamkeit um so verstörender und das übermittelte Ultimatum entsetzlich knapp. Der Täter hatte keine neue Geldforderung gestellt, und so fragte sich Pfeiffer, worum es diesem Wahnsinnigen ging?
»Woher kennen sie Marlene?« Die Frage, nahezu synchron von beiden Männern ausgesprochen, störte die Stille auf und sie entfloh durch den leicht geöffneten Fensterschlitz. Die Fensterinnenseiten des Wagens waren beschlagen und der kondensierte Angstschweiß der Männer rann in Schneckenspuren hinab. Nur achtzehn Minuten noch bis zum Ablauf der Frist! Was für eine seltsame Zeit – 20:05 Uhr!
»Dr. Marlene Greif-Zufall ist Vorstandsvorsitzende der Hygisom Greif AG«, sagte Richard Berger, »dem Pharmakonzern. Dorothea und ich kennen sie und ihre Familie aus dem Golf-Club. Wir sind nicht gerade eng befreundet, aber spielen öfter zusammen oder sehen uns auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. Außerdem halte ich einige Aktien des Unternehmens. Und sie? Ich nehme an, sie spielen nicht Golf!«
Christian Pfeiffer lachte. »Ja, da haben sie recht. Golf ist mir zu … besinnlich und nichts für mich und meine Gehaltsklasse! Im ersten Augenblick habe ich Marlene kaum wiedererkannt in dem Video, denn unser Zusammentreffen liegt schon ein paar Jährchen zurück. Außerdem wirkt ein zu Tode verängstigter, geschundener Mensch anders als …« Er ließ den Satz in der stickigen Luft hängen und machte eine Pause, um sich bei gemäßigterem Tempo zu orientieren.
Er kontrollierte das Navi und bog jetzt in eine Straße ein, die direkt am nördlichen, begrünten Mainufer entlang führte. Das Quartier auf der, der Uferzone gegenüberliegenden Straßenseite war fast durchgängig durch Ziegel- oder Betonmauern, Gebäudeaußenwände oder Drahtzäune mit zusätzlichem Stacheldraht gesichert. Ein altes, im Umbruch befindliches Terrain, das, glaubte man den Stadt-Vätern und Müttern bald die Industrie mit nachhaltigen, modernen Konzepten in eine wirtschaftlich rosige Zukunft führen sollte.
Allmählich breitete sich in Pfeiffers Eingeweiden eine schmerzhafte Anspannung aus, die seine Muskeln verkrampften. Bewusst atmete er einige Male tief ein und aus, um locker zu werden.
»Damals«, nahm er den Faden wieder auf, »machte ich meine ersten journalistischen Gehversuche bei einem Stadtteilblättchen und versuchte mich an einer rührseligen Story über eine Familie, der das Leben übel mitgespielt hatte. Es war, wie jetzt, in der Adventszeit und es ging um eine Spendenaktion für Menschen in Not. Und glauben sie mir, Herr Berger, diese Familie war in Not!«
»Was war ihr widerfahren?«, fragte Berger. »Und was hatte Marlene damit zu tun?«
»Mal sehen, ob ich es kurz fassen kann, denn wir sind gleich am Ziel, und die Tragödie hat leider zu viele Akte! Die Eheleute, ich glaube, sie hießen Habermaas oder so ähnlich, gerieten aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Tochter in eine Schuldenfalle. Julia, so hieß die Siebzehnjährige, erhielt mit elterlicher Zustimmung, ein angeblich kurz vor der Zulassung stehendes, innovatives Medikament. Die Eltern mussten die illegale Behandlung des Mädchens aus eigener Tasche finanzieren. Das war eine immense Bürde, aber Julia überlebte die akute Krise, blieb jedoch irreversibel mehrfach behindert, und es erhärtete sich der Verdacht, dass nicht ihre Erkrankung, sondern Nebenwirkungen des Pharmakons Schuld an diesem Zustand waren. Die Familie zerbrach unter der Belastung. Nach meinen damaligen Recherchen hatte der Vater Trost im Alkohol gesucht und verschwand dann eines Tages sang- und klanglos. Die Mutter blieb mit den erwachsenen Kindern – Julia hatte einen älteren Bruder, Jona –, mit der Pflege und dem Schuldenberg zurück. Eine teure Klage gegen das Unternehmen hätten sie niemals bezahlen können, zumal so ein Fall äußerst schwer beweisbar ist.«
»Mann, wenn einem das nicht an die Nieren geht!«, stöhnte Richard Berger.
»Ja, das war für mich und Maria, die zur gleichen Zeit als freie Fotografin arbeitete und die ich beim Erstellen der Bilderserie kennenlernte, ´ne echt harte Nummer. Und Marlene – damals nur Greif, denn verheiratet war sie noch nicht – hatte ich für die Partei des Pharmaunternehmens interviewt, aus dessen Kochtöpfen dieses üble Heilmittel kam. Es wurde nie zugelassen. Später traf ich sie immer wieder einmal, wenn es um Berichte über den Konzern ging.«
»Und was geschah mit der Familie?«
»Sie erhielt einen kleinen Anteil der gesamten Spendensumme, was natürlich nur einen Tropfen auf den heißen Stein bedeutete. Soweit ich mich erinnere, starb das Mädchen Jahre danach in einem Hospiz. Sie wissen doch, wie das im Journalismus funktioniert: Heute eine brandheiße Story, morgen schert sich niemand mehr um die Opfer.« Christian Pfeiffer schlug in einer Geste der Hilflosigkeit auf das Lenkrad. Dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, stieg er auf die Bremse! Die Gurte griffen sofort, aber Berger machte dennoch einen unfreiwilligen Bückling.
»Zum Teufel nochmal, warnen sie mich doch vor! Sind wir schon da?« Er klang gereizt.
»Nein, nicht ganz – da vorne, dieser Komplex, der muss es sein! Aber, verdammt, in diesem Augenblick, in dem ich ihnen diese Geschichte erzähle, fällt mir was Kurioses auf. 10.000 Euro! Himmel, Berger! 10.000 Euro, das war genau die Summe, die Familie Habermaas der Klinik für die Behandlung mit diesem Medikament schuldete. Haben sie sich nie gefragt, warum die beiden Männer von ihnen genau diesen Betrag erpressen wollten? Eine ungewöhnliche Summe, wie ich finde!« Vielleicht, dachte er mit einem Anflug von Verzweiflung, will mein Verstand nur unbedingt Lösungen finden, wo es keine gibt. Aber dennoch, spielten nicht in dem alten Stück zum Teil dieselben Darsteller wie die auf der neuen Bühne? Konnte alles zusammen genommen bloß Zufall sein?
»Und was heißt das?« Bergers Handflächen fuhren nervös die Oberschenkel rauf und runter.
»Ehrlich? Keine Ahnung! Aber es könnte sich zu einer ersten richtig heißen Spur entwickeln. Wir haben noch acht Minuten. Ich fahre jetzt näher ran an das Gebäude, denn ich schätze, er wird uns beobachten.«
Als der Dacia gleich darauf erneut hielt, zeigte das Navi genau den bei der Abfahrt eingegebenen Standort.
Die beiden Männer schauten sich fragend an, so, als hoffte jeder, dass der andere eine phänomenale Idee preisgab. »Und jetzt«, sagte Pfeiffer so wild entschlossen wie ein Kind, das pfeifend in den Keller geht, um sich den Monstern zu stellen, die es dort wähnt, »jetzt schnappen wir uns den Mistkerl, der sowohl für den Tod Marias als auch den des Opfers ihrer Erpressung verantwortlich ist!« Überrascht stellte er fest, dass sich zu seiner Angst fiebrige Euphorie gesellte.
Er stieß die Wagentür auf und stieg aus. Die Luft war feucht und die Temperatur lag um den Gefrierpunkt. An manchen Stellen glitzerte Reif. Berger folgte ihm, wenngleich eher halbherzig. Die langsamen Bewegungen, das müde, faltige Gesicht, spiegelten jetzt sein tatsächliches Alter, und der Journalist machte sich Sorgen, ob der ältere Herr physisch durchhalten würde.
»An eine Taschenlampe habe ich zwar gedacht, aber wir Trottel haben nichts, um uns zu wehren«, stellte Richard Berger trocken fest.
»Nicht ganz!« Pfeiffer klopfte vielsagend in Herzhöhe auf seine dicke Winterjacke.
»Sie haben eine Waffe? Hatten sie die etwa schon bei uns im Haus bei sich?« Berger schüttelte tadelnd den Kopf.
Pfeiffer zuckte wie zur Entschuldigung mit den Schultern. In seiner Jackentasche bettelte sein Handy um Aufmerksamkeit. Sofort stellte sich das flaue Bauchgefühl wieder ein. Als hätte er entweder zu viel oder zu wenig gegessen oder den Inhalt eines Luftballons geschluckt. Mit klammen Fingern nahm das Gespräch entgegen. Die bekannte tiefe Stimme strotzte vor Selbstsicherheit, zeugte aber auch von einer ungeduldigen Erregung.
»Das Ultimatum ist fast abgelaufen. Ein bisschen Beeilung, die Herren! Ihr seid nicht zu Omas Blümchenkaffee geladen!«
»Wir sind ja hier, aber stehen vor einem verschlossenen, gesicherten Tor aus massiven Gitterstäben.« Tonlos deutete Richard Berger auf ein ramponiertes Firmenschild aus Metall, das seitlich am Zaun angebracht war. ›Hygisom-Greif AG‹ stand unterhalb eines Firmenlogos, darunter ›Vertrieb‹ und letztlich die Adresse. Pfeiffer registrierte am Rande, wie sich Puzzlesteine in seinem Hirn in Position brachten, aber das musste warten.
»Es ist ein Rolltor und ich habe dafür gesorgt, dass sie es ein Stück weit aufziehen können. Gleich das erste Gebäude dahinter auf der linken Seite hat ein kaputtes Fenster im Erdgeschoss, durch das sie einsteigen können. Um den Wachdienst brauchen sie sich nicht zu kümmern, das habe ich ihnen abgenommen. Genießen sie den Lost Place!«
Pfeiffer und Berger folgten der Anweisung. Der weiß getünchte Bau mit dem Bogendach lag etwas vertieft und ein begrünter Erdwall schirmte die Front vor Blicken von der Straße ab. Pfeiffer kletterte als Erster durch das Fenster, das nur mit einer wetterfesten Plane abgedeckt war und half dann seinem älteren Begleiter, der seine Taschenlampe einschaltete. Sie befanden sich in einer Lagerhalle, deren Dachkonstruktion von Säulen getragen wurde. Tonnenschwere Betonbrocken vermutlich herausgerissener Wände oder Zwischendecken lagen auf dem Boden und streckten Moniereisenbeine in die Höhe wie versteinerte Käfergiganten. Seitlich öffneten sich kleinere Anbauten. Die Luft roch weder abgestanden noch modrig, was auf einen passablen Gebäudezustand schließen ließ.
Ehe der Lichtkegel die Haupthalle komplett erkundet hatte, explodierte ein Schuss und echote grollend durch die Räume. Ein Mündungsfeuer hatten die Männer nicht gesehen, aber der Knall war unglaublich laut in der Leere, die der entsprach, die Berger und Pfeiffer jäh überkam. Waren sie wieder zu spät? Hatten sie erneut versagt? In welchem irrsinnigen Albtraum waren sie gefangen und warum? Das Licht von Richard Bergers Leuchte erreichte eine fleckige Betonwand, glitt an ihr langsam daran herunter und fiel auf einen Frauenkörper. Das Bild entsprach fast dem, das sie aus dem Video kannten, nur war aus diesem alles Leben gewichen. Die Augen des Opfers waren geschlossen, in der Hand ihres ausgestreckten Arms lag ein kleiner Smith&Wesson Revolver mit Griffschalen aus braunem Holz. Eine ungewöhnliche Waffe für eine Frau. Pfeiffer war dankbar, als Berger das unbarmherzige Licht etwas seitwärts schwenkte. Nicht minder schauerlich war allerdings die Blutlache, die jetzt die Helligkeit einfing. Berger beugte sich hinunter, tippte einen Finger an den Rand und stutzte.
»Marlene hat sich nicht gerade eben erschossen. Das Blut beginnt zu trocknen und in den Betonboden zu sickern. Die Ärmste liegt hier schon länger, und wir sind erneut Statisten einer perfiden Vorführung geworden! Nichts, gar nichts hätten wir ändern können, verflucht nochmal.« Den letzten Satz spie er so laut aus, dass er von Spucketröpfchen begleitet wurde und stampfte dabei zornig wie Rumpelstilzchen auf.
Pfeiffer zog seine Glock, eine Selbstladerpistole, aus dem Schulterholster, das er unter der Jacke trug. »Zeig dich, du feiges Dreckschwein, wo bist du?«, schrie er in die Dunkelheit. Er bekräftigte seine Wut, indem er zweimal in die Luft feuerte, als wollte er mit dem Unsichtbaren um das letzte Wort kämpfen.
»Gut gebrüllt, Löwe!«, sagte die Stimme in seinem Handy – er hatte vollkommen vergessen, dass es auf Empfang war. »Das nächste und zugleich das letzte Mal, mein Wort darauf, müsst ihr schneller sein! Überlass den Showdown der Story nicht dem Zufall. Die Stimme lachte künstlich. Ha, ha, oder sollte ich heute sagen einer Zufall?«
»Und mein Wort darauf, dass ich dich zu Fall bringe«, versprach Christian Berger und drückte das Gespräch weg.