Offene Enden Teil 3: Schreib Teil 4

Wie wirst du die Geschichte fortsetzen? Schreib, was als nächstes passiert …

Offene Enden – dritter Teil

von @Linna

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen stand Christian Pfeiffer an Marias Grab, den abgewetzten Fedora tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen. Es regnete, wie so oft in den vergangenen Tagen. Dicke Tropfen prasselten auf die Chrysanthemen herab, die Marias Mutter erst gestern vor den Grabstein gelegt hatte.
„Es war nicht deine Schuld, Christian.“ Sanft hatte die alte Dame ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt.
Sie hatte recht. Doch nicht jede Wahrheit fühlte sich auch wahr an. Und dass die Polizei dem eigentlichen Täter noch keinen Schritt nähergekommen war, machte es nicht besser. Immer wieder durchlebte Pfeiffer diese letzte Sekunde. Träumte sie, atmete sie, schmeckte sie bitter auf seiner Zunge, spürte sie brennend in seiner Brust. Die Sekunde seines Versagens.
„Ich werde eine Weile nicht kommen, Maria“, sagte er leise. „Ich muss etwas erledigen. Für dich. Für mich.“
Er würde Maria erst wieder besuchen, wenn ihm gelungen war, was er sich vorgenommen hatte. Oder wenn man ihn neben sie zur Ruhe legte. Auch das war ein mögliches Ergebnis der Nachforschungen, die er heute beginnen würde, da machte er sich nichts vor. Doch forschen würde er. War er nicht Journalist?
Er wandte sich ab, ging zu seinem Auto und zog den verknitterten Zettel mit der Adresse aus seiner Tasche.

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„Kaffee?“, fragte Frau Berger. „Ich kann Ihnen Cappuccino, Espresso, Latte Macchiato…“
„Nein, einfach Kaffee, bitte. Ohne alles.“ Aufmerksam sah Christian Pfeiffer sich im bergerschen Wohnzimmer um. Es hier bis auf das cremeweiße Ledersofa zu schaffen, hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet.
„Sie wollen also mit mir sprechen, von Opfer zu Opfer“, sagte Herr Berger, der ihm gegenübersaß. Mit einem Ausdruck tiefer Müdigkeit in den Augen.
„So ist es.“
„Die eigentlichen Opfer waren wohl der Mann mit dem Bart und Ihre Freundin, Maria.“
„Ja. Das ist richtig. Dennoch … stimmt es nicht, dass man Sie belästigt, seit dieses Video viral gegangen ist? Die Kommentare in den Social Media können Sie vielleicht ignorieren. Doch ich sah Reste von Eiern und Sprühfarbe an Ihrer Fassade. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich kaum noch vor die Haustür wagen. Dass nichts mehr ist, wie es war.“
Das kleine Schaudern, das sich durch Bergers Schultern zog, sagte Pfeiffer, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Letzte Woche wollten wir zum ersten Mal wieder essen gehen.“ Frau Berger setzte die Kaffeetassen auf den Glastisch. „Da hat jemand Richard erkannt und nannte ihn einen Mörder. Aber das ist er nicht. Können Sie ihm das klarmachen?“
„Ich hätte das Geld gehabt, Dorothea. Hier in unserem Safe. Für Notfälle.“ Herr Berger wirkte kurz etwas verloren und seine Frau streichelte ihm mitleidig über die Schulter.
„Ich kann Ihnen ebenso wenig Absolution erteilen, wie Sie mir, Herr Berger.“ Pfeiffer griff nach dem kleinen Notizblock in seiner Innentasche. „Aber ich will für Gerechtigkeit sorgen, indem ich die Wahrheit aufdecke. Sie haben von Angesicht zu Angesicht mit dem Täter gesprochen, darum fange ich hier an. Ich habe einige Fragen vorbereitet und …“ Er hielt inne, als es an der Tür klingelte, und ihn beschlich ein ungutes Vorgefühl.
Dorothea ging, um aufzumachen, und kam nur Augenblicke später zurück ins Wohnzimmer. Mit einem kleinen, braunen Päckchen. Es hätte vor der Tür auf dem Plattenweg gelegen.
Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie es auf den Salontisch legte. Vorsichtig, als könnte es jeden Augenblick in die Luft gehen. Das bange Vorgefühl schien nun auch die Bergers erfasst zu haben.
„Hatten Sie etwas bestellt?“ Pfeiffer kannte die Antwort schon, ehe seine Gastgeber den Kopf schüttelten. Auf dem Päckchen stand ja nicht einmal eine Adresse.
Ohne noch lange zu zaudern, riss er es auf und fand einen USB-Stick.
„Bring ihm doch mal den Laptop, Dorothea“, sagte Berger erstaunlich gefasst. „Er arbeitet in einer Online-Redaktion und ist Experte für sowas.“
Experte, ja genau. Da war es wieder, dieses bittere Brennen. Eine Sekunde. Wäre er eine Sekunde schneller gewesen … Nein, diese Gedanken nützten jetzt nichts. Um den Inhalt eines USB-Sticks zu öffnen, war er jedenfalls Experte genug.
Zwei Dateien. Pfeiffer klickte auf das Word-Dokument und las die erste Zeile.
An Richard Berger und Christian Pfeiffer
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Furcht des Jagdwilds, die erwartungsvolle Aufregung des Jägers. Er empfand beides gleichzeitig. Sein Feind war ihm einen Schritt voraus. Wusste, wo er war, und ahnte sicherlich warum. Würde vielleicht erneut versuchen, ihn zu benutzen, wie ein grauenhafter Puppenspieler. Doch diesmal war Pfeiffer darauf vorbereitet und gewillt, alles zu riskieren.
„Nein“, flüsterte Frau Berger, die gemeinsam mit ihrem Mann über Pfeiffers Schulter gebeugt mitlas.
Eine Adresse stand dort. Irgendwo im Industriegebiet. Zusammen mit der Aufforderung, pünktlich um 20:05 dort zu sein. Er und Berger beide. Es folgte die wenig überraschende Warnung, keine Polizei hinzuzuziehen.
Seine Gedanken rasten. Waren er und Richard Berger keine zufälligen Opfer? Gab es etwas, was sie verband, und hatte der Täter nur darauf gewartet, dass sie endlich zusammenfinden würden? War diese ganze Sache vielleicht persönlicher, als er gedacht hatte?
Er klickte auf die zweite Datei. Ein Video diesmal.
Da war eine graue Betonwand. Schnelle, flache Atemgeräusche, die nichts Gutes erwarten ließen. Die Kamera schwenkte zu einer Frau. An Armen und Beinen gefesselt lag sie am Boden, den Mund mit Panzertape zugeklebt, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Ihr Haar war verfilzt und ihr Kleid beschmutzt, als wäre sie schon länger in Gefangenschaft.
„Oh Gott!“, rief Dorothea.
„Marlene!“, riefen Pfeiffer und Berger gleichzeitig. Dann sahen sie sich fassungslos an.


Postet hier ab Sonntag, den 08.12. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte weitergeht …

Der Unbekannte

Christian Pfeiffer hatte darauf bestanden, dass sie mit seinem alten Opel fuhren, weil das Video Richard Berger sichtlich mitgenommen hatte. Jetzt rauschten sie durch die Dämmerung der Stadt und Pfeiffer versuchte in seinem Gedanken, die losen Fäden zu greifen, die mit Marias Tod verbunden waren. Einer dieser Fäden war Marlene Romero, die Pastorin, eine Freundin von Maria, die Maria und ihn vor einem Jahr getraut hatte – und die, wie sich herausgestellt hatte, die Schwester von Richard Berger war.
»Marlene ist ein großartiger Mensch, gütig, selbstlos.« Berger wirkte, als wäre er den Tränen nah und Pfeiffer konnte es ihm nicht verdenken.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor einer Woche. Sie hat mich besucht, mir Trost gespendet. Doro und ich gehen sonntags nicht mehr in die Kirche.«
Das Gespräch erstarb. Berger trommelte leise und stakkatoartig auf der Plastikverkleidung der Beifahrertür und starrte durch die Frontscheibe auf die Straße. Pfeiffer bezweifelte, dass der Reiseveranstalter seine Umgebung wahrnahm. Noch im Hause der Bergers hatten sie diskutiert, ob sie trotz der Warnung die Polizei einschalten sollten. Dorothea hatte versucht, auf ihren Mann einzuwirken, aber Richard Berger hatte sich geweigert, wollte das Leben seiner Schwester nicht gefährden. Pfeiffer hielt das für einen schweren Fehler, doch wäre es um Maria gegangen… er brach den Gedanken ab. Stattdessen wühlte er in seinen eigenen Erinnerungen danach, was ihn selbst mit Marlene Romero verband. Ihm fielen Abendessen ein, Partys, die Maria organisiert hatte, aber nichts, was einen Verrückten dazu treiben konnte, die Pastorin zu entführen.
»Er hat Sie einen Ausbeuter, einen Kapitalisten, genannt, mir hat er vorgeworfen, Journalisten kümmerten sich nicht um die Probleme der Menschen. Gibt es etwas, dass Marlene getan haben könnte, was die Aufmerksamkeit des Täters geweckt hat?«
Richard Berger schien wie aus seinen Gedanken gerissen, er kratzte sich den stoppeligen Kinnbart, dann schüttelte er den Kopf, wie einer, der nicht wusste, was er denken sollte. »Ob es etwas gibt, was man der evangelischen Kirche vorwerfen kann? Sicher. Aber hätte er dann nicht genauso gut einen katholischen Priester entführen können?«
Pfeiffer nickte unbestimmt und fand keinen Ansatz, die Fäden zu verbinden. Maria, Marlene Romero, die Bergers, er selbst. Wenn es darum ging, Symbole für einen Werteverfall, für Fehler im System auszuwählen, warum dann gerade sie? Die Ahnungslosigkeit setzte sich wie ein Geschwür in Pfeiffers Kopf fest, der Täter war ihnen voraus, sie stolperten ihm blind hinterher.
Sie überquerten die Leunabrücke, die Uhr des Opels zeigte 19:31 Uhr. Linker Hand erstreckten sich nun kahle Felder, rechter Hand das Industriegebiet. Pfeiffer folgte dem Navigationsgerät durch einen Kreisverkehr und in das Labyrinth aus Bürogebäuden, Fabrikhallen, Schornsteinen und Gasleitungen. Eine Weile fuhren sie geradeaus, der einsetzende Sprühregen und die schwachen Laternen verwandelten das Straßenbild in eine Art apokalyptisches Detroit. Sie erreichten ihr Ziel in der Nähe einer Ansammlung riesiger Gas-Tanks und langgezogener Lagerhallen, die von einem stabilen Gitterzaun abgesperrt wurden. 19:43 Uhr. Sie stiegen aus, Pfeiffer setzte seinen Fedora auf und sah sich um. Es gab in der Nähe keinen Eingang und Stacheldraht verhinderte, dass man auf das Gelände klettern konnte, doch zwanzig Meter weiter erkannte er einen Zettel, der in einem Plastikumschlag an den Zaun gebunden war. Ein Pfeil war darauf zu sehen, der die Straße hinunter deutete und außerdem die Zahlen: 20:05.
»Ob das eine makabere Schnitzeljagd wird?«, dachte Pfeiffer. Sie folgten dem Wegweiser bis zum Ende des Geländes, wo sie auf eine alte Gleisanlage trafen, die augenscheinlich nicht mehr genutzt wurde. Ausrangierte Waggons verrosteten hier, sie stiegen über die rutschigen Gleise hinweg, bis Berger einen Güterwagen entdeckte, an dem ein weiterer Zettel befestigt war. 20:05. Kein Richtungspfeil.
Der Reiseveranstalter deutete auf eine spaltbreit geöffnete Schiebetür. Vorsichtig gingen sie darauf zu, lauschten auf Geräusche und als außer dem fernen Verkehr nichts weiter zu hören war, zogen Sie gemeinsam an dem Türbügel. Ein metallisches Quietschen begleitete ihre Bemühungen.
»Wir hätten Taschenlampen mitnehmen sollen«, sagte Pfeiffer und suchte die Funktion seines Diensttelefons. Er fand sie, doch der Lichtkegel seiner Handykamera fiel in einen leeren Raum. Über dem Eingang war ein alter, wahrscheinlich defekter Baustrahler montiert, sonst nichts. Eine überraschte Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er sah auf das Display, noch fünf Minuten bis 20:05. Berger stand ratlos neben ihm, Pfeiffer leuchtete erneut die Wände ab, da bemerkte er ganz am Ende des Waggons zwei kleine Gegenstände. Nach kurzem Zögern nickten sie einander zu und kletterten ins Innere des Wagens, Pfeiffer dynamischer als der rundliche Berger. Die beiden Objekte entpuppten sich aus der Nähe als ein dicker, brauner A4-Umschlag und ein kleines Päckchen.
Christian Pfeiffer stand auf dem Umschlag. Richard Berger auf dem Paket.
»Eine Bombe?« Die Stimme des Reiseveranstalters klang zittrig.
Unwahrscheinlich, dachte Pfeiffer und wenn, dann würde sie wohl erst in vier Minuten hochgehen. Er griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Heraus kam ein Konvolut von Bildern und Schriftstücken, ausgedruckt auf billigem A4-Papier. Das erste Foto zeigte einen Mann mit gestutztem, grauen Bart, der ein kariertes Hemd trug und gerade ein Gebäude durch einen unscheinbaren Eingang verließ. Unter dem Bild stand ein kleiner Text.
Klaus Töpfer beim Verlassen des Venustempels.
»Das ist der Mann, der sich vor meinem Haus erschossen hat!«, rief Berger überrascht. Pfeiffer nickte, er erkannte den Mann aus dem Video ebenfalls, wenngleich er auf dem Foto wesentlich gepflegter erschien. Vor allem aber kannte er den Venustempel aus Recherchen. Ein Bordell, nach außen hin legal, doch hinter den Kulissen ein Hort illegaler Prostitution.
Auf der nächsten Seite waren zwei E-Mails abgedruckt. Derselbe Klaus Töpfer, der den Tempel verließ, forderte einen seiner Vertrauten auf, ein Reiseunternehmen zu finden, das Fahrten von Sofia nach Frankfurt organisieren konnte. Der Vertraute hatte geantwortet, dass Berger-Reisen die Busse bereitstellen würde. Zehntausend Euro pro Fahrt und es würden vom Inhaber keine Fragen gestellt.
Pfeiffer sah auf und selbst im Halbdunkel des Handytaschenlampenlichts konnte er sehen, dass Bergers Gesicht bleich geworden war.
»Das war…«, stammelte Berger. »Ich wusste doch nicht…«
Doch bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, flammte plötzlich Licht auf, als leuchtete jemand mit einem Scheinwerfer in den Waggon. Die beiden Männer wirbelten herum, wurden geblendet, Pfeiffer schirmte die Augen mit den Papieren ab. Der Baustrahler über dem Eingang leuchtete gleißend hell. Daneben erkannte er nun auch eine Webcam.
»Haben Sie das Foto von Marlene Romero schon entdeckt?«, rief jemand außerhalb. Pfeiffer brauchte keine Sekunde, um die Stimme zu erkennen, es war der Anrufer, der Unbekannte auf dem ersten Video. Pfeiffer spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, wie Adrenalin sämtliche Furcht verdrängte und einen Jagdinstinkt weckte, der stärker war als je zuvor in seinem Leben. Vergessen waren die Emails, die Richard Berger belasteten, mit einem Menschenhändler zusammengearbeitet zu haben. Mit einem Mal gab es nur noch den Drang, diesem Mann, von dem er nichts als die Stimme kannte, Schmerz zuzufügen, ihn büßen zu lassen für das, was er Maria angetan hatte. Doch bevor Pfeiffer zum Eingang rennen konnte, kletterte der Unbekannte selbst leichtfüßig in den Wagen. Er war auffällig groß und schlank, trug eine Jeans und eine Jacke aus braunem Lederimitat. Sein Gesicht lag im Schatten, er hielt sich außerhalb des Lichtkegels, der wie ein Scheinwerfer auf Pfeiffer und Berger gerichtet war.
»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er und ein bösartiger Unterton lag in seiner Stimme. »Ah, ah, ah, bleiben Sie stehen, Christian Pfeiffer, ich bitte Sie, ich bin bewaffnet. Sie enttäuschen mich, wenn Sie glauben, dass ich mich Ihnen zum Fraß vorwerfen würde.« Er zog eine Pistole betont langsam aus der Jackentasche und richtete sie auf seine beiden Opfer.
»Wo ist Marlene, du Widerling?«
»Eine hervorragende Frage, Herr Berger, die wichtigste des heutigen Abends. In einem fensterlosen, luftdicht verschlossenen Kellerloch und die Antwort befindet sich nur an einem Ort. Hier.« Er tippte mit dem Lauf der Pistole gegen seine Stirn. »Also reißen Sie sich zusammen und tun Sie, was ich sage. Öffnen Sie bitte das Paket, Herr Berger.«
»Sollen wir alle gemeinsam in die Luft gesprengt werden?«, warf Pfeiffer ein, damit der Mann weiterredete, irgendetwas preisgab.
»Ich bitte Sie! Menschen in die Luft zu jagen ist nicht mein Stil.«
»Sie zu entführen und in den Selbstmord zu zwingen dagegen schon.«
»Nein, das ist nicht wahr, ich zwinge niemanden. Jeder Mensch hat eine Wahl. Klaus Töpfer hatte eine und er hat sich entschieden, den Pfad der Tugend gegen Habgier und Wollust einzutauschen. Marlene Romero konnte wählen und hat die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen. Beide wurden von ihren Entscheidungen eingeholt.«
»Und was ist mit Maria, du dreckiges Arschloch? Was hat sie getan, dass du… dass sie…« Pfeiffer konnte es nicht aussprechen. Wut, Hass und Ohnmacht brannten ihm in den Augen.
»Sie hatte die Wahl, ihren Mitmenschen oder sich selbst zu helfen. Die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung war ihr Untergang. Ihre Gleichgültigkeit, Christian Pfeiffer, denn auch Sie hatten eine Wahl und haben sich entschieden, wegzusehen. Schauen sie sich die fünfte Seite an.«
Mit zitternden Händen blätterte Pfeiffer weiter. Was er sah, brauchte er nicht einmal zu überfliegen. Eine Nachricht von Konstantin Magnus, seinem Chef, ein halbes Jahr alt. Die strikte Anweisung, nicht mehr zu recherchieren, kein Wort in der FGZ über Menschenhandel, Prostitution. Stattdessen Versetzung zur Online-Redaktion.
»Sie hätten weitermachen und Ihren Job riskieren können«, sagte der Unbekannte. »Sie haben sich anders entschieden. Und damit kommen wir zu Herrn Berger! Denn der hatte ebenfalls eine Wahl und hat sie sogar jetzt noch! Er muss das Paket nicht öffnen, aber dann erstickt seine geliebte Schwester, die ach so selbstlose Pastorin, in einem kalten Kellerloch und niemand weiß, wo man ihre Leiche finden kann.«
»Schon gut!«, rief Berger. Langsam, wie in Zeitlupe kniete er nieder und öffnete mit zittrigen Händen das Paket. Dann erschrak er und zuckte zurück.
»Nehmen Sie sie, na los doch«, sagte der Unbekannte. »Zeigen Sie uns Ihren Fund.«
Zitternd stand Richard Berger auf und drehte sich um. In der Hand, wie in Trance darauf starrend, hielt er eine Pistole.
»Dieselbe mit der sich Klaus Töpfer vor ihrem Haus erschossen hat.« Die Stimme des Unbekannten klang betont ruhig, doch es lag Aufregung, ja sogar Freude darin, als spielte er ein Spiel, von dem er sicher war, es zu gewinnen. Aufreizend lässig steckte er seine eigene Waffe wieder in die Jackentasche. »Eine Kugel befindet sich im Magazin, Herr Berger, nur eine. Ihre Entscheidung, was sie damit tun. Sie könnten mich erschießen, aber wir wissen beide, dass sie das nicht sollten.« Er wartete ab, Richard Berger war wie erstarrt.
»Oder Sie töten sich selbst. Ich schlage Ihnen etwas vor! Sie werden in die Kamera sehen und laut und deutlich sagen:
›Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‹
Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten. Wenn Sie das getan haben, wird Christian Pfeiffer das Video auf der Seite der FGZ hochladen. Ich verrate im Gegenzug der Polizei, wo Marlene Romero gefangen gehalten wird. Sie sehen, ich zwinge niemanden. Ihre Entscheidung, Herr Berger.«
Er hob den Arm in Richtung der Webcam und drückte auf eine kleine Fernbedienung. Mit einem roten Licht zeigte die Kamera an, dass sie aufzeichnete.

Die Fäden laufen zusammen
Christian Pfeiffer befreite sich von der lähmenden Stille, warf sie ab, wie eine zu schwere Decke, die alles um sie herum erstickte.
»Woher kennen Sie Marlene?« Er merkte, wie Berger seinem Blick auswich. Was war hier los?
»Es… es war etwas Geschäftliches.« Berger rang um jedes Wort. Er antwortete wie in Trance.
»Sagen Sie mir alles, was Sie über Marlene wissen. Zwei Menschen sind tot. Es ist wichtiger, als wir vermutlich jetzt schon begreifen können. Erzählen Sie es mir. Bitte!« Pfeiffer musste die wirbelnden Blätter in seinem Kopf ordnen. Dazu brauchte er… Informationen.
»Alles erzählen. Wenn es so wichtig ist. Werden Sie das auch tun?« fragte Berger.
»Ja.«
»Woher weiß ich denn, dass Sie die Wahrheit sagen?«
»Ganz einfach.« Christian Pfeiffer tauchte völlig ein in das alte Gefühl von Angst und Aufregung, das Meer aus gespannter Erregung auf dem blutigen Pfad der Erkenntnis. Er fühlte sich fast schlecht, als er merkte, dass es ihm gefiel. Er war wieder ein journalistisches Raubtier auf der Jagd. »Weil wir alle sterben werden, wenn wir das Rätsel nicht lösen
Berger schluckte schwer. »Marlene war vor einigen Jahren eine … Nebeneinnahme. Sie bezahlte mich dafür, dass ich Zimmer in verschiedenen Hotels in Zürich reservierte. Auf fiktive Namen. Es ging für ein paar Wochen.«
»Was waren das für Namen?«
»Alte Filmstars. Das war ihre Idee. Rühmann, Albers, Garbo so was halt. Sie hat mir 500€ pro Reservierung bar hingelegt.«
»Wie oft haben Sie das gemacht? Und wofür?« Pfeiffer hätte jetzt alles für einen Block und einen Kugelschreiber gegeben. Das hier wurde… groß.
»Wofür weiß ich nicht. Vielleicht wollte sie Personen dort einquartieren, die nicht gerne ihren echten Namen nennen wollten. Das geht möglichst unauffällig über das gute alte Reisebüro. Es waren achtzehn, vielleicht neunzehn Reservierungen.«
Pfeiffer schluckte, als ihn die Welle der Erkenntnisse mitriss. »Zwanzig. Es waren exakt zwanzig Reservierungen. Damit bekamen Sie genau…«
»Zehntausend Euro! Oh mein Gott.« Berger stieß fast die Kaffeetasse um.
»Die Zahl ist nicht willkürlich. Sie ist eine Warnung.« Es machte alles Sinn. Nur hätte Christian Pfeiffer nie gedacht, dass Maria und er so richtig gelegen hatten. Alles lief darauf hinaus. Vril. Selbst Marias Selbstmord vervollständigte das Bild. Sie hätte es geliebt.
»Woher wissen Sie das? Wie kommen Sie darauf? Eine Warnung wovor?«
»Bevor ich Online Redakteur wurde, arbeitete ich im investigativen Journalismus. Frontberichterstattung, nennen wir das. Ein Junge starb und ich kam direkt in die Grabkammer des Journalismus. Marlene war bei einer Recherche über globale neofaschistische Gruppierungen mein Insider. Marlene ist lediglich ihr Kontaktname. In Anlehnung an Marlene Dietrich, die die Hauptrolle in dem Film ‘Die Nürnberger Prozesse’ spielte.« Pfeiffer lächelte. »Sie blieb sich treu. Raten Sie mal, was mich die kleinen Hinweise auf konspirative Nazitreffen kosteten?«
»Zehntausend Euro?«
»Bingo. Ich recherchierte mit Maria über eine Gruppierung namens ‘Vril’, die die Wunderwaffen der Nazis weiterentwickeln wollte. Freaks, die selbst den Rechten zu radikal waren. Sie rekrutierten weltweit irre Wissenschaftler, um so dämliche Ideen, wie die Reichsflugscheibe, Strahlenkanonen oder Gedankenmanipulation weiter zu entwickeln.«
»Gedankenmanipulation?« Berger begriff. Langsam, zweifelnd an seinem Verstand, aber er begriff.
»Fritz Lang griff die Idee 1933 bei Dr. Mabuse auf. Hitler war fasziniert davon. Ein Projekt, das alle für unmöglich hielten. Der ultimative Bürger und Soldat. Befehle willensfrei befolgend.«
»So, wie sich selbst zu erschießen.« Er sah zu seiner Frau Doro, die mit der Hand vor dem Mund am Sideboard stand.
»Wieder Bingo. Es klingt weniger unglaubwürdig, wenn Sie es aussprechen, stimmt’s? Der große Familienspaß für die Nazi-Elite. Aber was könnte Vril von Ihnen wollen? Hat Marlene Ihnen irgendetwas gegeben, das gefährlich für diese Organisation werden könnte?«
»Nein.« Berger seufzte schwer. Es hatte keinen Sinn, etwas zu verschweigen. »Ja, doch. Da gibt es etwas. Ich habe die Reisepassnummern der Gäste. Sie können mit einem falschen Namen einchecken, aber ich wollte eine Sicherheit. Falls das alles illegal ist und so.«
»Und Marlene hat sie Ihnen gegeben, weil sie zwar ein Maulwurf ist, aber das Projekt nicht zu früh auffliegen lassen wollte. Sie waren quasi unfreiwillig ihr Faustpfand. Und das will Vril jetzt einlösen. Ein Geiseltausch. Marlenes Leben gegen unsere Informationen.«
»Das muss es sein.« Die Panik war Berger anzusehen. »Und der junge Mann mit dem Handy war einer von ihnen?«
»Lakai oder Führer«, sagte Christian Pfeiffer. »Das werden wir herausfinden. All das war ein Exempel, um uns zu zeigen, dass sie uns jederzeit alles nehmen können.«
»Aber wo finden wir Marlene? Und können wir nicht die Polizei…«
»Sie haben es doch gelesen, Berger. Keine Polizei. Und wo wir sie finden ist doch offensichtlich. Heute Abend genau um zwanzig Uhr fünf ist Dämmerung. Die Straßenbeleuchtung schaltet sich dann ein. Es gibt keine Zufälle hier.« Christian Pfeiffer leerte seinen Kaffee. »Sie wird dort sein. Industriegebiet. Kasernenstraße.« Ein zynsiches Lächeln umtanzte seine Mundwinkel. »An der Laterne. Wie einst Lili Marleen

(c) Michel
Für Andreas, Monty & Linna.

Richard Berger und Christian Pfeiffer machten sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Die Uhr zeigte 19:45 Uhr. Trotz der ausdrücklichen Warnung hatten sie die Polizei informiert, die ihnen unauffällig in zivil folgte.
Beide waren sich einig, dass die Gefahr eines Alleingangs zu groß war. Fehler konnten tödlich enden, wie sie beide bereits am eigenen Leib erfahren hatten. Die Gelegenheit, diesen Schweinehund dingfest zu machen und Marlene zu retten, durften sie nicht verstreichen lassen.
Marlene… Richard Berger wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Niemals hätte er gedacht, seine uneheliche Tochter auf diese Weise wiederzusehen. Ein guter Vater war er nie gewesen. Er hatte seinen Ausrutscher mit monatlichen Zahlungen abgegolten, hin und wieder ein Geschenk geschickt, und alle paar Jahre hatten sie sich getroffen – bis der Kontakt schließlich ganz abbrach. Dorothea war immer eifersüchtig gewesen, hatte es nicht ertragen, wenn er Marlene sah. Die Tatsache, dass sie nun ausgerechnet Pfeiffers Ex-Freundin war, gab dem Ganzen eine beunruhigende Note. Richard bereute sein Verhalten zutiefst. In den vergangenen Jahren hatte er sich oft gefragt, was aus Marlene geworden war. War sie glücklich? Verheiratet? Hatte sie Kinder?

Christian und er wussten nun, was sie verband, aber nicht, was sie getan hatten, um diese Ereignisse auszulösen.
Bergers Hände zitterten. Seit dem Vorfall vor seiner Haustür war er nicht mehr derselbe. Der Schock saß tief, die Bilder hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Über Nacht war er um Jahre gealtert. Verstohlen warf er einen Blick zu Pfeiffer, dessen Augen tief eingesunken wirkten. Der ungepflegte Drei-Tage-Bart und der Geruch nach billigem Fusel sprachen für sich – es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Ihm ging es genauso schlecht wie Richard selbst.

Sie erreichten die Abfahrt in Richtung Industriegebiet etwa fünf Minuten später. Bergers Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Angst breitete sich in ihm aus – Angst vor dem, was sie erwarten würde, und davor, die Wahrheit herauszufinden.
Konnten sie Marlene retten? Unruhig spielte er mit seinen Fingern und wischte sich die schweißnassen Hände an seinen Hosenbeinen ab. Sein rechter Wangenmuskel zuckte. Ein Tic, der immer auftrat, wenn er nervös wurde.
Pfeiffers Mimik hingegen blieb ausdruckslos.
»Wir sind gleich da. Machen Sie sich bereit, Richard.«

Zögerlich betraten sie eine alte Lagerhalle, die als Treffpunkt fungierte.
Es war stockdunkel, nur ein paar verrostete Öltonnen, die als improvisierte Feuerstellen dienten, warfen ein flackerndes, schattenhaftes Licht in den großen Raum.
Die Beamten hatten hinter ihnen Stellung bezogen-gut versteckt und unsichtbar.
Langsam schritten sie voran. Irgendwo schrie eine Katze. Berger zuckte kaum merklich.

»Marlene?«, rief Pfeiffer plötzlich in die beklemmende Stille. »Kannst du mich hören? Bist du hier?«
Eine schwarze Gestalt löste sich aus den Schatten und schritt mit leisen Sohlen langsam auf sie zu. Ihre roboterhaften Bewegungen wirkten fast unmenschlich.
»Keine Sorge, wir sind alle hier, Christian, nur Geduld.«
Die Stimme klang verzerrt, künstlich. Das Gesicht war hinter einer schwarzen Skimaske verborgen, sodass es unmöglich war, zu erkennen, ob die Person männlichen oder weiblichen Ursprungs war. Ein kalter Schauer lief Richard über den Rücken, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Selbst Pfeiffer, der sonst kaum Emotionen zeigte, schluckte hörbar, als rechts ein greller Scheinwerfer aufflammte.

Das Licht offenbarte eine zarte Gestalt, die wie einst Jesus an die Wand genagelt war. Ein Knebel steckte zwischen ihren grellroten Lippen, über ihr ein Schriftzug in schwarzer Farbe: Sünde, Eifersucht, Verrat, Gier, Schuld und Sühne!
Ihr schmerzverzerrtes, blutiges Gesicht wirkte grotesk und verstörend im kalten Lichtschein. Nur die blauen Augen erkannte Richard sofort. Er hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Sein Herz setzte für einen Moment aus.

»Dorothea? Um Himmels willen!«, keuchte er.

User @Bommel/Tanja

Während die beiden tatsächlich einen Grund hatten, fassungslos zu sein, war Dorothea einfach nur entsetzt. Die Aufregung der letzten Tage und jetzt offenbar auch noch eine Entführung, das alles wurde ihr zuviel. „Ich gehe hoch und nehme eine Tablette. Entschuldigen sie mich bitte, Herr Pfeiffer.“ Mit müden kleinen Schritten ging sie zur Treppe und nach oben.

Berger, mit inzwischen hochrotem Kopf, wartete, bis er die Schlafzimmertür zufallen hörte. Dann platze es aus ihm heraus. „Marlene! Sie kennen sie auch? Das ist doch kein Zufall.“

Pfeiffer seinerseits war dabei, über seine eigene Verbindung zu ihr nachzudenken. „Ja, ich habe sie mal im Rahmen einer Recherche im Rotlicht-Mileu kennengelernt. Aber wieso hier, wieso jetzt, und wieso wir?“ Er schüttelte den Kopf, konnte sich keine Reim darauf machen. „Was haben Sie mir ihr zu tun? Ihrer Frau ist sie ja offenbar unbekannt.“

„Ja, verdammt. Und so muss es auch bleiben!“ Nach einem kurzen Blick in Richtung Treppe ließ Berger seine gutbürgerliche Maske fallen und fuhr mit gedämpfter Stimme fort.

„Ich habe ein, nun ja, sagen wir, ein weniger öffentliches Nebengeschäft. Wie Sie ja offenbar wissen, arbeitet Marlene in der Purpurnen Laterne und somit müssten Sie meine Dienste schon in Anspruch genommen haben.“

Pfeiffer war überrascht. „Was! SIE machen diese Reservierungen? Wieso bin ich dann damals nicht über sie gestolpert? Dann muss ich doch selbst über Sie gebucht haben!“

Pfeiffer war entsetzt. War er wirklich so ein schlechter Journalist? Offenbar saß er zu Recht in der online-Strafecke. Die Purpurne Laterne. Der exklusivste Puff Frankfurts. Eine 5-stellige Rechnung für einen Abend war da die Norm. Getarnt als Luxushotel „Meridian“, mit Restaurant und Bar-Lounge. Also nicht verwunderlich, dass, wann immer man dort reservieren wollte, alles schon ausgebucht war. Wenn man direkt dort anrief. Wie stolz er auf sich gewesen war, als er dann endlich die Nummer hatte, unter der man tatsächlich Eintritt bekam.

Diese Recherche war nicht gerade eine seiner Meisterleistungen gewesen. Überheblich geworden von seinen ersten Erfolgen träumte er damals von einer großen Karriere als Enthüllungsjournalist. Den Klüngel aufdecken, den Sumpf trockenlegen, die Welt retten. Aber diesen Zahn hatten sie ihm schnell gezogen. Dahinter steckte zu viel Geld, zu viele Verbindungen, die reine Mafia.

Berger hatte sich inzwischen wieder gefangen. „Soso. Sie waren also dieser Schnüffler, der uns damals an den Karren fahren wollte. Arthur Wiener. An ihren Decknamen kann ich mich noch gut erinnern. Glückwunsch, dass Sie früh genug aufgehört haben mit ihren Nachforschungen. Aber jetzt, was machen wir mit Marlene? Wir haben nur noch knapp vier Stunden und der Kerl meint es offenbar ernst.“

Der „Kerl“ saß währenddessen in seinem zur Kommandozentrale umgebauten Jugendzimmer in Frankfurt-Bornheim. In einem dieser kleinen alten Häuschen am oberen Ende der Bergerstraße. Genüsslich lauschte er dem Dialog der beiden. Sie hatten immer noch keine Ahnung, dass er sämtliche Elektronik gehackt hatte, die sie bei und um sich hatten. Und finden würde man ihn nie. Er nutzte all die „geschützten“ WLANs in seiner Umgebung, und wenn er sich zu Wort meldete, dann grundsätzlich über einen Stimmwandler.

Damit kannte er sich aus. Als Gen Z hatte er alles, was mit IT zusammenhing, sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Schon als Heranwachsender trieb er sich mehr in der Hackerszene herum als in der Schule. Was sollte man ihm da schon beibringen. Wer brauchte heute noch Goethe. Mathe und Physik entlockten ihm auch nur ein müdes Lächeln. An einem Tag im Darknet lernte er mehr als in einem ganzen Schuljahr.

Seinen ersten Computer hatten ihm seine Eltern damals mal zu Weihnachten geschenkt. Einfach froh, dass er endlich ein Hobby hatte. Denn sie wissen nicht, was sie tun, dachte er zynisch. Schon bald hatte er sich mit seinem Tech-Vlog in der Szene einen Namen gemacht. Und so waren sie auf ihn aufmerksam geworden. Mit 16 die Tarnmeldung zur Bundeswehr, seine Eltern hatten freudig unterschrieben. Endlich wird was aus dem Jungen. Dass er hoch im Norden stationiert sein würde und nur selten zu Besuch kommen könnte, nahmen sie billigend in Kauf. Beim Bund war er sicher gut aufgehoben.

„Ts“, entfuhr es ihm bei dem Gedanken. Die hatten echt alle keine Ahnung, was in der Welt wirklich vor sich ging. Er hatte es erlebt. Afghanistan Das war sein Einsatzgebiet gewesen. Nein, kein Dienst an der Waffe. Der hatte heutzutage nur noch Alibifunktion. Um wirklich etwas zu bewegen, musste man nicht mehr vor Ort sein. Sogar im hintersten Hindukusch gab es Funk und Internet. So what.

Operation Herbstwind. Da hatte es ihn hingeweht. Er lächelte bei diesem ungewollt poetischen Wortspiel. Schon nach knapp zwei Jahren hatten sie ihn dort eingesetzt. Operation Herbstwind. Aus der Operation Sommerregen entstanden, einem als Hilfsaktion getarnten Unternehmen des BND in Afghanistan. Als dieses mit dem Ende des Kalten Krieges offiziell beendet werden musste, wurde im Geheimen der „Herbstwind“ fortgeführt. Man wusste ja nie, was man noch finden und nutzen konnte. Ein funktionierendes Netz aufgeben war für Geheimdienste keine Option.

„Und, wie läuft‘s?“ Petra, seine Schwester, kam in den Raum und stellte ein Tablett auf den Tisch. Eine Flasche Absynth und zwei Gläser. Das Grün des Getränks funkelte im Licht der Monitore.

„Berger hat die Hosen runtergelassen, Pfeiffer ziert sich noch. Aber das wird ihm auch nichts nutzen. Am Ende werden sie alle in der Hölle braten.“

Petra, die aussah wie eine saubere Version der Marlene in dem Video, lächelte.

Anachronica/Sigrid Heinz

Zahltag

Du siehst aus, wie ein sterbender Schwan. Das war alles.

Auf dem Boden, direkt vor ihrer Nase lag ein Zettel. Es war die Rückseite einer Kekspackung von Loppers. Die Sorte Karamell mit Schokoüberzug.

Wie lange sie hier lag, wusste sie nicht. Unfassbar in so einer Situation zu schlafen, schallt sie sich. Christian - der Pisser und Richard Berger. Zu gern hätte sie in ihre erschrockenen Gesichter geblickt. Das waren die beiden Männer, die sie am meisten hasste. Beide hatten ihr weh getan. Beide hatten sie benutzt und sind achtlos über sie hinweggestiegen.

Berger mit seinen widerlichen Keksen.

Nun denn – geliefert, wie bestellt.

Um Maria war es nicht schade. Sie aufzuspüren war nicht schwer. Marlene hatte Christian Pfeiffer nie losgelassen. Er sie hingegen schon. Ein Journalist, perfekt. Dafür, dass er früher grundsätzlich alles falsch schrieb, eine Meisterleistung. Klaus Ekberg zu finden war eine Herausforderung. Dass der alte Ekberg sich wirklich in den Kopf schießen würde, damit haben sie beide nicht gerechnet. Wahrscheinlich war er lebensmüde. Kein Wunder.

Ihr kleines Videoshooting mit Mike in der alten Fabrikhalle war der Höhepunkt. Sie hörte sie schon um sie weinen: ‘Oh, die arme Marlene. Nicht auch noch sie.‘

Geschenkt, ihr Idioten.

Mike war da anders. Zwar ein wenig speziell, aber er gut zu lenken. Sie hatten sich in einer Schauspielgruppe kennengelernt. Mike hatte sie angesprochen und zu einem Drink eingeladen. Er redete nicht viel, sie dafür umso mehr. Sie erzählte ihm alles aus ihrem verfickten Leben. Geld brauchten sie beide und so schmiedeten sie gemeinsame Zukunftspläne. Heute würden sie sich ihre Portion vom Glück abholen. Und eine Menge Kohle. Heute war Zahltag.

Marlene war vom Rumliegen steif in den Gliedern und brauchte eine Weile, um vom Boden auszustehen. Ihr Kopf fühlte sich hohl an und in ihm schwirrten eine Menge Vögel umher. Sicher sah sie aus, wie ein Zombie. Mit verlaufendem Kajal und Panzertaperesten im Gesicht, dachte sie. Schwankend stolperte Marlene auf die Stahltür zu. Sie war verschlossen.

„Mike.“

„Mike, mach die Tür auf.“

„Mike, mach – die – verdammte – Tür – auf!“, schrie Marlene und trommelte mit den flachen Händen dagegen. Von Mike war nichts zu hören, nur ihr eigenes Echo hallte in allen Ecken.

+++

Dorothea Berger sah hinter der Gardine den beiden Männern zu, wie sie wortlos mit gesenktem Blick den Plattenweg in Richtung Gartentor verließen. Wie Räuber und Gendarm. Sicher würden sie ein Carsharing Auto nehmen. Vielleicht hatte der Journalist auch selbst ein Auto. Sie hoffte, dass Christian Pfeiffer fuhr. Ihr Richard war schon ein wenig unsicher geworden im Straßenverkehr. Seine Augen waren trüb. Und jetzt noch der ganze Stress. Wie immer sorgte sie sich um ihn. Nie wollte er sich helfen lassen. Sie wählte die Nummer der Polizei. Sicher ist sicher.

+++

Kleine Wölkchen Atemluft stiegen vor ihren Gesichtern empor. Christian Pfeiffers alter Audi 80 gab sein Bestes, um mit seinem Gebläse die beschlagenen Scheiben frei zu pusten. Verstohlen sah Pfeiffer auf seinen Beifahrersitz. Da hockte ein verunsicherter älterer Mann und starrte auf seine Hände. Drehte sie hin und her, als ob er darin die Lösung finden würde.

„Sie kennen Marlene?“, begann Christian Pfeiffer sein Verhör.

„Ich hatte sie schon längst vergessen. Ich dachte, sie sei tot.“

Christian Pfeiffer musste schlucken. Der Journalist lehnte sich hinüber zum Handschuhfach, angelte einen beigen Schwamm aus Kunstleder heraus und begann die feuchte Luft von den Scheiben zu wischen. Sie ließ sich nur schwer einfangen und rann lieber als Rinnsal die dreckigen Scheiben hinunter. Richard Berger rückte von ihm ab.

„Und, was ist mit ihnen? Woher kennen sie Marlene?“

„Ich habe ihr mal sehr weh getan. Wir lebten im selben Heim. Für mich war sie wie eine kleine Schwester.“ Abermals schielte er zu Richard Berger hinüber, dem es sichtlich nicht gut ging. Er fingerte an seinem Kragen und wich seinem Blick aus. Christians Journalistenblick entging das nicht.

Der Motor heulte auf und sie fuhren in Richtung Industriegebiet. Berger, Marlene, Maria. Wo war der Zusammenhang? In Christian Pfeiffers Hirn arbeitete es. Irgendetwas hakte hier. Das roch seine Spürnase. Frau Berger, eine kleine friedliche Frau, kam ihm von Anfang an bekannt vor. Ein Déjà-vue. Wie sie den Kaffee einschenkte, das Tablett hielt und über Richard Bergers Schultern strich. Alles ließ ihn leicht erschauern. Er verspürte Ekel und Wut.

„Halten sie da vorn an. Ich muss vorher noch auf die Toilette“. Richard Berger hatte Schweißperlen auf der Stirn und sein Kragen schien ihn einzuengen. Christian Pfeiffer bog rechts ab und ließ Berger an der Tankstelle aussteigen. Er nutzte die Wartezeit und begann nach den Bergers im Internet zu recherchieren. Viel fand er nicht. Das Reisebüro. Das war es nicht. Etwas anderes musste es sein. Ihm war, als ob ihm die Lösung auf der Zunge lag, er konnte sie nur nicht ausspucken.

Richard Berger kam zurück und sah aus, als ob er sich gerade übergeben hatte. Er war gelb im Gesicht und um Jahre gealtert. Sein Blick bat um Gnade. In den Fingern hielt er krampfhaft eine Packung Karamell Schoko Kekse von Loppers.

Christian Pfeiffer schlug die Vergangenheit mit der Faust ins Gesicht. Ein Flashback der übelsten Sorte. Pfeiffer und Berger sahen sich an und jeder konnte im Gesicht des anderen die Vergangenheit lesen. Das Franz-Küble-Haus.

© EffEss

Die Last der alten Fehler

Eine merkwürdige Stille lag über dem Wohnzimmer der Bergers. Die Kehlen wie zugeschnürt, starrten die Männer einander an. Der Bildschirm des Laptops zeigte ein fürchterliches Standbild. Marlene. Gefesselt. Gefangen. Da war sie. Die Verbindung. Die persönliche Note. Doch wer steckte dahinter und was?

Der Instinkt des Journalisten gewann langsam die Kontrolle zurück. Er umklammerte seinen Kugelschreiber. Sein Werkzeug für Gerechtigkeit, seine Waffe für die Wahrheit. Regelmäßig wie ein Metronom erklang das leise Klicken. Es half Pfeiffer beim Nachdenken. Er öffnete zuerst den Mund und stellte die Frage, die alle Anwesenden im Raum in Fassungslosigkeit versetzt hatte. „Woher… Woher kennen Sie Marlene?“ fragte er Berger mit zittriger Stimme.

Berger stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Er war wie benommen, konnte den Blick nicht vom Bildschirm lösen. Die Welt um ihn herum verschwand wie im Nebel. Er hörte die Stimmen nur noch als leises Summen. Pfeiffer klappte den Laptop zu. „Herr Berger“, sagte er nun mit fester Stimme „Woher kennen Sie Marlene?“.

Berger schüttelte den Kopf. Seine Augen glänzten feucht. Nur mit viel Mühe konnte er die Tränen zurückhalten. „Ich, Ich…“ stammelte er. „Sie war meine Verlobte. Vor vielen Jahren. Das war, bevor wir uns kannten“, sagte er an seine Frau gerichtet. „Und Sie?“, stellte Berger die Gegenfrage.

„Sie kam eines Tages einfach in mein Leben geschneit.“ begann Pfeiffer mit funkelnden Augen zu erzählen. „Sie hat alles auf den Kopf gestellt - mein ganzes Leben, meine Arbeit. Ich war damals an einem Fall dran. Jemand hatte im großen Stil Drogen geschmuggelt. Ein junger Mann wurde erschossen. Ich war kurz davor, alles aufzudecken. Vor lauter Verliebtheit habe ich die Hälfte meiner Beweise verloren. Ich konnte die Story nie zu Ende bringen. Sie hat mich ohne Vorwarnung einfach verlassen.“

Die Tränen in Bergers Gesicht waren einem Ausdruck von Entsetzen gewichen. Er war kreidebleich, als hätte er ein Gespenst gesehen. Es war beinahe totenstill. Das monotone Klicken des Kugelschreibers war das einzige Geräusch, welches die Stille durchbrach.

„Wie hängt das zusammen?", murmelte Pfeiffer nachdenklich. „Wir beide hatten eine Beziehung mit Marlene. Aber warum will uns jemand leiden sehen und was hat sie damit zu tun?“

Pfeiffer war wieder gänzlich in seiner Rolle als Journalist angekommen. Wie automatisch ging sein Griff zur Kaffeetasse. Er spürte sofort, wie das Koffein seinen Kopf klarer werden ließ und begann, etwas auf seinem Schreibblock zu notieren.

Berger holte tief Luft. Er schluckte. „Ich…“ begann er zögerlich zu sprechen. „Ich denke, ich weiß es.“ sagte er leise. Er sank auf dem Sessel in sich zusammen und begann zu schluchzen. Die Tränen rannten ihm über die Wangen.

Pfeiffer riss den Blick von seinem Notizblock hoch und starrte Berger verständnislos an. Wie konnte es sein, dass dieser Möchtegern-Aktionär schneller auf die Lösung gekommen war als er. Immerhin war er der Journalist. „Wie meinen Sie das?“ fragte Pfeiffer.

„Ich bin an allem schuld. Ich war jung. Ich wollte das alles nicht. Ich habe Geld gebraucht. Es hätte nie so weit kommen dürfen“, stammelte Berger kaum verständlich.

“Was hast du getan, Richard?“, fragte Dorothea leise. Sie sah ihren Mann fragend an. In ihren Augen lag eine Mischung aus Verachtung und Mitgefühl. Ihr Blick war forschend, fast durchdringend, als würde sie versuchen, die Wahrheit direkt aus ihm herauszulesen.

„Die Story, an der Sie dran waren… damals“, fuhr Berger fort, während er langsam wieder seine Fassung zurück gewann, „das war….“.

„Sie waren das?“ fiel Pfeiffer ihm ins Wort. Berger senkte den Blick. Er nickte bestätigend. Der Rhythmus des Kugelschreiberklickens wurde schneller. Pfeiffers Gedanken rasten. Koffein durchströmte seinen Körper. Das Bild vor seinem inneren Auge wurde deutlicher: „Natürlich.“ sagte Pfeiffer. „Sie haben damals schon im Reisebüro gearbeitet. Perfekt, um bei der Pauschalreise den ein oder anderen Koffer zu schmuggeln. Wer verdächtigt schon eine Gruppe Rentner und Familien auf dem Weg in den All Inclusive Urlaub?“ fügte Pfeiffer die Puzzleteile zusammen. „Der Todesfall. Die Polizei hatte die Ermittlungen eingestellt.“, fuhr er fort. „Sie sagten es sei ein Selbstmord gewesen. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Es fängt an, alles einen Sinn zu ergeben.“

Pfeiffer machte mit schwungvollen Bewegungen Notizen auf seinem Schreibblock. Nicht für die Zeitung. Nicht für die Story. Die Beweise dafür existierten ohnehin nicht mehr. Für Marlene. Vielleicht konnte er sie noch retten.

“Die 10‘000 Euro“, begann Berger, weitere Puzzlestücke hinzuzufügen. „Ich habe der Familie des Toten anonym das Geld überwiesen, nachdem etwas Gras über die Sache gewachsen war. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen.“

Pfeiffer kritzelte weiter auf seinem Block, während Berger tief in seinen Sessel gesunken vor sich hin schluchzte: „Ich hab das alles nicht gewollt. Wenn ich es bloß rückgängig machen könnte“

„Das bringt jetzt alles nichts“, fuhr Pfeiffer ihn abrupt an. „In 30 Minuten müssen wir im Industriegebiet sein. Sonst stirbt Marlene. Wollen Sie in Selbstmitleid versinken oder mir helfen sie zu retten?“

Berger stand langsam auf. Sein Gesichtsausdruck war leer. Sein Körper bebte.Er war heillos überfordert, dennoch nickte er zustimmend.

Dorothea Berger fasste ihren Mann am Arm „Richard, geh nicht! Lass uns die Polizei rufen. Ich will nicht, dass du gehst! Bitte!“, flehte sie ihn besorgt an. Er nahm sanft ihre Hand von seinem Arm, legte ihr liebevoll die Hände auf die Wangen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich muss es versuchen. Ich will nicht, dass noch jemand wegen mir sein Leben verliert.“

“Sei bitte vorsichtig! Ich liebe dich! Wir schaffen das, ganz egal was früher passiert ist. In guten wie in schlechten Zeiten. Das haben wir uns versprochen.“ Sie legte die Arme um ihren Mann und drückte ihn fest an sich. „Wenn ich bis 20:30 Uhr nichts von dir gehört habe, rufe ich die Polizei.“

“Tun Sie das. Ich hoffe wir sehen uns wieder", unterbrach Pfeiffer die beiden und schob den verdutzt schauenden Berger durch den Flur auf die Haustüre zu.

Wenig später saßen sie in Pfeiffers altem Golf im Industriegebiet, vor der heruntergekommenen Lagerhalle. Es war stockdunkel. Sie stiegen aus und liefen mit schweren Schritten auf die dicke Metalltüre zu. Pfeifer blickte Berger an. Sie nickten sich gegenseitig zu. Pfeiffer drückte die kalte Klinke hinunter. Er schob die Türe auf.

„Ich glaube, ich will doch lieber zur Polizei.“ Bergers Schritte stockten, als er und Pfeiffer sich dem hoch aufragenden Gebäude am Mainufer näherten.
Das Chemiewerk, das hier einmal gestanden hatte, war schon vor Jahren abgerissen worden. Nur das ehemalige Verwaltungsgebäude war aus irgendeinem Grund verschont geblieben und trotzte nun dem langsamen Verfall.
Christian Pfeiffer packte den ängstlichen Reisekaufmann am Ärmel und zog ihn hinter ein Mäuerchen.
„Herr Berger, wir waren uns einig. Und wir haben keine Zeit, jetzt alles noch mal durchzudiskutieren.“ Pfeiffer blickte auf seine Uhr. 19:55.
„Wann waren wir uns denn einig? Als Sie meine Frau eingesperrt haben? Als Sie gedroht haben, mich zu verprügeln, wenn ich nicht ins Auto steige? Als Sie mir verboten haben, nochmal zurückzulaufen und mein Handy zu holen?“
Pfeiffer seufzte. Der Moment, in dem er die uneinsichtige Dorothea Berger ins fensterlose Gästebad geschoben hatte, war wahrhaftig nicht sein stolzester. Doch ihm war so schnell keine bessere Lösung eingefallen.
„Sie haben sich nicht besonders vehement gewehrt, Herr Berger. Weil Sie wissen, dass ich recht habe. Wenn wir die Polizei rufen, ist Marlene so gut wie tot.“
„Ohne Polizei wahrscheinlich auch. Und wir gleich mit. Wir haben doch überhaupt keinen richtigen Plan.“
„Berger, denken Sie nach. Weder Sie noch mich würden so große Schuldgefühle plagen, glaubten wir nicht, dass wir die Opfer hätten retten können. Und wenn wir das glauben, müssen wir auch glauben, dass wir Marlene retten können, indem wir diesmal alles richtig machen. Es ist die logische Schlussfolgerung.“
„Ich denke nicht, dass Logik damit viel zu tun hat. Sie glauben, was Sie gern glauben wollen. Weil sie Marlene früher mal geliebt haben. Aber für mich ist sie nur …“ Berger hielt inne. Wirkte beschämt.
„Sprechen Sie es ruhig aus, Berger. Nur eine ehemalige Angestellte in ihrem Reisebüro. Nur die Putzfrau.“
Nein, so hieß das nicht mehr. Reinigungsfachkraft? Raumpflegerin? Pfeiffer hatte damals gar nicht gewusst, dass Marlene irgendwo putzte. Ihm hatte sie gesagt, sie würde als Verkäuferin in einer schicken Modeboutique arbeiten.
Ach … Marlene. Wie ein Windstoß war sie durch sein Leben gefegt. Jung, bildschön, wild, fast schon ein bisschen verrückt … und letzten Endes ungreifbar. Als wäre es gestern gewesen erinnerte er sich an den Tag vor acht Jahren, an dem er von der Redaktion nach Hause gekommen war und die Wohnung leer vorgefunden hatte. Wortwörtlich. Nicht nur Marlene und ihre Sachen waren verschwunden, sondern alles, was man auch nur irgendwie zu Geld machen konnte. Neben der Küchenspüle hatte ein Zettelchen gelegen. Es tut mir leid, Christian
Er war zu der Boutique gefahren und aus allen Wolken gefallen, als man ihm dort versichert hatte, Marlene nicht zu kennen. Weitere Anknüpfungspunkte hatte es nicht gegeben. Pfeiffer wusste rein gar nichts über das Leben, das Marlene geführt hatte, vor ihrem kurzen Auftritt in seinem eigenen.
Die Lügen, der Verrat … es hatte ihn völlig umgehauen. Und es war ihm erst wieder besser gegangen, als ein paar Monate später Maria in sein Leben getreten war. Die warmherzige, verlässliche, manchmal geradezu schmerzlich ehrliche Maria.
„Es ist nicht so, dass ich Marlene nicht mochte, im Gegenteil, aber … ach …“ Bergers Stimme versagte.
„Aber nicht genug, um ihr die zehntausend Euro zu geben, um die sie Sie vor acht Jahren anbettelte.“
Und zwar am Tag, an dem sie aus Bergers Leben ebenso spurlos verschwunden war wie aus Pfeiffers. Sie hatten ihre Geschichten vorhin im Auto abgeglichen. Zehntausend Euro. Das konnte kein Zufall sein. Pfeiffer blickte auf das Gebäude, sah vor seinem inneren Auge jedoch das Video vom USB-Stick. Jeder Groll, den er noch gehegt hatte, löste sich auf. Was auch immer sie verdiente … das nicht.
„Pfeiffer, denken Sie, der bärtige Mann hatte auch eine Verbindung zu Marlene? Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob sie das Druckmittel war, das ihn zu seiner Tat gebracht hat.“
Überrascht sah Pfeiffer seinen Begleiter an. Der Gedanke war nicht abwegig. Ganz und gar nicht. Die Antwort auf diese und alle anderen Fragen war zum Greifen nah. Er spürte es. Mit untrüglicher Sicherheit.
„Ich weiß nicht, was da drin geschehen wird, Herr Berger. Aber eins weiß ich. Dieser Mann wird nicht aufhören, Sie und Ihre Frau zu quälen. Das hat er heute bewiesen. Die Polizei ist offenbar überfordert und wenn Sie sich Ihr Leben nicht selbst zurückholen, wird es kein anderer für Sie tun.“
Da! Das waren die richtigen Worte gewesen. Bergers Schultern strafften sich und in seinem Gesicht zeigte sich zum ersten Mal so etwas wie Entschlossenheit.
20:03. Es wurde höchste Zeit.
Die beiden Männer huschten die letzten Meter zur Eingangstür und traten hindurch. Sie vorher zu öffnen, war nicht nötig. Die Tür hatte einmal größtenteils aus einer Glasscheibe bestanden, die längst eingeschlagen worden war. Scherben knirschten unter ihren Schuhsohlen. Bergers Zähne klapperten. Sonst blieb alles still. Fahles Mondlicht erhellte einen Teil der Empfangshalle, doch die davon abzweigenden Gänge waren wie schwarze Schlunde.
Es war nun genau 20:05 und Pfeiffer durchfuhr ein Gefühl der Panik.
„Wir sind hier!“, brüllte er und sah im Augenwinkel, wie Berger zusammenzuckte. „Ich bin nicht zu spät! Diesmal nicht, du Drecksack! Was willst du denn jetzt?“
In seiner Tasche vibrierte das Handy und er beeilte sich, den Anruf entgegenzunehmen. Er schaute nicht einmal aufs Display. Er wusste genau, wer es war.
„Hallo, Herr Pfeiffer. Sie sind gekommen. Ich muss zugeben, dass mich das überrascht.“
„Wo ist sie? Was soll ich tun?“
„Linker Flur.“
Der Täter legte auf, ehe Pfeiffer weitere Fragen stellen konnte. Linker Flur. War dort Marlene? Pfeiffer rauschte das Blut in den Ohren.
„Da entlang. Berger, was machen Sie denn?“
Berger kramte einen Schlüsselbund aus seiner Manteltasche hervor und machte sich mit fahrigen Fingern an einem Karabinerchen zu schaffen.
„Hier“, sagte er und überreichte Pfeiffer eine Art Schweizer Taschenmesser in Miniformat. „S…s…sie können sicher besser damit umgehen als ich.“
Beschämt blickte Pfeiffer auf die winzige Waffe in seiner Handfläche. Wäre er ein Mann, der dieses Vertrauen verdiente, hätte er daran gedacht, ein Messer aus Bergers Küche mitzunehmen. Einen Fleischklopfer, eine Bratengabel … oh, Himmel, ein Teigroller wäre besser gewesen als nichts!
„Danke, Herr Berger“, antwortete er leise und ließ das lächerliche Messerchen aufklappen. Die Klinge war kürzer als sein Daumen.
An Bergers Schlüsselbund hing auch ein kleines LED-Licht. Das war gut. So musste Pfeiffer die letzten Prozent seines Handyakkus nicht an die Taschenlampenfunktion verschwenden.
Der Flur schien sich endlos hinzuziehen und mit jedem Schritt wurde der Modergeruch aufdringlicher. Irgendwo raschelte etwas. Eine Ratte fiepte. Immer wenn Berger erschrak, zuckte sein Lichtstrählchen wild hin und her. Zum bröckelnden Putz an der Decke. In Räume, in denen die Tapete sich von den feuchten Wänden schälte.
Da schwang ein Stück vor ihnen eine Tür auf und helles Licht ergoss sich in den Gang.
Pfeiffer entging nicht, wie Berger sich hinter ihn schob. Seine eigene Hand schloss sich fester um das Messerchen. Vorsichtig näherte er sich dem Türrahmen, nahm einen tiefen Atemzug und blies ihn durch gespitzte Lippen langsam wieder aus. Sein Herz klopfte, als wollte es ihm aus der Brust springen. Dennoch trat er entschlossen um die Ecke.
Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn kurz erstarren. Es war der Raum aus dem Video. Er ging weiter und strauchelte beinah, so sehr zitterten plötzlich seine Beine.
„Marlene“, flüsterte er.
Reglos saß sie an einem alten Konferenztisch und war schöner als je zuvor. Das lange Haar legte sich glänzend über ihre Schulter, das grüne Etuikleid saß tadellos.
„Christian.“ Ihre früher so melodische Stimme war so ausdruckslos wie ihr Blick.
Siedend heiß fiel Pfeiffer ein weiteres seiner unzähligen Versäumnisse ein. Ein Experte … ach was … jeder gute Journalist hätte das Aufnahmedatum des Videos verifiziert.
Hinter ihm schlug die Tür ins Schloss.

Ivo legte die Kopfhörer ab, lehnte sich kurz zurück, schlug dann mit beiden Handflächen auf den Tisch, dreht sich mit dem Stuhl um und schrie „Yeeeeees, wir haben sie!“.
Marlene war nur wenige Sekunden vorher aus dem Badezimmer gekommen und stand jetzt im Bademantel in der Tür. Sie trocknete ihre Haare, die von dem kleinen Schauspiel vor ein paar Tagen noch immer etwas mitgenommen waren, ab.
„Haben sie angebissen?“
„Ja und ich konnte ihnen sogar dabei zusehen!“ Ivo lachte. „Er hat den USB-Stick in einen Laptop gesteckt und das Programm auf dem Stick konnte nicht nur Mikro, sondern auch Kamera übernehmen. Die haben jetzt beide nicht schlecht geguckt.“
Marlene lächelte. Pfeiffer hatten sie schon vor Marias Tod über deren Handy infiltriert. Bei Bergers dagegen war sie unsicher, ob Ivos Plan klappen würde. Aber er war ein Meister mit diesen ganzen Computersachen. Letztlich hätten sie den beiden dabei auch nicht unbedingt zuschauen müssen, wie sie ihr Video ansahen. Ihr war nur die Gewissheit wichtig. Die Gewissheit, dass heute Abend abgerechnet wurde. Komischerweise fühlte sie kein Kribbeln, keine Aufregung, nur eine kalte Ruhe breitete sich in ihr aus.
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr Marlene.“ Ivo sah sie eindringlich an. „Sie wissen, dass du irgendwie mit drinnen hängst. Auch wenn sie noch nicht ahnen wie, aber es ist eine Spur. Und das ist meist der Anfang vom Ende.“
„Was interessiert mich das Ende Ivo“ Sie drehte sich um und ging zurück ins Bad. Ihr war klar, dass mit Bergers Frau spätestens jetzt eine Mitwisserin existierte, die den Abend überleben würde. Aber das war ihr egal. Ihr hatten diese beiden Männer alles genommen, warum sollte sie sich um die Zukunft sorgen? Nur um Ivo sorgte sie sich. Er sollte unbeschadet aus dieser Geschichte rauskommen. Wenn alles aufging wie geplant, hatte sie alle dafür notwendigen Vorkehrungen getroffen.
Als sie vor dem Spiegel stand und mit der Bürste durch ihre Haare arbeitete, spielten sich die Ereignisse der letzten Monate noch einmal wie in einem Film vor ihrem inneren Auge ab.

Marlene hatte gerade den Hörer vom Telefon aufgelegt, als Berger an ihren Schreibtisch trat. Mit Anzug und Krawatte, wie ein hohes Tier von der Commerzbank, dabei nannte er lediglich dieses popelige Reisebüro sein Eigen. Neben ihr arbeitete noch eine zweite Reiseverkehrskauffrau hier, aber die war mehr krank als anwesend. Oft hatte sie sich schon gefragt, wie denn in der heutigen Zeit ein Unternehmen in dieser Branche überleben könne und woher Berger die Kohle hatte, um auf dicken Max zu machen. Sie hatten ja kaum Umsatz im Büro.
„Marlene haben sie sich eigentlich mal Gedanken gemacht, wie sie ihr Gehalt aufbessern könnten?“ Er sah sie mit einem schmierigen Lächeln an und ihr wurde es flau im Magen. Wollte er ihr jetzt etwa Geld für Sex bieten? Sie hatte seine Blicke schon oft auf ihrem Hintern gespürt, die zufälligen, unabsichtlichen Berührungen versucht zu ignorieren. Nur, um nicht ihren Job zu verlieren. Aber prostituieren würde sie sich nicht!
Als sie nichts sagte, fuhr er fort. „Wissen sie, ich bin nicht ganz ungeschickt an der Börse. Dort kann man mit den richtigen Strategien ziemlich schnell aus einem kleinen Vermögen ein Grosses machen.“ Sein Lächeln war noch immer schmierig, aber er hatte ihre Aufmerksamkeit gewonnen. Nicht, dass ihr Geld wichtig war, solange sie genug zum Leben hatte. Aber für die Krankheit von Ivos Vater konnte sie es gebrauchen. Vielleicht konnte man mit Geld ja doch noch in irgendeiner Privatklinik eine Therapie machen?
„Was verstehen sie darunter?“ fragte sie zurück.
„Sagen wir mal, sie investieren 10’000 Euro, und ich mache daraus in kurzer Zeit 20’000. Und wenn wir richtig gut sind, könnten es schnell noch mehr werden.“
„Aber das ist doch riskant? Umso höher die Rendite, umso grösser ist doch auch das Risiko?“ Marlene war nicht überzeugt.
„Schauen sie sich doch mal den DAX an Marlene! Der ist immer am Steigen. Es geht nur darum, wieviel Geld wir verdienen – nicht ob.“
„Aber wieso wir? Was haben sie denn davon, wenn ich Geld investiere?“
„Nun, ich mag sie.“ Sein Lächeln wurde immer schmieriger. „Und für mich wird der Hebel besser, mit höherem Budget. Davon profitieren wir beide. Und sie geben mir von ihrem Gewinn eine Provision ab. Sagen wir 20%?“
Sie hätte besser auf ihr Bauchgefühl hören sollen. Aber die Sorgen um Ivos Vater brachten sie dazu, ihrem Chef die 10’000 zu geben. Und er verlor alles. Von ihrem Geld, ob er überhaupt Eigenes für sein Abenteuer eingesetzt hatte, wusste sie nicht. Als sie ihn zur Rede stellte, lies er sie eiskalt abblitzen.
„Es ist immer ein Risiko dabei, seien sie doch nicht so naiv!“
„Aber sie haben doch gesagt, das wäre alles total sicher!“ Ihr ganzes Erspartes hatte sie ihm gegeben. Mehr hatte sie nicht besessen. Sie war verzweifelt und weinte. Das interessierte aber Berger nicht.
„Es ist doch klar, dass man im Sales ein wenig flunkert. Herrgott Marlene, sie wissen doch wie das läuft.“ Nein, das wusste sie nicht. In ihrer Welt log man keine Menschen an, um sie zu betrügen. Schon gar nicht, wenn einem dieser Mensch irgendetwas bedeutet. Für Berger war sie nur eine wertlose, austauschbare Marionette.
Am nächsten Tag hatte sie die Kündigung mit sofortiger Freistellung auf dem Tisch. Betriebsbedingt. Sie hatte keine Kraft, um dagegen vorgehen zu können.

Dann lernte sie Christian Pfeiffer kennen. Sie kannte seinen Namen aus der Zeitung, lauerte ihn bei einem Gerichtstermin auf, wo sie sicher war, dass er teilnehmen würde. Ihm hatte sie die Story auf einem Silbertablett geliefert, vertraut und er hatte sie nur ausgenutzt.
Ivos Vater Zvonimir war Ende der Achtzigerjahre als junger Mann aus Jugoslawien nach Deutschland gekommen. Ohne die Sprache zu können, hatte er sich durchgeschlagen, jeden Job gemacht, der ihm angeboten wurde. Bis er endlich im Industriepark im Süden der Stadt bei einer Chemiefirma Arbeit gefunden hatte. Er arbeitete dort als Mädchen-für-alles, heute würde man sagen Facility-Manager. So stolz war er, diesen Job machen zu dürfen. Was man ihm nicht gesagt hatte, war, dass die Chemikalien, die er wegräumte, aufwischte und entsorgte stark krebserregend waren.
Zu dem Zeitpunkt lernte er Ivos Mutter kennen. Seine grosse Liebe. Die aber die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes nicht überlebte. Er schuftete noch härter, riss Überstunden ab, nur um für sich und Ivo sorgen zu können. Die Angst, ihn auch noch zu verlieren, verlieh ihm die Kraft, diese Jahre durchzustehen.
Marlene wohnte damals nur ein paar Häuser entfernt und hatte sich auf der Strasse schnell mit Ivo angefreundet. Immer öfter verbrachten sie Zeit miteinander und so lernte sie Zvonimir besser kennen. Ein warmherziger, fröhlicher Mann, der sich für sie und ihr Leben interessierte. Bald war sie bei Zvonimir mehr zu Hause, als in ihrem eigenen Heim und die beiden Männer wurden zu ihrer Ersatzfamilie.
Sie selber wuchs bei ihren Grosseltern auf. An ihre Mutter konnte sie sich nicht erinnern. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie in der Drogenszene in Frankfurt am Hauptbahnhof unterwegs war. Und ziemlich sicher tot. Zum Vater kannte sie nur den Vermerk aus der Geburtsurkunde: unbekannt. Ihre Grosseltern sprachen darüber nicht mit ihr. Und sie traute sich nicht, sie danach zu fragen. Als dann vor einigen Jahren beide kurz hintereinander starben, war diese Chance endgültig dahin.
Auf einmal aber war das Leben, in das sie sich eingerichtet habe, von einem Tag auf den anderen vorbei. Bei einem Arztbesuch bekam Zvonimir die Diagnose Krebs. Und dass es bereits zu spät war. Stadium 4, es ging nur noch um die Zeit bis zum Tod. Auch wenn weder Ivo noch sie das akzeptieren wollten.
Aus diesem Grund nahm sie damals den Kontakt mit Christian Pfeiffer auf. Sie traf sich mit ihm, schilderte den Fall und lieferte ihm alle Informationen, die er brauchte, um eine grosse Story zu machen. Der Konzern, der seine Mitarbeiter verseucht und sich dann um die Verantwortung drückt. Von den ganzen Nachfolgegesellschaften fühlte sich niemand zuständig, keiner war bereit, sie beim Kampf um den letzten Funken Hoffnung für Zvonimir zu unterstützen.
Pfeiffer heuchelte Mitgefühl, begann angeblich mit der Arbeit an der Story. Sie fühlte sich verstanden, seine lässige Art vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Und schliesslich landeten sie im Bett. Sie dachte, das könne der Mann an ihrer Seite sein, der ihr Halt geben würde. Auch wenn sie ihn nur kurz kannte. Sie vertraute ihm und das war ein Fehler.
Immer häufiger fragte sie ihn, wann er denn endlich veröffentlichen würde. Und immer wieder vertröstete er sie. Eines Tages teilte er ihr mit, er könne die Story nicht bringen. Dadurch würden sie ihre grössten Anzeigenkunden verlieren, die wären schon jetzt gewarnt und irritiert. Sein Chefredakteur hatte ihn angeblich auch auf dem Kieker und wolle ihn loswerden.
Und dann fand sie heraus, dass er zweigleisig fuhr und mit dieser Maria parallel eine weitere Beziehung führte. Damit zerbrach endgültig etwas in ihr. Sie hatte jetzt nichts mehr zu verlieren. Kein Geld, keinen Job, keine Familie. Das einzige Gefühl, dass sie noch spürte, war Hass.

Zvonimir ging es schnell immer schlechter und bald war es keine Frage mehr von Jahren, sondern Wochen bis zu seinem Tod. Nachdem sie ihn in ihre Racheplanung einweihte, machte er den Vorschlag, auf diesem Wege aus dem Leben zu scheiden. Und sein Leiden endlich zu beenden. In Marlene schrie alles „nein ich will das nicht!!“, aber sie verstand Zvonimir und ihrem Plan würde das helfen. Also stimmte sie zu. Im Gegensatz zu Ivo, den es bei dem Gedanken zerriss, dass sein Vater sich vor seinen Augen erschiessen würde.
Aber Zvonimir und Marlene sprachen oft und eindringlich mit ihm, irgendwann stimmte er dann doch zu. Wer über Monate zusehen muss, wie ein geliebter Mensch mit langsamen Schritten dem Tod entgegengeht, jeden Tag ein wenig mehr dahin siecht, der kann diesem keinen Wunsch mehr abschlagen. Wozu das Leben weiter hinauszögern und weiter leiden? Schlussendlich gab Ivo dann nach, aber Marlene hatte bis zuletzt Zweifel, ob er das mit ihnen gemeinsam durchziehen würde.
Mit Maria gestaltete sich der Plan schwieriger. Sie bedrohten sie mit Bildern und Videos von Menschen in ihrem Umfeld. Da die Gefahr gross war, dass sie sofort zu ihrem Geliebten laufen würde, lieferten sie manipulierte Bilder zum Beweis für Pfeiffers Untreue. Wie gesagt, Ivo war ein Meister mit dem ganzen Zeug. Sie gaben ihr zu verstehen, dass er die Chance hätte, ihr Leben zu retten. Wenn ihm das nicht gelinge, würde entweder sie freiwillig sterben, oder alle Menschen, die ihr wichtig wären.
Ivo war dagegen. „Sie hat uns doch nichts getan!“ wehrte er sich. „Wofür sollen wir denn SIE bestrafen??“
„Wach auf Ivo!“ schrie sie ihn an. „Das ist eine der Frauen, die keine Achtung vor dem Leben anderer Menschen haben. Die immer kriegen, was sie wollen! Die sich immer nehmen, was sie wollen! Sie hat sich in eine Beziehung gedrängt und mir den Mann weggenommen! Der DANN nicht mehr den Artikel über DEINEN Vater bringen wollte. Ivo! Ja das ist eine harte Strafe, aber ist sie ungerecht? Nein!“ Ein wenig beruhigte sie auch ihr Gewissen damit. Und am Ende lag die Verantwortung bei Pfeiffer, er hatte es in der Hand. Und er hat es vermasselt.

Bis hierhin hatte alles geklappt wie geplant.
Berger hatte das verloren, was ihm am wichtigsten war: seinen sozialen Status. Kirche, Unternehmerverband, CDU-Ortsverband. Er konnte sich nirgends mehr blicken lassen und sein Reisebüro war sicher bald pleite.
Pfeiffer dagegen hatte mit ansehen müssen, wie seine Geliebte sich erschoss, weil er eine Sekunde zu langsam war. Für ihn war garantiert jede Minute, die er noch lebte, eine Tortur.
Die ersten beiden Kapitel waren geschlossen. Bald konnte der finale Countdown starten. Sie würde sich jetzt hübsch machen für heute Abend. Angst, dass jemand von ihnen kneifen würde, hatte sie nicht. Deren schlechtes Gewissen würde sie her treiben. Und dann war sie gespannt, wie den Herren Berger und Pfeiffer ihre Überraschung gefallen würde.

Sommer 1983, Waldsee Frankfurt.
Sie war eine Augenweide. Wie sie da lag und sich im Sonnenlicht räkelte, nur mit Bikini bekleidet. Er hätte sie stundenlang anschauen können. Beobachten, wie sich langsam ihr Bauch hob und senkte, wie die Adern an ihrem Hals leicht pulsierten, wie ihre Lippen sich beim Reden bewegten. Die Worte, die aus ihrem Mund kamen, waren heilig, jedes Einzelne davon.
Er war unendlich verliebt. Es war diesmal ganz anders, viel tiefergehend, nicht mehr diese kindliche Liebe aus der Jugend.
Was er damals nicht bemerkte: Die Worte waren giftdurchtränkt. Von Umsturz redete sie, von der nicht mehr funktionierenden Gesellschaft und Politik. Man müsse sie notfalls mit Gewalt bekämpfen.
Das sah er damals aber nicht. Wie denn auch? Dieses bewundernswerte, wunderschöne und hochintelligente Wesen konnte nichts Böses im Sinn haben. Richard vertraute ihr, wäre für sie durchs Feuer gegangen. Zwei Monate waren sie inzwischen zusammen und seine Liebe wurde mit jedem Tag stärker. Sein Studium fand im Grunde nicht mehr statt, er schwänzte Vorlesungen am laufenden Band. BWL war schrecklich trocken. Dabei wollte er reisen, die Welt kennenlernen, am liebsten mit dieser wundervollen Person hier. Sie würden sich durchschnorren, irgendwie. Hauptsache, sie waren zusammen. Das würde ihr garantiert wie ihm Spaß machen. Er müsste sie nur fragen und war sich sicher, dass sie morgen schon auf einem Schiff Richtung Brasilien wären.
„Marlene…“, begann er zaghaft, noch halb in seinem Traum verloren.
„Lass uns ins Wasser springen!“ Seine Fantasien wurden jäh unterbrochen von der Wirklichkeit. Ihre Hand packte seine und riss ihn nach oben.
Auch dafür liebte er sie. Sie war bodenständig, nicht verträumt.
Sie war so perfekt.
Das Leben war perfekt.
Er würde sie für immer lieben.

Zwei Wochen später saß er in seinem Zimmer, hatte die Vorhänge zugezogen und seit Tagen nichts gegessen. Er wollte auch nie mehr essen, lieber sterben.
„Ich habe da jemanden kennengelernt. Er ist so vernünftig, hat Pläne. Er schreibt mir Gedichte. Das ist alles so wundervoll.“
Taktvoll war das nicht gerade. Hätte sie nicht wenigstens einfach nur Schluss machen können? Anstatt dessen trat sie ihn wie einen alten Hund aus ihrem Herzen hinaus, indem sie ihm auch noch alle Einzelheiten ihres neuen Herzkönigs mit verliebt funkelnden Augen und verzückt säuselnder Stimme erzählte.
Und das, nachdem er all das für sie getan hatte. Er hatte Schaufensterscheiben eingeschlagen, um den Kapitalismusschweinen zu zeigen, dass sie einen großen Gegner hätten. Er war mit ihr nach Bonn gefahren, um die Regierungsgebäude mit Farbbeuteln zu bewerfen. Ja, er hatte sogar eine Pistole für sie aufbewahrt, die sie bei einer Fahrt in den Ostblock auf einem dubiosen Markt gekauft und zurück geschmuggelt hatte.
„Ich hab das alles für dich getan!“, konnte er nur stammeln, als sie ihm von ihrer neuen Liebe erzählte.
„Ja, für mich. Nicht für die Sache. Das ist der springende Punkt. Christian brennt für meine Themen. Wir ticken genau gleich. Er ist unkonventionell. Etwas oldschool, aber steht zu seinem Wort. Ach, du solltest ihn kennenlernen.“
Kennenlernen? Pah!!! Was dachte sie denn? Er würde höchstens die Pistole mitbringen zu diesem Kennenlernen oder ihm vergifteten Kuchen reichen. Ohne ihn zu kennen hasste er diese Person aus ganzem Herzen. Umbringen würde er ihn trotz aller Mordfantasien nicht. Seinen Namen aber würde er sich für immer merken: Christian Pfeiffer.

Herbst 2024, ein trostloses Haus in Frankfurt Nordend.

Berger brauchte keine Sekunde, um zu wissen, wer vor ihm saß. Er fühlte den alten Hass aufsteigen, der ihm direkt seinen Pulsschlag erhöhte.
„Pfeiffer“, hatte er sich vorgestellt. Durch das Reisebüro stellte allein dieser doch recht alltägliche Name keinen Grund dar, an die alte Geschichte zu denken. Aber mit dieser Reaktion war klar, dass es genau dieser Christian Pfeiffer war. Sollte er es ihm sagen?
Nein, hinter ihnen stand Dorothea. Sie waren seit Jahrzehnten verheiratet, er hatte ihr nie von Marlene erzählt. Nicht ein einziges Wort hatte er über sie verloren. Es würde schwer genug werden, ihr seine spontane Reaktion von eben zu erklären. Aber bis hierher würde ein „das war eine Studienkollegin damals“ reichen. Er musste nur schauen, dass das Thema nicht ausführlich besprochen würde in diesem Raum.
Sicherlich war Dorothea die Reaktion der beiden Männer nicht entgangen und wie er sie kannte, würde eher früher als später die Frage „Wer ist das?“ auftauchen.
Die Zeit rettete ihn für den Moment aus der misslichen Situation.
„Wir müssen los. Es sollte locker reichen, aber er wird sie umbringen, wenn wir auch nur eine Sekunde zu spät da sind.“

Als sie losfuhren zeigte das Navi „Ankunftszeit 19:53 Uhr“. Zwölf Minuten Puffer. Sie kamen besser voran, als das Navi dachte. Pfeiffer hatte zwar nur ein in die Jahre gekommenes Auto, in der Stadt spielte aber Höchstgeschwindigkeit weniger eine Rolle, sondern eher das geschickte Wählen der Fahrspuren.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Die Wut auf Pfeiffer hatte sich verzogen und einer gewissen Genugtuung Platz gemacht, sobald ihm bewusst geworden war, dass auch dieser nicht mehr mit Marlene zusammen war. Insgeheim wünschte er sich, dass Pfeiffer genauso gelitten hatte wie er.
„Woher kennen sie Marlene?“
Berger hätte es ahnen können. Natürlich wollte Pfeiffer das wissen.
„Von früher. Aus der Schule“, log er. „Und selbst?“
„Ich war mit ihr zusammen. Es war eine wundervolle Zeit. Wir hätten ein Leben lang zusammenbleiben wollen, wäre nicht der Mauerfall dazwischengekommen. Sie war in ihrem Engagement gegen die politische Orientierung der „kapitalistischen Weststaaten“, wie sie es immer nannte, plötzlich auf einem rundweg veränderten Schlachtfeld zuhause. Das brachte sie völlig durcheinander und sie reiste in einer Nacht-und-Nebel-Aktion davon, um neue Netzwerke aufzubauen. Die alten brach sie aber von heute auf morgen ab.“
Sie hatte auch Pfeiffer von jetzt auf nachher sitzen lassen. Berger grinste in sich hinein und ließ nur ein vordergründiges „Hmmhmmmm“ hören.

Der Stau kam aus dem Nichts. 2km vor Ankunft standen sie still.
Ein LKW hatte sich quer über die Fahrbahn verkeilt, wohl ein Unfall. Es war 19:51 Uhr, 14 Minuten.
Pfeiffer stieß ein erschrockenes „Scheiße!“ aus und zeigte auf das verunglückte Fahrzeug. „Lauf um ihr Leben!“ stand da in großen Lettern auf der Plane. Was wie die Werbeanzeige für eine Fernsehshow aussah, war eine Nachricht an sie beide, das wussten sie sofort. Die ganze Aktion war perfekt orchestriert.
Pfeiffer riss sein Handy aus der Halterung, sprang aus dem Auto und schrie Berger an: „Wir müssen rennen! Hier über die Wiese ist es direkter. 1,4km, 14 Minuten. Los, kommen sie!“
Berger, in den Jahren seiner Büroarbeit übergewichtig geworden, schnaufte hörbar durch, öffnete aber ebenfalls seine Tür und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Er stolperte über die Böschung, rollte ungelenk nach unten, rappelte sich auf und suchte Pfeiffer. Da vorne war er, bereits 100 Meter entfernt.
Seine Uhr zeigte 19:52 Uhr. Das hohe, feuchte Gras durchweichte seine Hosenbeine, seine Strümpfe waren nass und Wasser stand in seinen Schuhen. Auf dem schwammigen Boden knickte er mehrmals um.
„Schneller! Wir haben nur noch elf Minuten!“, hörte er Pfeiffer rufen. Dieser stand weit entfernt am anderen Ende der Wiese und schrie aus Leibeskräften. Sein Herz raste, seine Lunge brannte, seine Knöchel begannen zu schmerzen.
„Jetzt mach schon, du Arsch!“ Pfeiffer wurde ausfällig. „Wenn sie wegen dir stirbt, dann bring ich dich eigenhändig um.“
Unfähig, eine Antwort zu geben, versuchte er, einen Schritt schneller zu gehen.
Geschafft. Die Wiese lag hinter ihm. Neun Minuten.
Die folgende Straße zog sich ewig. An Zäunen und verlassenen Fabrikgebäuden entlang stolperte Berger, verfluchte seine fehlende Kondition und wurde von Pfeiffer mit immer unverschämteren Beleidigungen bedacht.
Sieben Minuten.
„Ihr scheiß Bürofuzzies, sitzt nur in den dicken Sesseln und wenn es mal drauf ankommt, könnt ihr nichts leisten.“, fluchte er gerade vor sich hin.
Berger blieb stehen, tief Luft holend und sich an einem Laternenmast festhaltend. Seine Beine wollten nicht mehr. Jeder Schritt schmerzte.
Sechs Minuten.
„Was ist denn jetzt schon wieder? Da vorne ist das Gebäude. Gleich sind wir da.“
Nur noch wenige Meter trennten sie vom angegebenen Platz. Ein weiteres Mal raffte er sich auf und humpelte hinter Pfeiffer her.
Dann standen sie endlich davor. Das Navi auf Pfeiffers Handy zeigte 30m Reststrecke an.
Fünf Minuten.
„Wo kommen wir rein?“, fragte Berger, den Zaun nach einer Tür absuchend. „Moment.“ Pfeiffer wischte hektisch auf dem Bildschirm herum. „Mist! Drecksmist!“ Er schaute Berger an.
„Auf der gegenüberliegenden Seite ist das Tor. 400m Umweg.“
„Das schaffe ich nicht, es ist 20:01 Uhr. Wir haben nur noch vier Minuten. Ich kann nicht mehr.“
„Wir müssen! Sie wird sterben!“
Bergers Körper rebellierte und ein Gedanke bohrte sich in sein Gehirn. Sollte sie doch sterben. Sie hatte ihm sein ganzes Leben vermiest. Er hatte sein ganzes Leben immer wieder in Sehnsucht an sie zurückgedacht und wusste, dass Dorothea nur zweite Wahl war. Sollte Marlene doch sterben. Vielleicht war sie dann endlich aus seinem Kopf. Und dieser Pfeiffer, dem war er ebenso zu nichts verpflichtet. Es war verdammt nochmal nicht seine Schuld, wenn heute noch jemand sterben würde. Auf der ganzen Welt starben jede Minute Menschen.
„Leck mich. Dann stirbt sie eben. Der kranke Typ wird eh nie aufhören.“
Pfeiffer erstarrte für ein paar Sekunden. In einer unwirklichen Besonnenheit, die merklich das Gefühl wilder Wut unterdrückte, zischte er: „Lass uns die letzten drei Minuten nutzen. Wir müssen nur über diesen Zaun, dann sind wir direkt dort. Schau, hinter dieser Wand liegt sie. Das Fenster ist kein Problem, da kommen wir durch. Wir müssen nur über den Zaun.“
Drei Minuten.
30 Meter.
Aber direkt vor ihnen dieser Zaun. Beiden war klar, dass sie nicht über ihn kommen würden. Selbst wenn Pfeiffer es schaffen würde, Berger war außerstande dazu. Er stierte auf den Zaun, ohne sich zu bewegen.
„Mach schon, hier ist alles verrostet. Wir werfen uns dagegen, er wird brechen.“
Bergers Kopf rebellierte. Er wollte nicht. Wollte nach Hause, sehnte sich nach seinem Sofa und den Rosamunde Pilcher Filmen.
Ein massiver Stoß schleuderte ihn nach vorne. Pfeiffer hatte Anlauf genommen und sich auf ihn geworfen.
Laut aufschreiend stürzten beide auf den Zaun, der sich tatsächlich nach hinten bog, aber nicht nachgab.
„MACH SCHON!“ Die Stimme von Pfeiffer überschlug sich.
„Zwei Minuten. Wir schaffen es! Für sie! Für euere Erinnerung, euere Zukunft!“
So unsinnig diese Worte waren, sie gaben Berger genau den Schub, den er brauchte. Wer weiß, was die Zukunft bringen würde.
Er ging ein paar Meter zurück, stellte sich neben Pfeiffer, sie nahmen Anlauf und warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Zaun, der sich wieder ein paar Zentimeter weiter neigte.
Ein dritter und vierter Versuch, dann brach die Befestigungsstange unter der Belastung und Berger stürzte mit der Schulter voraus auf den harten Asphalt. Ein Knacken war zu hören und ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Sein Bewusstsein drohte zu kollabieren.
Pfeiffer schrie wie von Sinnen: „20:04 Uhr!“ Er riss ihn nach oben, zerrte ihn zur Wand des Fabrikgebäudes und stieß ihn durch das halbhohe Fenster, dessen Glasscheibe schon längst zerbrochen war und nur noch in Bruchstücken aus dem Rahmen ragte. Pfeiffer selbst kletterte hinterher. Dass beide sich dabei tiefe Schnittwunden zuzogen, bemerkten sie nicht mehr.

Auf dem Boden liegend drehte sich Berger um und sah auf einem Stuhl sitzend, die Beine leger überkreuzt…

…eine unverletzte, vornehm gekleidete und leicht säuerlich lächelnde Marlene.

Das Serum

Die Eingangstür der klotzförmigen Industriehalle mit der Nummer elf öffnete sich um exakt 20:05 Uhr. Drinnen brannte Licht. Eine junge Frau trat in den Türspalt und winkte die beiden zu sich. Sie trug ein hellgraues Kleid und erinnerte an eine Messehostess. Christian Pfeiffer schüttelte fassungslos den Kopf. Offenbar verfügte dieser Psychopath auch noch über Personal.
»Es geht los«, flüsterte er Berger zu und bemühte sich, die Angst zu unterdrücken, die ihn neulich im entscheidenden Moment gelähmt hatte. Diesmal würde ihm das nicht passieren. Diesmal war er seinem Gegner einen Schritt voraus. Natürlich hatte er sich heute Nachmittag informiert, das lag in seiner Natur. Er hatte sich das Gebäude über Street View angeschaut und mit den Bergers sämtliche Szenarien durchgesprochen, in die sie geraten konnten. Er hatte mithilfe der Adresse herausbekommen, dass hier bis vor zwei Jahren ein Pharmakonzern untergebracht war. Inzwischen war das Gebäude verkauft worden an eine Firma namens Roth Industries, über die er in der Kürze der Zeit absolut nichts in Erfahrung hatte bringen können. Offenbar eine Scheinfirma.
Pfeiffer nickte Berger zu und gemeinsam betraten sie die Empfangshalle. Berger, in der Hoffnung, seine verlorene Tochter zu retten, Pfeiffer, um sie aus einer Lage zu befreien, in die er sie womöglich selbst gebracht hatte. Marlene Berger war bis zu seiner Versetzung seine beste Informantin gewesen. Er war sich sicher, dass ihre Entführung mit einem seiner Artikel zusammenhing, bei dem sie ihm geholfen hatte. Nur welcher? Vor zwei Jahren hatte er Marlene von der Straße geholt und seitdem hatte sie für ihn spioniert. Im Rotlichtmilieu, in der Drogenszene, bei Schwurblern und Fanatikern. Alles für seine Kolumne. Sie hatte kein Risiko gescheut und hatte mit ihren Recherchen nie falsch gelegen. Er mochte diese junge Frau, die er bis vorhin nur unter ihrem Vornamen gekannt hatte.
»Guten Abend, meine Herren«, begrüßte sie die Dame in Grau, als sie den Eingang erreicht hatten. »Schön, dass Sie so pünktlich sind. Der Master ist sehr penibel, was Zahlen betrifft.«
»Welcher Master und wo steckt Marlene?«, schrie Pfeiffer und bedrängte die Dame, während Berger die Tür von innen schloss. Sie war abgelenkt und hatte offenbar nicht bemerkt, dass er ein Steinchen so platziert hatte, dass die Tür nicht ganz ins Schloss gefallen war.
»Sie werden gleich mehr erfahren. Wenn Sie bitte kurz Ihre Arme heben könnten. Wie Sie sicher verstehen, muss ich Sie nach Waffen und digitalen Geräten durchsuchen.«
Wortlos folgten sie ihren Anweisungen und ließen sich abtasten. Ihre Handys hatten sie vorsorglich bei Frau Berger im Auto zurückgelassen, ebenso wie das Messer.
Nach ihrer Leibesvisitation führte die Dame die beiden Männer zu einer Milchglastür und forderte sie auf, davor zu warten.
»Ich lasse Sie nun alleine. Der Master wird sie gleich hereinbitten.« Dann wandte sie sich ab und lief zum Treppenhaus. Ihre Schritte hallten durch die Lobby, während Pfeiffer und Berger sich umsahen. Alles wirkte steril, wie in einem Krankenhaus. Beigefarbener PVC-Boden, kahle Wände, kaltes Neonlicht. Pfeiffers Blick blieb an einem Logo auf der Milchglastür haften: zwei Buchstaben in Schnörkelschrift, D und M. Und plötzlich sah er alles kristallklar, als habe ihm jemand Sand aus den Augen gerieben. »Herr Berger«, sagte er zu seinem Komplizen, »ich fürchte, wir haben es hier mit einer Sekte zu tun.«
Berger starrte ihn an »Wie kommen Sie jetzt darauf?«
»Dieses Logo hier ist mir bestens bekannt. Es gehört zum sogenannten Orden Decem Milia. Das ist lateinisch und bedeutet Zehntausend. 10.000 Euro, verstehen Sie?«
Berger nickte stumm. Sein Blick verriet, dass er in Wahrheit gar nichts verstand.
»Vor einem halben Jahr hat mir meine Freundin Maria von einem ihrer Patienten berichtet, der aus eben dieser Sekte ausgestiegen ist und sich kurz darauf erhängt hat. Ich habe eine Story gewittert und Marlene gebeten, sich dort einzuschleichen.«
»Sie haben meine Tochter einem solchen Risiko ausgesetzt?»
»Na, hören Sie mal. Sie haben Marlene rausgeworfen und ihrem Schicksal überlassen, nur weil Ihre Frau sie beim Kiffen erwischt hat.«
»So hat sie es Ihnen erzählt? Ich dachte, ihr Journalisten hinterfragt alles.«
»Auf Marlene war immer Verlass. Sie ist —« Pfeiffer verstummte. Die Milchglastür öffnete sich wie von Geisterhand.
»Guten Abend, meine Herren, bitte treten Sie ein.« Hinter einem Stahltisch saß ein junger Mann, den Pfeiffer sofort an seiner Stimme erkannte. So sah er also aus, der grausame Anrufer von neulich, dachte er und nahm unaufgefordert Platz. Auch Berger setze sich. Der Tisch vor ihnen war leer bis auf ein kleines braunes Fläschchen und ein Tastentelefon.
»Es ist an der Zeit, dass ich mich endlich vorstelle. Mein Name ist Maximilian Roth. Verzeihen Sie die etwas sterile Atmosphäre hier, aber wie sie ja bereits durch Ihre Recherche wissen, Herr Pfeiffer, befinden wir uns hier in einem Laborgebäude.«
Pfeiffer stockte der Atem. Wer war hier wem einen Schritt voraus?
»Ihre geheuchelte Höflichkeit können Sie sich sonst wo hinstecken!«, schrie Berger. Seine Spucke spritzte auf die Tischplatte. »Wo zum Teufel steckt meine Tochter und welches kranke Spiel haben Sie sich diesmal ausgedacht?«
Maximilian Roth, sofern dies überhaupt sein richtiger Name war, lächelte schief und entgegnete: »Alles zu seiner Zeit. Zunächst möchte ich Sie hierüber aufklären.«
Er nahm das braune Fläschchen zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt es hoch wie den Heiligen Gral. »Dieses Serum, meine Herren, enthält eine Substanz, die sich Scopolamin nennt. In unserem Labor gewinnen wir es aus einer Pflanze namens Brugmansia, besser bekannt als Engelstrompete. Richtig dosiert hat sie eine apathische Wirkung und macht regelrecht willenlos.«
»KO-Tropfen?«, fragte Pfeiffer.
Roth lachte verächtlich. »Nicht doch, so plump gehen wir nicht vor. Wir haben den Wirkstoff perfektioniert und daraus ein Serum entwickelt, das uns erlaubt, den Probanden gezielt zu kontrollieren. Sie beide durften ja kürzlich selbst Zeugen davon werden. Sie wissen schon, die Suizide.«
Pfeiffer sprang auf. »Sie haben meiner Freundin Drogen verabreicht, damit sie sich erschießt? Nur um ihr bescheuertes Serum zu testen?«
»Das hätten die doch bei der Obduktion festgestellt«, warf Berger ein.
Roth verdrehte die Augen. »Maria Hofmann war keineswegs suizidgefährdet. Selbstverständlich stand sie unter Drogen. Wir haben unser Serum so präpariert, dass es im Körper nicht nachweisbar ist.«
»Sie sind doch krank«, sagte Pfeiffer und setzte sich wieder. Er hätte den Typen mit bloßen Händen erwürgt, wäre nicht Marlene in seiner Gewalt.
Roth hob seinen Kopf. »Da bist du ja, meine Liebe.«
Christian Pfeifer spürte etwas Kaltes, Hartes an seinem Hinterkopf. Instinktiv griff er danach, doch jemand drückte seinen Arm nach unten. Dann hörten sie Marlenes Stimme: »Du hast eine Minute, Papa, um das Fläschchen leer zu trinken. Sonst erschieße ich Christian.«
Maximilian Roth lehnte sich zurück und grinste von einem Ohr zum anderen. Im selben Moment schlich Dorothea Berger unbemerkt durch die Eingangstür, die immer noch einen winzigen Spalt offenstand.

Es war 19:45 Uhr, als Pfeiffer und Berger vor der düsteren Lagerhalle im Industriegebiet standen. Der Regen hatte sich zu einem eisigen Niesel reduziert, der ihre Kleidung durchnässte und ihre Haut prickeln ließ. Beide hatten keine Polizei verständigt, aus Angst Marlene könnte das mit ihrem Leben bezahlen. Und keiner von beiden hatte bisher den anderen nach Marlene gefragt. Es war zu peinlich.

Berger trat zögerlich näher. „Das fühlt sich an wie eine Falle.“

Das ist es sicher auch, dachte Pfeiffer, schob aber trotzdem die schwere Tür auf. Ein leichtes Quietschen hallte in der dunklen Leere wider. Drinnen roch es nach Öl und abgestandener Luft. Eine einzelne nackte Glühbirne erhellte einen kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Darauf lag ein weiteres Päckchen …

… und dahinter stand er! „Gut, dass Sie pünktlich sind“, kommentierte er mit der inzwischen vertrauten Stimme. Er filmte wieder mit dem Handy in der linken Hand und hielt mit der anderen lässig einen Revolver.

„Wo ist Marlene?“ Pfeiffer zitterte, doch er zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Sicher für den Moment.“ Eine Pause. „Das liegt ganz an Ihnen. Ich möchte ein Spiel spielen. Es wird nur einer diesen Raum lebend verlassen. Der andere … nun, Sie wissen ja inzwischen, wie das läuft.“

Berger keuchte. „Das ist absurd! Warum tun Sie das?“

Der Mann lachte leise. „Weil ich kann. Und weil Sie beide Schuld auf sich geladen haben. Und Schulden müssen getilgt werden.“

„Welche Schuld?“ Pfeiffer war wütend. „Marlene hat nichts mit uns zu tun. Lassen Sie sie frei!“

„Nichts zu tun? Sie ist immerhin ihre Ex-Frau Pfeiffer. Und ihre …“ Er wandte sich Berger zu und ließ sich das nächste Wort auf der Zunge zergehen „… Geliebte!“

Pfeiffer und Berger starrten sich an.

Ihr Peiniger fuhr fort: „Sie haben sie mit Maria betrogen, Pfeiffer und Sie, Berger, haben mit ihr ihre Frau hintergangen! Und sie beide haben sie Marlene niemals zu schätzen gewusst! Sie einfach weggeworfen! Sie hätte jemand besseren verdient! Jemand wie …“ Er brach ab. „Schauen Sie in das Päckchen.“

Pfeiffer öffnete die kleine Kiste. Darin lag eine Pistole, sauber poliert.

„Eine Kugel“, erklärte der Filmer und zoomte offenbar auf die Waffe. „Sie haben zehn Minuten, um zu entscheiden, wer sie benutzt. Wenn Sie das nicht tun, sterben Marlene und Sie beide.“ Er zeigte mit dem Lauf seines Revolvers abwechselnd auf Berger und Pfeiffer. Die Wahl liegt bei Ihnen.“

Die beiden sahen sich an. Die Panik in Bergers Augen war mit Händen greifbar, doch Pfeiffer dachte bereits nach. Seine Gedanken rasten, während die Sekunden unerbittlich verstrichen. „Wie haben sie Maria und diesen anderen Mann dazu gebracht, sich selbst zu erschießen? Die beiden haben sie nicht mal bedroht.“

„Oh, manchmal gibt es wirksamere Drohungen, als jemandem selbst eine Waffe ins Gesicht zu halten …“ Der Mann zögerte, fuhr dann aber fort: „Maria und ihr Vater …“ Er erkannte die Überraschung in Pfeiffers Gesicht und bekräftigte: „Ja, ihr Vater. Sie kannten nicht mal den Vater ihrer Geliebten, nicht wahr? Genauso wenig, wie sie jemals das Kind kennengelernt haben!“

„Was für ein Kind? Maria hatte keine Kinder!“ Pfeiffers Gefühle spielten Flipper zwischen Wut, Scham, Angst und Verwirrung.

„Nicht, solange sie noch zusammen waren … jedenfalls war es da noch nicht geboren. Egal. Jedenfalls würde jemand wie Sie beide …“ Wieder schwenkte er den Revolver zwischen ihnen hin- und her. „… wohl kaum verstehen, dass man sich lieber selbst umbringt, als das eigene Kind oder den Enkel tot zu sehen. Bei Ihnen muss man doch die Waffe direkt ins Gesicht halten.“ Er hob den Revolver.

Langsam sickerte die Erkenntnis in Pfeiffers Bewusstsein. „Mein … mein Kind?“

Der Mann lachte trocken. „Ihres? Mit welchem Recht? Die Uhr tickt übrigens. Noch fünf Minuten.“

Vom Eingang her war in die entstehende Stille hinein ein Geräusch zu hören: Schritte. Jemand näherte sich der Halle. Die Tür flog auf, und eine dunkle Silhouette trat ein. Eine Frau, deren feucht glänzende Haare wirr um ihr Gesicht hingen. Ihre rechte Hand war tief in der Tasche ihres Mantels vergraben.

„Marlene?“, flüsterte Berger.

„Sie ist es nicht“, versetzte Pfeiffer. „Aber sie sieht ihr verdammt ähnlich! Es ist ihre leicht verrückte Schwester!“ Zu der Frau gewandt fügte er hinzu: „Hallo Mellie!“

Auch der Filmer wirkte überrascht, zog die Augenbrauen zusammen und hob zögerlich den Revolver.

Die Frau sah die drei Männer im Raum mit harten Augen an. „Einer von den beiden Ärschen wie? Nicht schlecht, aber es gibt noch eine dritte Option“, flüsterte sie.

© writers_headroom /Sebastian Steffens

Christian Pfeiffer starrte auf den Bildschirm. Das fragile Gerüst seiner Psyche drohte unter der Last zu bersten. In seinem Kopf gaben sich vergangene und zukünftige Szenen ein Stelldichein.
Marlene in der Redaktion.
»Woher kennen Sie Marlene?«, fragte eine Stimme aus weiter Ferne.
Marlene erstickend, sich windend in Fesseln.
»Herr Pfeiffer, woher kennen Sie Marlene?«
Marlene verblutend an einem Schuss aus der Dunkelheit. Er, Christian Pfeiffer, einmal mehr zu spät.
»Herr Pfeiffer. Geht es Ihnen gut?«
Die Stimme wurde klarer. Ließ das Karussell langsamer fahren und ihn abspringen. Fast dankbar blickte Christian Pfeiffer auf. Sah die fragenden Augen von Dorothea Berger und kam zurück in die Realität.
Er brauchte einen Moment. Fand Zuflucht in seiner jahrzehntelang trainierten Routine. Der Journalist in ihm übernahm.
»Woher kennen Sie sie denn?«, gab er die Frage zurück. Perfekt. Seine Stimme war ruhig, die Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben. Er schaute die Bergers abwechselnd an.
Dorothea Berger hob abwehrend die Hände. »Ich kenne diese Frau überhaupt nicht. Genauso wenig wie ich den Mann oder Ihre Maria kannte. Das ist ein Albtraum und ich bin darin gefangen.«
Während sie sprach, wurde ihre Stimme schrill. Sie sah ihren Mann an.
»Richard – WER IST DAS?« Sie deutete auf den Laptop.
Berger knetete seine Hände. Rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Immer wieder flatterte sein Blick zum Bildschirm.
»Jetzt machen Sie das weg, Herrgott nochmal.«, krächzte er. »Wir werden jetzt die Polizei rufen und dieser Sache endlich ein Ende machen.«
»Auf keinen Fall.«, widersprach Christian Pfeiffer entschlossen. »Wir beide sollen um 20:05 Uhr an diesem Haus sein. Wenn wir dort nicht erscheinen, ist Marlene tot.«
»Das hat er nicht gesagt«, widersprach Berger.
Christian Pfeiffer spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Heiß und in unbekannter Intensität. Er sah den Mann an, den er noch vor einigen Minuten für ein Opfer gehalten hatte. Das war längst vorbei.
»Wir wissen beide, dass er genau DAS tun wird.«, knurrte er. »Also noch einmal. Woher kennen Sie Marlene?«
Berger straffte sich. »Das tut jetzt nichts zur Sache. Sie ist in Gefahr und dafür ist die Polizei zuständig. Dorothea, ruf bitte die Polizei.«
Doch Dorothea war gegangen.
»Dann mach ich es eben.«, brummte Berger und stand auf.
In diesem Moment brach in Pfeiffer der letzte Damm. Alle Wut, aller Selbsthass der vergangengen Wochen bahnte sich den Weg aus seinem Inneren. Er verlor die Kontrolle. War mit einem Satz neben Berger und setzte einen perfekten Fausthieb.
Richard Berger verlor das Gleichgewicht und taumelte, die blutige Nase haltend, gegen die Wand.
Ohne sich darum zu scheren, packte ihn Pfeiffer und zerrte ihn aus dem Haus. Das ungleiche Paar durchquerte den Vorgarten und trat durch die schmiedeeiserne Gartentür auf die Straße.
Pfeiffers Wagen stand direkt in der Einfahrt. Er stieß den protestierenden Berger auf den Beifahrersitz und rannte zur Fahrerseite. Die Anzeige im Cockpit zeigte 19:03 Uhr. Bis zum Industriegebiet brauchten sie etwa 30 Minuten. Noch einmal würde er nicht zu spät sein. Er ließ den Wagen an und gab Gas.
»Jetzt warten Sie doch. Das ist eine Falle!« Richard Berger hatte seine Sprache wiedergefunden und schrie nun ohne Unterlass. »Lassen Sie mich raus! Sie sollen mich rauslassen! ICH WILL HIER RAUS!«
Als er anfing, sich an der Tür zu schaffen zu machen, stoppte Pfeiffer abrupt den Wagen. Er drehte sich zu Berger. Zog ihn an seiner Krawatte zu sich heran, bis er dessen Angst riechen konnte.
»Marlene war die Quelle in meinem letzten Artikel.«, knurrte er, »Er ist nie erschienen. Ich musste eine Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen und wurde in die Online-Redaktion versetzt. Also glaub mir. Ich weiß, was du getan hast, du Schwein.«
In Bergers Augen spiegelte sich Entsetzen. Pfeiffer stieß ihn zurück in seinen Sitz. Richard Berger atmete hörbar aus. Dann nickte er und deutete auf die Straße.
»Fahr«

© DasEni

Von Kiki T. Lee

Äneas sah den Professor erwartungsvoll an. „Sagten Sie nicht, wenn ich Ihnen zwanzig neue Patienten zuführe, dann entlassen Sie mich nach Hause? Es sind sechsundachzig!“
„Richtig, Herr von Eschbach. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?“
Äneas überlegte kurz. „Vertrauen?“
„Nein“, antwortete der Professor. „Logik! In gewisser Weise sind Sie ein mächtiger Mann. Aber das erkläre ich Ihnen in Ruhe. Dafür haben wir noch viel Zeit.“
„Also darf ich nicht heim?“
„Ich kann Sie nicht gehen lassen. Sie sind eine Gefahr. Das sehen Sie doch an der Anzahl der Neuen. Sechsundachzig in einem halben Monat!“
Äneas schluckte. Er fühlte sich zurecht verraten.
„Und zwei Tote!“, fügte Professor Froit an.
„Aber doch nur auf dem Papier …“ Er rutschte angespannt von einer Pobacke auf die andere und zurück.
Froit antwortete geduldig: „Ja, jetzt … Was passiert in den nächsten vierzehn Tagen?“
Bevor Äneas etwas sagte, winkte Froit dem Schrank in Weiß, der vorsichtshalber an der Tür wartete, und wandte sich wieder seinem Patienten zu. „Pfleger Hanno begleitet Sie jetzt auf Ihr Zimmer.“
Der Schrank setzte sich in Bewegung.
Äneas deutete auf den Block in Froits Hand. „Bekomme ich Stift und Papier?“
Der schüttelte den Kopf. „Herr von Eschbach, strengen Sie sich ein wenig an. Das hatten wir doch schon.“
Äneas spürte Hannos zupackende Hand um seinen Oberarm, stand auf und lief los, ohne sich zu verabschieden.

Bevor sie die gepolsterte Türe erreichten, rief Froit: „Herr von Eschbach, kommen Sie doch nochmal kurz zurück.“
Äneas blieb stehen. Hanno drehte ihn, wie beim Tango, in die richtige Richtung und gab ihm einen sanften Schubs.
Wackelig setzte er einen Fuß vor den anderen, stellte sich wartend neben den Sessel, der die Hitze ausstrahlte, die er eben dort vergessen hatte.
Froit riss die oberen Blätter vom Block, hielt ihm diesen, wohlwollend lächelnd, entgegen.
Äneas überlegte nicht lang, griff zu.
Doch der Professor zog die Hand mit dem kostbaren Präsent in Windeseile zurück und fragte: „Wo ist Marlene?“
„Bitte?“
„Das dritte Opfer, nicht wahr? Oder werden Sie sie retten?“
„Ich? Welche Marlene?“
Froit reagierte nicht darauf. „Wie lange läuft diese absurde Geschichte noch?“
„Zwei Runden. Oder drei? Ich verliere hier das Gefühl für die Zeit.“

Äneas schloss die Augen, stellte sich vor, an seinem Schreibtisch zu sitzen.
„Herr von Eschbach, Sie müssen den Wettbewerb anhalten. Stoppen.“
„Das ist unmöglich. Ich bin nicht der Veranstalter. Habe nur die … “
„Den ersten Mord geliefert?“ Froit atmete tief durch. „Ist Ihnen vielleicht ein Schüler aufgefallen, oder mehrere?“
„Aber natürlich“, antwortete Äneas, urplötzlich voll in seinem Element. „Monte Peligroso gewann die erste Runde.“
„Noch jemand?“
„Ein Gschichtlbeeindrucker, er schreibt verdammt gut, bedauerlicherweise zu originell, was mir persönlich behagt. Und dann noch eine Lynn oder so. Eine Frau.“
„Belastet Sie das?“
„Was?“
„Dass Ihnen die Frau aufgefallen ist.“
„Sprechen wir jetzt doch über meine Mutter?“, fragte Äneas argwöhnisch.
„Nein“, sagte Froit beruhigend. „Ein anderes Mal. Aber sagen Sie, woher wissen Sie das mit den Schülern?“

Äneas starrte den Professor verblüfft an. „Weil Sie mir das eben erzählt haben. Deswegen.“
„Ich - Ihnen?“
„Aber gewiss doch.“ Äneas drehte sich um zu Hanno, suchte Bestätigung. Doch der glotzte teilnahmslos aus dem Fenster.
Professor Froit fuhr fort: „Verstehe. Wie fühlen Sie sich jetzt? Was spüren Sie?“
Der Patient zuckte mit den Schultern. „Gar nichts.“
Froit konzentrierte sich einen Moment auf den Block, murmelte, während er schrieb, meint, er spüre gar nichts.
Dann winkte er den Pfleger herbei, sagte abschließend: „In wenigen Stunden werden Sie im Behandlungsraum die Wahrheit sagen.“ Er lächelte zuversichtlich.
Äneas fragte erschrocken: „Sie wenden doch keine unlauteren Mittel an, nicht?“
„Ich?“, erwiderte der Professor überrascht und fügte hinzu: „Das hier ist die Forensische. Die unterscheidet sich von der normalen Psychiatrie. Und Sie, als erfolgreicher Autor, vermeintlicher Anführer einer gefährlichen Sekte, werden in unserer Spezialabteilung umsorgt. Die Kriminologen warten auf Antworten. Und die werden Sie liefern!“
Äneas beteuerte: „Ich habe keinerlei Kontakt zu meinen Schülern. Ernsthaft! Wie denn – ohne Internetzugang? Und ich versichere, bei allem, was Ihnen heilig ist, dass ich nicht den blassesten Schimmer habe, wer Marlene ist.“
Von so einem brillanten Kopf ließ sich Froit sicher nicht hinters Licht führen. „Darüber sprechen wir später. Hanno!“

Von Kiki T. Lee (Andrea von und zu Äschbach)

4.

Zu Fall Bringer

Das dunkelgrüne Understatement auf Rädern, ein Dacia Sandero, durchquerte auf der Mainzer Landstraße das nächtliche Frankfurt und näherte sich der Abzweigung zum Gewerbegebiet Westside. Die Skyline funkelte vor dem anthrazitfarbenen Dezemberhimmel wie ein Kristall. Ein gelbes Herz unterhalb der, wie eine Kathedrale illuminierten, Spitze des Commerzbank-Towers sandte seine paradox anmutende Botschaft.

Die Männer hatten sich auf Pfeiffers kleineres, wendigeres Fahrzeug und ihn als Fahrer geeinigt, da er Frankfurt berufsbedingt aus dem Effeff kannte. Seit sie überstürzt gemeinsam aufgebrochen waren, Dorothea Berger war als kommunikatives Bindeglied zuhause geblieben, hatten sie noch kein Wort gesprochen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Christian Pfeiffer dachte voller Trauer an die Geschehnisse im Oktober und Marias gewaltsamen Tod. Die Polizei war einigen Spuren erfolglos nachgegangen, da die Identität des älteren Graubarts, der sich vor Bergers Haustür selbst gerichtet hatte, noch immer nicht geklärt worden war. Auch Pfeiffer hatte keinerlei Verbindungen zwischen den Beteiligten aufdecken können. Bis zu dem aktuellen Hinweis, war es zu keinen weiteren Vorfällen gekommen. Dieses Video war dafür in seiner Grausamkeit um so verstörender und das übermittelte Ultimatum entsetzlich knapp. Der Täter hatte keine neue Geldforderung gestellt, und so fragte sich Pfeiffer, worum es diesem Wahnsinnigen ging?

»Woher kennen sie Marlene?« Die Frage, nahezu synchron von beiden Männern ausgesprochen, störte die Stille auf und sie entfloh durch den leicht geöffneten Fensterschlitz. Die Fensterinnenseiten des Wagens waren beschlagen und der kondensierte Angstschweiß der Männer rann in Schneckenspuren hinab. Nur achtzehn Minuten noch bis zum Ablauf der Frist! Was für eine seltsame Zeit – 20:05 Uhr!

»Dr. Marlene Greif-Zufall ist Vorstandsvorsitzende der Hygisom Greif AG«, sagte Richard Berger, »dem Pharmakonzern. Dorothea und ich kennen sie und ihre Familie aus dem Golf-Club. Wir sind nicht gerade eng befreundet, aber spielen öfter zusammen oder sehen uns auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. Außerdem halte ich einige Aktien des Unternehmens. Und sie? Ich nehme an, sie spielen nicht Golf!«

Christian Pfeiffer lachte. »Ja, da haben sie recht. Golf ist mir zu … besinnlich und nichts für mich und meine Gehaltsklasse! Im ersten Augenblick habe ich Marlene kaum wiedererkannt in dem Video, denn unser Zusammentreffen liegt schon ein paar Jährchen zurück. Außerdem wirkt ein zu Tode verängstigter, geschundener Mensch anders als …« Er ließ den Satz in der stickigen Luft hängen und machte eine Pause, um sich bei gemäßigterem Tempo zu orientieren.

Er kontrollierte das Navi und bog jetzt in eine Straße ein, die direkt am nördlichen, begrünten Mainufer entlang führte. Das Quartier auf der, der Uferzone gegenüberliegenden Straßenseite war fast durchgängig durch Ziegel- oder Betonmauern, Gebäudeaußenwände oder Drahtzäune mit zusätzlichem Stacheldraht gesichert. Ein altes, im Umbruch befindliches Terrain, das, glaubte man den Stadt-Vätern und Müttern bald die Industrie mit nachhaltigen, modernen Konzepten in eine wirtschaftlich rosige Zukunft führen sollte.

Allmählich breitete sich in Pfeiffers Eingeweiden eine schmerzhafte Anspannung aus, die seine Muskeln verkrampften. Bewusst atmete er einige Male tief ein und aus, um locker zu werden.

»Damals«, nahm er den Faden wieder auf, »machte ich meine ersten journalistischen Gehversuche bei einem Stadtteilblättchen und versuchte mich an einer rührseligen Story über eine Familie, der das Leben übel mitgespielt hatte. Es war, wie jetzt, in der Adventszeit und es ging um eine Spendenaktion für Menschen in Not. Und glauben sie mir, Herr Berger, diese Familie war in Not!«

»Was war ihr widerfahren?«, fragte Berger. »Und was hatte Marlene damit zu tun?«

»Mal sehen, ob ich es kurz fassen kann, denn wir sind gleich am Ziel, und die Tragödie hat leider zu viele Akte! Die Eheleute, ich glaube, sie hießen Habermaas oder so ähnlich, gerieten aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Tochter in eine Schuldenfalle. Julia, so hieß die Siebzehnjährige, erhielt mit elterlicher Zustimmung, ein angeblich kurz vor der Zulassung stehendes, innovatives Medikament. Die Eltern mussten die illegale Behandlung des Mädchens aus eigener Tasche finanzieren. Das war eine immense Bürde, aber Julia überlebte die akute Krise, blieb jedoch irreversibel mehrfach behindert, und es erhärtete sich der Verdacht, dass nicht ihre Erkrankung, sondern Nebenwirkungen des Pharmakons Schuld an diesem Zustand waren. Die Familie zerbrach unter der Belastung. Nach meinen damaligen Recherchen hatte der Vater Trost im Alkohol gesucht und verschwand dann eines Tages sang- und klanglos. Die Mutter blieb mit den erwachsenen Kindern – Julia hatte einen älteren Bruder, Jona –, mit der Pflege und dem Schuldenberg zurück. Eine teure Klage gegen das Unternehmen hätten sie niemals bezahlen können, zumal so ein Fall äußerst schwer beweisbar ist.«

»Mann, wenn einem das nicht an die Nieren geht!«, stöhnte Richard Berger.

»Ja, das war für mich und Maria, die zur gleichen Zeit als freie Fotografin arbeitete und die ich beim Erstellen der Bilderserie kennenlernte, ´ne echt harte Nummer. Und Marlene – damals nur Greif, denn verheiratet war sie noch nicht – hatte ich für die Partei des Pharmaunternehmens interviewt, aus dessen Kochtöpfen dieses üble Heilmittel kam. Es wurde nie zugelassen. Später traf ich sie immer wieder einmal, wenn es um Berichte über den Konzern ging.«

»Und was geschah mit der Familie?«

»Sie erhielt einen kleinen Anteil der gesamten Spendensumme, was natürlich nur einen Tropfen auf den heißen Stein bedeutete. Soweit ich mich erinnere, starb das Mädchen Jahre danach in einem Hospiz. Sie wissen doch, wie das im Journalismus funktioniert: Heute eine brandheiße Story, morgen schert sich niemand mehr um die Opfer.« Christian Pfeiffer schlug in einer Geste der Hilflosigkeit auf das Lenkrad. Dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, stieg er auf die Bremse! Die Gurte griffen sofort, aber Berger machte dennoch einen unfreiwilligen Bückling.

»Zum Teufel nochmal, warnen sie mich doch vor! Sind wir schon da?« Er klang gereizt.

»Nein, nicht ganz – da vorne, dieser Komplex, der muss es sein! Aber, verdammt, in diesem Augenblick, in dem ich ihnen diese Geschichte erzähle, fällt mir was Kurioses auf. 10.000 Euro! Himmel, Berger! 10.000 Euro, das war genau die Summe, die Familie Habermaas der Klinik für die Behandlung mit diesem Medikament schuldete. Haben sie sich nie gefragt, warum die beiden Männer von ihnen genau diesen Betrag erpressen wollten? Eine ungewöhnliche Summe, wie ich finde!« Vielleicht, dachte er mit einem Anflug von Verzweiflung, will mein Verstand nur unbedingt Lösungen finden, wo es keine gibt. Aber dennoch, spielten nicht in dem alten Stück zum Teil dieselben Darsteller wie die auf der neuen Bühne? Konnte alles zusammen genommen bloß Zufall sein?

»Und was heißt das?« Bergers Handflächen fuhren nervös die Oberschenkel rauf und runter.

»Ehrlich? Keine Ahnung! Aber es könnte sich zu einer ersten richtig heißen Spur entwickeln. Wir haben noch acht Minuten. Ich fahre jetzt näher ran an das Gebäude, denn ich schätze, er wird uns beobachten.«

Als der Dacia gleich darauf erneut hielt, zeigte das Navi genau den bei der Abfahrt eingegebenen Standort.

Die beiden Männer schauten sich fragend an, so, als hoffte jeder, dass der andere eine phänomenale Idee preisgab. »Und jetzt«, sagte Pfeiffer so wild entschlossen wie ein Kind, das pfeifend in den Keller geht, um sich den Monstern zu stellen, die es dort wähnt, »jetzt schnappen wir uns den Mistkerl, der sowohl für den Tod Marias als auch den des Opfers ihrer Erpressung verantwortlich ist!« Überrascht stellte er fest, dass sich zu seiner Angst fiebrige Euphorie gesellte.

Er stieß die Wagentür auf und stieg aus. Die Luft war feucht und die Temperatur lag um den Gefrierpunkt. An manchen Stellen glitzerte Reif. Berger folgte ihm, wenngleich eher halbherzig. Die langsamen Bewegungen, das müde, faltige Gesicht, spiegelten jetzt sein tatsächliches Alter, und der Journalist machte sich Sorgen, ob der ältere Herr physisch durchhalten würde.

»An eine Taschenlampe habe ich zwar gedacht, aber wir Trottel haben nichts, um uns zu wehren«, stellte Richard Berger trocken fest.

»Nicht ganz!« Pfeiffer klopfte vielsagend in Herzhöhe auf seine dicke Winterjacke.

»Sie haben eine Waffe? Hatten sie die etwa schon bei uns im Haus bei sich?« Berger schüttelte tadelnd den Kopf.

Pfeiffer zuckte wie zur Entschuldigung mit den Schultern. In seiner Jackentasche bettelte sein Handy um Aufmerksamkeit. Sofort stellte sich das flaue Bauchgefühl wieder ein. Als hätte er entweder zu viel oder zu wenig gegessen oder den Inhalt eines Luftballons geschluckt. Mit klammen Fingern nahm das Gespräch entgegen. Die bekannte tiefe Stimme strotzte vor Selbstsicherheit, zeugte aber auch von einer ungeduldigen Erregung.

»Das Ultimatum ist fast abgelaufen. Ein bisschen Beeilung, die Herren! Ihr seid nicht zu Omas Blümchenkaffee geladen!«

»Wir sind ja hier, aber stehen vor einem verschlossenen, gesicherten Tor aus massiven Gitterstäben.« Tonlos deutete Richard Berger auf ein ramponiertes Firmenschild aus Metall, das seitlich am Zaun angebracht war. ›Hygisom-Greif AG‹ stand unterhalb eines Firmenlogos, darunter ›Vertrieb‹ und letztlich die Adresse. Pfeiffer registrierte am Rande, wie sich Puzzlesteine in seinem Hirn in Position brachten, aber das musste warten.

»Es ist ein Rolltor und ich habe dafür gesorgt, dass sie es ein Stück weit aufziehen können. Gleich das erste Gebäude dahinter auf der linken Seite hat ein kaputtes Fenster im Erdgeschoss, durch das sie einsteigen können. Um den Wachdienst brauchen sie sich nicht zu kümmern, das habe ich ihnen abgenommen. Genießen sie den Lost Place

Pfeiffer und Berger folgten der Anweisung. Der weiß getünchte Bau mit dem Bogendach lag etwas vertieft und ein begrünter Erdwall schirmte die Front vor Blicken von der Straße ab. Pfeiffer kletterte als Erster durch das Fenster, das nur mit einer wetterfesten Plane abgedeckt war und half dann seinem älteren Begleiter, der seine Taschenlampe einschaltete. Sie befanden sich in einer Lagerhalle, deren Dachkonstruktion von Säulen getragen wurde. Tonnenschwere Betonbrocken vermutlich herausgerissener Wände oder Zwischendecken lagen auf dem Boden und streckten Moniereisenbeine in die Höhe wie versteinerte Käfergiganten. Seitlich öffneten sich kleinere Anbauten. Die Luft roch weder abgestanden noch modrig, was auf einen passablen Gebäudezustand schließen ließ.

Ehe der Lichtkegel die Haupthalle komplett erkundet hatte, explodierte ein Schuss und echote grollend durch die Räume. Ein Mündungsfeuer hatten die Männer nicht gesehen, aber der Knall war unglaublich laut in der Leere, die der entsprach, die Berger und Pfeiffer jäh überkam. Waren sie wieder zu spät? Hatten sie erneut versagt? In welchem irrsinnigen Albtraum waren sie gefangen und warum? Das Licht von Richard Bergers Leuchte erreichte eine fleckige Betonwand, glitt an ihr langsam daran herunter und fiel auf einen Frauenkörper. Das Bild entsprach fast dem, das sie aus dem Video kannten, nur war aus diesem alles Leben gewichen. Die Augen des Opfers waren geschlossen, in der Hand ihres ausgestreckten Arms lag ein kleiner Smith&Wesson Revolver mit Griffschalen aus braunem Holz. Eine ungewöhnliche Waffe für eine Frau. Pfeiffer war dankbar, als Berger das unbarmherzige Licht etwas seitwärts schwenkte. Nicht minder schauerlich war allerdings die Blutlache, die jetzt die Helligkeit einfing. Berger beugte sich hinunter, tippte einen Finger an den Rand und stutzte.

»Marlene hat sich nicht gerade eben erschossen. Das Blut beginnt zu trocknen und in den Betonboden zu sickern. Die Ärmste liegt hier schon länger, und wir sind erneut Statisten einer perfiden Vorführung geworden! Nichts, gar nichts hätten wir ändern können, verflucht nochmal.« Den letzten Satz spie er so laut aus, dass er von Spucketröpfchen begleitet wurde und stampfte dabei zornig wie Rumpelstilzchen auf.

Pfeiffer zog seine Glock, eine Selbstladerpistole, aus dem Schulterholster, das er unter der Jacke trug. »Zeig dich, du feiges Dreckschwein, wo bist du?«, schrie er in die Dunkelheit. Er bekräftigte seine Wut, indem er zweimal in die Luft feuerte, als wollte er mit dem Unsichtbaren um das letzte Wort kämpfen.

»Gut gebrüllt, Löwe!«, sagte die Stimme in seinem Handy – er hatte vollkommen vergessen, dass es auf Empfang war. »Das nächste und zugleich das letzte Mal, mein Wort darauf, müsst ihr schneller sein! Überlass den Showdown der Story nicht dem Zufall. Die Stimme lachte künstlich. Ha, ha, oder sollte ich heute sagen einer Zufall?«

»Und mein Wort darauf, dass ich dich zu Fall bringe«, versprach Christian Berger und drückte das Gespräch weg.

Rache
von Edda

Dorotheas Augen weiteten sich panisch.

„Oh Gott! Nein!“ Ihre Stimme brach, Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Hände zitterten, als sie sich hektisch die Wangen trocknete. „Marlene! Wir müssen ihr helfen! Die Polizei — wir müssen die Polizei rufen!“

„Dieses Mädchen hat sich in Schwierigkeiten gebracht. War ja nur eine Frage der Zeit“, knurrte Pfeiffer. „Marlene hat ständig Ärger gemacht.“

Dorothea sah ihn an, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. „Was soll das heißen? Was wissen Sie über unser Kind, das wir nicht wissen? Woher kennen Sie Marlene?“

„Marlene ist Ihre Tochter?“ fragte er verblüfft. Wie hatte er das nicht früher erkannt? Der Name Berger hätte ihm längst auffallen müssen! Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens fuhr er fort: „Sie war bei mir in der Redaktion – als Praktikantin“, sagte er zögernd und wich ihrem Blick aus. Er räusperte sich, als hätte er etwas im Hals, das ihn am Sprechen hinderte. „Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

Richard Berger fixierte ihn mit durchdringendem Blick, als hätte Pfeiffer sich vor seinen Augen in eine andere Person verwandelt. „Was meinen Sie damit? Was verschweigen Sie uns?“ Seine Stimme klang hart und sein Gesicht hatte sich rot verfärbt.

„Dorothea, ruf die Polizei“, sagte er schließlich mit Nachdruck.

„Das würde ich Ihnen dringend abraten“, entgegnete Pfeiffer kühl. Seine Stimme hatte den Klang von kaltem Stahl.

Dorothea wandte sich ihm zu, die Tränen waren wie fortgewischt. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Und warum nicht?“

Pfeiffer verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, langsam durch den Raum zu gehen. Seine Schritte hallten in der angespannten Stille wider. „Weil es klüger wäre, auf die Forderung einzugehen“, sagte er ruhig, als spräche er über eine unausweichliche Tatsache.

„Welche Forderung?!“ Dorothea schlug die Hände vor den Mund, als ihr die Bedeutung dieser Worte klar wurde. „Mein Gott … sie wollen bestimmt Lösegeld!“

„Ja, Dorothea“, murmelte Richard mit rauer Stimme, als hätte ihm jemand Sand in die Kehle geschüttet. „Diesmal zahlen wir. Ganz egal, wie hoch der Preis ist. Wir werden es bezahlen.“ Seine Stimme brach, und er vergrub sein Gesicht in den Händen.

Plötzlich erklang Pfeiffers Stimme wie ein Schuss durch den Raum. „Ist Ihnen überhaupt aufgefallen, dass unser Feind gar kein Lösegeld verlangt hat?“

Stille.

Bergers Hände sanken langsam von seinem Gesicht. Er blinzelte, als müsse er die Worte neu sortieren, um sie zu verstehen. „Was?“ flüsterte er, unfähig zu begreifen. „Wenn es nicht ums Geld geht … um was dann?“

Pfeiffers Gedanken rasten. Vor seinem inneren Auge schoben sich Puzzleteile hin und her, aber keins passte ins andere. Marlene, Maria – was war die Verbindung? Wie passte das alles zusammen?

„Genau das frage ich mich auch“, sagte Pfeiffer leise, sein Blick war scharf und wachsam. „Und ich fürchte, die Antwort wird uns nicht gefallen.“

Marlene starrte in den schief hängenden Spiegel über dem zerkratzten Waschbecken, ein Relikt aus den 60er Jahren. Das flackernde Licht der nackten Glühbirne warf zuckende Schatten auf die grauen Betonwände. Sie musterte ihr blasses Gesicht, das verfilzte Haar und die dunklen Augenringe. Ihre stahlblauen Augen leuchteten vor Energie, trotz der Müdigkeit, die in ihren Zügen lag. Bald würde das Versteckspiel vorbei sein. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie würden büßen. Alle.

Ihr Blick blieb an ihren Augen hängen – dieselbe kalte, durchdringende Farbe wie die ihres Vaters. Allein der Gedanke an ihn ließ ihren Magen sich verkrampfen. Bitterkeit kroch in ihre Brust. Er hatte seine Chance gehabt. Aber nein, er hatte es vorgezogen, seine wahre Fratze zu zeigen. Das Video hatte alles ans Licht gebracht: wie er den obdachlosen Werner mit kalter Selbstgefälligkeit abwies. Ohne Mitleid. Ohne Menschlichkeit. Und dabei gab er sich immer als guter Christ, der keine Sonntagsmesse ausließ. Heuchler. So war er schon immer gewesen. Ein verlogenes, kapitalistisches Schwein, das nur an seinen eigenen Vorteil dachte. Für ihn zählte nur Leistung. Alles musste effizient, perfekt, makellos sein – auch sie. Liebe? Die hatte in ihrem Elternhaus nie existiert. Stattdessen gab es Erwartungen. Druck. Und ihre Mutter? Die perfekte, aufopferungsvolle Ehefrau, die jede Erniedrigung stumm ertrug. Beide waren gleich. Beide hasste sie.

Ein Geräusch drang durch die Stille – Schritte auf der Treppe. Das Klirren von Metall, als eine alte, verrostete Tür aufgestoßen wurde.

Kevin trat in den Raum. Marlene drehte sich zu ihm um, während er mit einem selbstgefälligen Grinsen näherkam.„Endlich!“, rief Kevin und klatschte in die Hände. „Die haben’s geschnallt! Beide haben das Päckchen gekriegt. Dein Plan läuft wie 'ne Eins!“ Er grinste breit, rieb sich die Hände und hüpfte unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Ich schwör, ich bin so gespannt, was jetzt abgeht!“ Er drehte sich im Kreis wie ein überdrehter Teenager.

„Svenja und Hannes sind weiter an ihren Posten?“ Marlene schenkte ihm kaum Beachtung, ihre Stimme blieb kühl.

„Na klar doch!“ Kevin winkte ab, als wäre die Frage lächerlich. „Läuft alles wie 'ne Maschine. Hab auch alles gefilmt – jeden Moment, jeden Blick. Mann, wenn der Film fertig ist, werden die alle ausrasten! Die werden endlich raffen, wie komplett kaputt unser System ist!“ Seine Augen leuchteten vor Aufregung, seine Stimme überschlug sich fast. „Es ist Zeit für die große Wende, Mann! Es wird richtig krachen!“

„Gut gemacht“, sagte Marlene knapp.

Kevins Brust schwoll an, als hätte er gerade eine Medaille gewonnen. Für einen Moment war er still, dann wagte er die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte. „Aber ey, sag mal … was is’n der nächste Move?“ Er rieb sich die Hände, die Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Was machst du, wenn die heut Abend auftauchen?“

Marlenes Blick wurde hart. Ein einziger Blick, und Kevin verstummte sofort. Er senkte den Kopf wie ein Hund, der eine Standpauke erwartet.

„Hoffentlich rennen die nich’ gleich zur Polizei“, murmelte er kleinlaut.

„Tun sie nicht“, sagte Marlene mit eiskalter Gewissheit. Ihre Augen verengten sich. „Mein Vater wird kommen. Die perfekte Familie Berger – wie würde das wohl aussehen, wenn der ach so vorbildlicher Gutmensch nicht alles tun würden, um seine einzige Tochter zu retten?“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen, bitteren Lächeln. Ihre Stimme vibrierte vor enttäuschter Wut. „Er ist besessen von der perfekten Fassade. Was andere denken, ist für ihn alles. Alles!“

Kevin hob den Kopf leicht an. „Und Pfeiffer?“

Marlene kniff die Augen zusammen, ihre Stimme wurde schneidend. „Pfeiffer weiß genau, dass sonst weder Werners noch Marias Tod je aufgeklärt werden. Die Bullen sind ein Haufen Versager – unfähig, korrupt und verlogen.“ Ein trockenes, hartes Lachen entfuhr ihr. „Die Polizei und die Presse – beides der gleiche Abschaum. Immer schön die Machtverhältnisse wahren, bloß keine Wellen schlagen.“ Ihre Miene verhärtete sich, der Hass in ihren Augen loderte wie ein stilles Feuer. „Ich hab dir von Pfeiffer erzählt. Du weißt, wie der mich behandelt hat.“ Ihre Kiefermuskeln zuckten vor Anspannung. „Seine Versetzung und sogar der Tod seiner Freundin – das war alles nix. Nix. Der Typ hat’s nicht begriffen. So einem reicht das nicht als Strafe. Aber keine Sorge … ich sorge dafür, dass er es kapiert.“

Kevins Blick wanderte zu Boden. Er sagte nichts mehr. Er wusste, wann es klüger war, die Klappe zu halten.

Cynthia Schobel war verlebt. Sehr verlebt. Sie hatte fettige graue Haare, Falten um den Mund und roch nach altem Schweiß. Zwischen gelben Fingern glomm eine Zigarette, durch deren Rauch sie die beiden Männer vor ihrer Haustür missmutig betrachtete.
„Hallo Cyn“, sagte Pfeiffer. „Herrn Berger brauche ich dir wohl nicht vorzustellen, oder?“
„Hätte gedacht, ihr findet’s schneller raus.“ Sie wandte sich um und verschwand im Hausflur. Die Männer folgten ihr.
Das Wohnzimmer war klein und heruntergekommen. Auf einem riesigen Plasmabildschirm, durch den ein gezackter Riss lief, flackerte eine Werbesendung ohne Ton. Cynthia ließ sich in einen Sessel fallen und deutete auf das Sofa. „Is sauber. Könnt ihr euch draufsetzen.“
„Wer ist wirklich Marlenes Vater?“
„Keine Ahnung. Einer von euch vielleicht. Gibt aber noch ein paar wahrscheinlichere Kandidaten.“ Sie zog so heftig an ihrer Zigarette, dass die Glut sich bis zum Filter fraß, den sie dann in einen vollen Aschenbecher warf.
„Hast du denen auch erzählt, dass Marlene von ihnen ist?“
„Nee, nur euch beiden. Ihr wart die einzigen, bei denen was zu holen war. Und die das unbedingt geheim halten wollten.“
„Du Dreckstück!“, sagte Berger.
Cynthias lachen klang wie ein Hustenanfall. „N’bischen Dreck haste damals gebraucht, Richie. Als Ausgleich für deine sterile Ehe.“
Berger starrte sie mit zitternder Unterlippe an. Er sah aus, als würde er gleich zu weinen beginnen. Pfeiffer wusste genau, was er dachte. Er selbst dachte das Gleiche: Wie war es möglich, dass diese Frau ihn einmal ins Bett bekommen hatte?
„Das ist über zwanzig Jahre her“, sagte er. „Wir müssen was Aktuelles mit dir besprechen.“
„Geld gibt’s nicht zurück“, sagte Cynthia. „Das ist alles weg.“
„Es war viel Geld“, sagte Berger. „Ist davon überhaupt irgendwas bei Marlene angekommen?“
„Klar“ sagte Cynthia. „Hast ja alles selbst organisiert mit die ganze Schulbildung und so. Konnte ich ja nicht ungeschehen machen, ohne Verdacht zu erregen. Und kam ja auch alles doppelt von euch beide. Das hat für Marlene gereicht und dafür, dass Mama was zu essen hatte.“
„Was zu essen“, keuchte Berger. „Ich habe Unsummen in dieses Kind investiert. Von den ersten Windeln bis zur Studentenbude. Erst neulich habe ich…“
„Er auch“, sagte Cynthia und deute mit einem Grinsen auf Pfeiffer.
„Darum geht es heute nicht, Cyn“, sagte Pfeiffer. „Marlene wurde entführt.“ Er hielt ihr sein Smartphone hin.
„Sieht ja übel aus. Mit die Fesseln und Knebel und so. Tut mir leid für das Kind. Aber lernt sie auch mal, dass das Leben nicht nur aus Geschenken besteht.“
„Du …“, begann Berger aber Pfeiffer unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste. Er zeigte Cynthia das Video aus Bergers Vorgarten, das sie interessiert mehrmals ansah.
„Kennst du die Männer.“
„Den, der sich umpustet nich. Aber der der im Hintergrund rumbrüllt, das ist mein Marvin. Erkenne seine Stimme.“
Dein Marvin?“
„Mein Lütter. Marlenes Halbbruder. Der is verrückt.“
Pfeiffer und Berger sahen einander an. Dann Cynthia.
„Erklär uns das“, sagte Pfeiffer.
„Der Lütte hat halt nicht so’n großes Los gezogen wie die Marlene. Mit zwei Papas und so, die Geld für sie anbringen. Er musste andere Sachen machen, um zum Familieneinkommen beizutragen.“ Sie pulte sich etwas aus der Nase und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augenbrauen. „Sachen die nich so schön für ein Kind sind. Hat er nen Knacks von wech.“
„Er hat jemanden dazu gbracht, sich in meinem Vorgarten zu erschiessen“, sagte Berger. „Und Christians Freundin ermordet. Warum?“
„Weiß ich nicht. Knacks halt. Und er hasst euch.“
„Ich bin ihm nie begegnet“, sagte Berger, „Christian auch nicht.“
„Stimmt schon“, sagte Cynthia. „Aber er hat ja mitbekommen, dass ihr immer für Marlene gesorgt habt, mit eurem Geld. Musste ihm ja sagen, warum für die immer mehr da war als für ihn. Hat er sich immer gewünscht, dass da auch mal Papas für ihn kommen und ihm was bringen. Kam aber nie was für ihn. Und irgendwann hat er es sich auch nicht mehr gewünscht. Da hat er sich nur noch gewünscht, alle für die Ungerechtigkeit zu bestrafen.“
„Er will, dass wir ihn um acht im Industriegebiet treffen.“
„Besser nich hingehen.“
„Warum?“
„Ich sag doch, der ist komplett verrückt. Zu allem fähig. Hat mir mit zwölf Jahren zum ersten mal den Kiefer gebrochen. Der macht euch beide weg und Marlene noch dazu.“

Als sie wieder im Auto saßen, sagte Berger: „Für mich ist Marlene immer noch meine Tochter. Irgendwie.“
„Ja“, sagte Pfeiffer. „Für mich auch.“
„Wir haben nur noch eine Stunde bis zu dem Treffen.“
„Wir fahren hin“, sagte Pfeiffer. „Ohne Polizei, aber anders als dieser verfluchte Marvin es sich gedacht hat.“
Berger blickte ihn an.
„Pass auf“, sagte Pfeiffer. „Ich erkläre dir jetzt meinen Plan.“


Ein Plotfehler wurde nachträglich korrigiert.

Die Höllenmaschine

»Durch diese hohle Gasse muss er kommen…«, sagte Pfeiffer mit einem Schaudern, indem er seine wenigen Literaturkenntnisse auspackte, die ihm aus dem Deutschunterricht in der Schule hängen geblieben waren, während er mit Berger auf dem Beifahrersitz seinen Wagen durch die schmalen Gassen des Industriegebiets manövrierte. Sie waren angekommen. Ihnen bot sich der Anblick einer verlassenen Lagerhalle, deren Blech im Mondschein der kühlen Herbstnacht gespenstisch silbern schimmerte. Auf dem leeren Asphaltplatz vor dem Gebäude stand das Wasser des kürzlichen Regens noch in grauen Pfützen und es hatte sich über der ganzen Fläche ein unheimlicher Bodennebel gebildet.

Pfeiffer parkte seinen Wagen. Berger hatte nicht auf seine Bemerkung reagiert, wie auch auf alles andere, was er während der Fahrt gesagt hatte, um die unerträglich angespannte Stille zu durchbrechen. Berger saß mit dem Kopf auf die Handflächen gestützt und schien nichts von dem zu bemerken, was um ihn herum geschah. Die Entführung seiner Tochter Marlene hatte ihn vollkommen aus der Fassung gebracht. Pfeiffer hatte Mitleid mit ihm, doch er wusste auch, dass es dieses Mal noch nicht zu spät war. Er stieg aus und wandte sich zu Berger um, der immer noch auf dem Beifahrersitz saß. »Wir sind da.« Berger sah überrascht auf und stieg dann, ohne ein Wort zu sagen, eilig aus dem Wagen.

»Herr Berger«, setzte Pfeiffer an. »Glauben Sie mir, niemand kann besser nachvollziehen, was Sie fühlen als ich. Dieses Monster, dass Ihre Tochter in seiner Gewalt hat, hat auch meine Ehefrau auf dem Gewissen.«

»Ihre Frau?«, fragte Berger verwirrt. »Sie haben mich nicht berichtigt, als ich sie vorhin Ihre Freundin nannte.«

»Wir hatten unsere Heirat aus familiären Gründen noch nicht bekanntgegeben.« Er schluckte. »Aber das hat jetzt alles ohnehin keine Bedeutung mehr.« Für einen Augenblick wurde der Reporter von dem Gedanken an Maria überwältigt und musste sich auf der Autotür abstützen.

»Das… tut mir furchtbar leid«, stammelte Berger.

»Es geht schon«, sagte Pfeiffer, der sich wieder ein wenig gefasst hatte. »Lassen Sie uns jetzt alles dafür tun, dass ihrer Tochter nicht dasselbe geschieht. Diesmal kommen wir nicht zu spät, bei Gott!«

Berger nickte und schlug die Tür des Wagens zu. Dann schritten die beiden entschlossen auf die Lagerhalle zu und ihre Beine versanken im Nebel, der gespenstisch um sie herum waberte. Die beiden schalteten ihre Taschenlampen ein und leuchteten in Richtung des Eingangs. »Eines habe ich nicht ganz verstanden.«, flüsterte Pfeiffer.

»Was?«, antwortete Berger im gleichen Ton.

»Ich erklärte ja bereits, dass ich Marlene daher kenne, dass sie die beste Freundin von Maria gewesen ist, wenn ich auch ihren Familiennamen nicht wusste.«

»Ja.«

»Wie kommt es aber dann, dass Sie Maria nicht kannten?«

»Ich kannte Maria flüchtig, weil Marlene schon seit der Kindheit mit ihr befreundet war, habe sie aber seit Jahren nicht mehr gesehen. Den Nachnamen wusste ich auch nicht. Als ich dann in den Nachrichten von einer Maria hörte, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass da eine Verbindung bestehen könnte.«

»Verstehe…«

Mittlerweile waren sie beim Eingang angelangt. Berger ging zur Schiebetür und packte sie mit beiden Händen. Pfeiffer leuchtete ihm unterdessen mit seiner Taschenlampe, während er mit der anderen Hand den Griff seiner Pistole in der Manteltasche umfasste. Pfeiffer besaß einen Waffenschein, und da die beiden keine Polizei einschalten konnten, war das die einzige Sicherheitsmaßnahme, die sie hatten. Den Männern schlug das Herz bis zum Hals. Berger hatte das Tor geöffnet – Pfeiffer leuchtete hinein, die Waffe in Bereitschaft. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Es geschah nichts. Die Halle schien leer zu sein. Langsam und vorsichtig schritten sie hinein und leuchteten mit ihren Lampen in alle Richtungen, doch der Schein beleuchtete nichts als kahle Wände und fest verbarrikadierte Fenster. Selbst das Gerümpel, das man vielleicht in einer verlassenen Lagerhalle vermuten würde, fehlte vollständig.

»Sehen Sie dort!«, sagte Pfeiffer. »Das sieht nach Licht aus. Mal sehen, ob es noch funktionstüchtig ist.«

Der Journalist legte den Hebel um und beide hielten sich geblendet die Hände vor die Augen, als einige schmutzige Neonröhren an der Decke angingen. Sogleich war die Halle in ein unangenehmes Licht getaucht. Berger schaltete seine Taschenlampe aus und ging etwas weiter in die Halle hinein. »Wieso sollten wir hierherkommen? Ich sehe hier nichts und niemanden.«

In diesem Moment blieb Berger mit dem Fuß an etwas hängen und wäre beinah gestolpert. Erschrocken sah er zu Boden: Ein kaum sichtbarer Draht war über den Boden gespannt. Plötzlich hörten sie es hinter sich rattern. »Das Tor!«, schrie Pfeiffer und stürmte geistesgegenwärtig auf die Schiebetür zu, die sich automatisch zu schließen begann, doch als er ankam, war sie bereits donnernd zugefallen und er prallte mit der Schulter gegen die Tür. Er rüttelte am Griff, doch es war vergebens. Der Draht hatte einen Schließmechanismus ausgelöst, der das Tor hinter ihnen verschlossen hatte. Sie saßen in der Falle!

»Der Hund!«, rief Pfeiffer, indem er das Werk ihres Gegenspielers erkannte. »Los, helfen Sie mir, Berger!«

Mit vereinten Kräften versuchten sie, das Tor aufzubrechen, doch dieses war weit robuster, als es den Anschein hatte. Auf einmal ließ ein Geräusch die Männer herumfahren: ein Lautsprecher. Nun ertönte eine Stimme, die beiden nur allzu gut bekannt war.

»Hallo! Schön, dass Sie wie verabredet gekommen sind!«, schallte es durchs Gebäude.

»Wo ist meine Tochter!?«, schrie Berger verzweifelt. Die Stimme sprach unbeirrt weiter.

»Sie befürchten vielleicht schon, was jetzt kommt, doch ich kann Sie beruhigen: Diesmal muss sich niemand selbst umbringen. Ich werde das für Sie beide selbst erledigen.«

Pfeiffer ballte die Hände zu Fäusten.

»Nun muss ich mich leider verabschieden!« Ein Klicken war zu hören und der Lautsprecher verstummte.

»Was meint er?«, fragte Berger am Rande der Panik. »Womit will er uns umbringen?!«

Der Journalist war der Stimme zuletzt gefolgt und stand nun vor einer unscheinbaren Holzkiste, die er vorhin in der Dunkelheit übersehen hatte. »Damit!«, sagte er und war kreidebleich geworden. Berger kam heran und sah hinein. In der Kiste lag ein wahres Monstrum an Kabeln, dass ein unheilvolles Ticken von sich gab. Man musste kein Sprengstoffexperte sein, um zu wissen, dass es sich dabei um eine Bombe handelte – und zwar eine, die gemäß dem roten Count-Down in weniger als drei Minuten losgehen würde. In einem Film hätten sie die Bombe nun in letzter Sekunde entschärft, doch sie waren nicht in einem Film und keiner der beiden hatte auch nur den blassesten Schimmer, wie man eine Bombe entschärfte. Somit gab es nur eine Lösung:

»Wir müssen sofort hier raus!«, schrie Pfeiffer. »Es muss noch irgendeinen anderen Ausgang geben.«

»Der Lüftungsschacht!«, rief Berger und zeigte mit seinem Finger hinauf, wo in drei Metern Höhe ein Gitter in der Wand war. »Wenn Sie auf meine Schultern steigen, schaffen Sie es hoch.«

»Gut. Wenn ich oben bin, ziehe ich Sie zu mir herauf.«

Sie rannten zu der Stelle und Berger half seinem Gefährten mit einer Räuberleiter auf seine Schultern zu kommen. Pfeiffer fasste das rostige Gitter – es ließ sich einfach entfernen. Er zog sich hoch und schob sich mit den Beinen voran in den engen Schacht. Dann dreht er sich herum und streckte die Hand nach unten aus.

»Nehmen Sie meine Hand!« Berger zögerte. »Worauf warten Sie!«, schrie Pfeiffer ihn an. »Kommen Sie, Berger!«

»Ich passe nicht durch«, antwortete dieser. »Ich passe niemals in diesen Schacht.«

Pfeiffer wusste sofort, dass er recht hatte. Für den schlanken Reporter war der Schacht gerade breit genug, der etwas beleibte Herr Berger konnte nicht hindurchpassen. Doch er wollte es nicht wahrhaben. »Reden Sie keinen Blödsinn und nehmen Sie meine Hand!«

»Lassen sie das, Pfeiffer!«, sagte Berger mit einer Bestimmtheit, die ihm der Journalist niemals zugetraut hätte.

Ein schmerzhaftes Gefühl krampfte dem Journalisten den Magen zusammen. »Kommen Sie schon. Ich glaube mir ist vorhin klargeworden, wo Ihre Tochter sein muss. Wir können sie finden!«

»Dann erst recht. Sie müssen meine Tochter retten! Wenn wir hier beide sterben, gibt es keine Hoffnung mehr. Also beeilen Sie sich!«

Pfeiffer biss sich auf die Lippe. Das durfte nicht wahr sein! Das durfte einfach nicht wahr sein!

»Schnell!«, donnerte Berger.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schob Pfeiffer sich zurück in den Schacht.

Die Lagerhalle lag still und verlassen da. Mit einem Mal ertönte ein ohrenbetäubender Knall und eine Feuersbrunst riss das Gebäude förmlich auseinander. Die Höllenmaschine war losgegangen.

Marlene war erneut kurz vor der Verzweiflung. Die junge Frau hatte seit ihrer Entführung kaum etwas gegessen oder getrunken und fror furchtbar an der kalten Betonwand, an der sie sich aufgesetzt hatte. Zum dutzendsten Mal zerrte sie an ihren Fesseln, doch diese wollten kein bisschen nachgeben. Sie wollte schreien vor Verzweiflung, doch auch das war nicht möglich. Ihr Blick streifte angstvoll über die grauen Wände. Sie musste irgendetwas tun, schoss es ihr durch den Kopf – sich irgendwie beschäftigen, damit sie nicht den Verstand verlor, und sei die Beschäftigung auch noch so unsinnig. Sie suchte im Raum, ob es irgendeine winzige Auffälligkeit gab und erblickte eine Ecke, wo die Wand etwas brüchig schien

Marlene rutschte hinüber und sah sie sich etwas genauer an. Dann wandte sie der Stelle den Rücken zu und betastete sie mit den Händen. Es ließen sich vielleicht tatsächlich kleine Stücke herausbrechen! Nach dem sie die Stelle eine Zeitspanne, deren Länge sie nicht bestimmen konnte, bearbeitete hatte, schaffte sie es, mehrere kleine Stücke herauszubrechen und kam zu ihrer Überraschung mit dem Finger auf der anderen Seite heraus. Die Wand war viel dünner, als sie gedacht hatte. Es musste eine Trennwand innerhalb des Gebäudes sein. Marlene wandte sich um und legte sich seitlich auf den Boden, sodass sie den kalten Grund an ihrer Wange spürte. Sie spähte durch das kleine Loch und erschrak. Hinter der Wand befand sich ein identischer Raum und darin saß eine Frau, die so wie sie gefesselt und geknebelt war. Sie erkannte die Frau sofort, und wäre sie in den letzten Tagen in der Lage gewesen, die Nachrichten zu sehen, wäre sie noch überraschter gewesen. Es war Maria!

© H.al-Rawi / A. Harun al Rawi

Marlenes Gier

Bergers Frau fiel die Kaffeetasse aus der Hand. Die Scherben ließ sie achtlos liegen, die Spritzer auf ihrem Sonntagskleid hätten in diesem Moment nicht belangloser sein können. «Woher kennst du die Frau?» Keine Reaktion seitens der Herren. «Richard, sieh mich gefälligst an!»
Ihm schoss ihre Frisur durch den Kopf, das graue Kostüm, die akkurate Frisur und ein vertrauenerweckendes Lächeln. Nichts mehr war davon übrig, nur noch ein Häufchen Elend, abgelegt wie ein Stück Müll.
Pfeiffer fasste sich als Erster. «Frau Bermberg-Lotz ist …»
«… die Person, weswegen du mir die Krawatte mit den €-Zeichen geschenkt hast.» Berger sah seiner Frau immer noch nicht ins Gesicht. «Du weißt doch, das Aktiengeschäft. Ich wollte damit unser Reisebüro ein wenig in Schwung bringen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass …»
«… Marlene Bermberg-Lotz jegliche Skrupel fehlten», ergänzte Pfeiffer, der aufgrund seiner Erfahrung als Journalist blitzschnell die Situation begriffen hatte. Unsere Redaktion war schon einige Zeit hinter jemandem her, der im Verdacht stand, nicht nur an der Frankfurter Börse Insider-Geschäfte zu tätigen.
«Ich bin auf sie hereingefallen», gab Richard zu, «der Mann an unserer Haustür hat wohl das Gegenteil angenommen.»
«Red keinen Unsinn. Woher hätte er denn von den Aktien wissen sollen? Außerdem glaub ich dir kein Wort. Frau Berm… wie? Du hast sie beim Vornamen genannt, spontan, ohne nachzudenken. Ich ruf jetzt die Polizei, ganz gleich, wer oder was diese Person ist.»
«Nein, bitte nicht! Denken Sie doch auch an mich. Ich möchte nicht noch eine Frau auf dem Gewissen haben. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie holen jetzt die 10.000,- € aus dem Safe und dann mache ich mich mit ihrem Mann auf den Weg ins Industriegebiet. Wir müssen die Straße suchen, das Gebäude, den Eingang und es ist schon spät. Beeilen Sie sich. Bitte!»
Richard nickte seiner Frau zu.

Susanne Kowalsky