Der Tag hatte noch nicht einmal richtig begonnen als Flusel endlich völlig erschöpft nach Hause kam. Die ganze Nacht war sie draußen unterwegs gewesen und ihrer Aufgabe nachgegangen. Weit war sie diesmal in die Randbezirke vorgedrungen, hatte neue Gebiete erkundet und wäre sogar beinahe entdeckt worden. Für eine kurze und doch für ihr Empfinden unendlich lange Zeit war sie davon überzeugt gewesen diesmal zu weit gegangen zu sein. Niemand hätte sie dort draußen gefunden, wenn ihr etwas passiert wäre. Mal davon abgesehen, daß es wohl sehr lange gedauert hätte, bis man ihr Verschwinden überhaupt bemerkt hätte. Zuhause gab es nur wenige, denen daran lag, daß sie zurückkam – egal in welchem gesundheitlichen Zustand. Und dann auch nur, weil sie die Ergebnisse ihrer Erkundungen hören wollten…. nichts weiter.
Ein eiskalter Schauer rann ihr den Rücken hinunter als sie an die Begegnung heute Nacht zurück dachte. Diese großen gelben Augen, die ihr gefühlt bis auf den Boden ihrer Seele geblickt hatten. Viel hatte nicht gefehlt und sie wären das Letzte gewesen, das sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Sie schüttelte sich, um diese Gedanken und Gefühle endlich loszuwerden, aber auch das gehörte dazu. Sie hatte gewusst worauf sie sich einließ als sie sich mit dem Vorschlag einverstanden erklärte. Seufzend lief sie weiter, ihr Zuhause war endlich in Sichtweite. Sie war mittlerweile so müde, daß sie fast im Gehen einschlief. Schlaf, sie brauchte dringend Schlaf! Da drehte der Wind und sie fügte in Gedanken eine ausgiebige Wäsche ihrer Dringlichkeitsliste hinzu. Das würde sie definitiv noch vorher erledigen, sie stank wie ein Iltis! Kein Wunder, daß man sie vorhin fast entdeckt hätte. Sie mußte in Zukunft wirklich vorsichtiger sein.
Außer ihr hatten nur Wenige die Nacht draußen verbracht. Um diese Zeit war es noch gefährlicher unter freiem Himmel unterwegs zu sein als sonst. Ihre Feinde waren dann am aktivsten und auch sie mußte alle Sinne darauf verwenden, um nicht entdeckt zu werden. Was ihr, wie sie heute zu ihrem Erschrecken hatte feststellen müssen, auch nicht immer ganz gelang. Andererseits war es ihre Aufgabe neue Wege und Pfade zu erforschen, die für die tägliche Nahrungssuche einigermaßen sicher benutzt werden konnten. Der Bereich, den sie heute erkundet hatte war vielversprechend, doch er barg noch zu viele Gefahren. Solange die Wege nicht gesichert waren konnten sie diese Ressourcen erstmal noch nicht nutzen. Sie würde mit Haruzel über die weiteren Vorkehrungen sprechen müssen. Bevor sie also in ihr Zimmer gehen konnte und die verschwitzten Sachen endlich loswurde würde sie mit ihm sprechen müssen. Auch wenn ihm ihre Ausdünstungen bestimmt nicht gefallen würden. Bei Gerüchen reagierte er immer äußerst empfindlich und konnte zur Diva werden. Sie seufzte resigniert, verabschiedete sich also in Gedanken erstmal von einer warmen Dusche und machte sich auf den Weg zur großen Halle. Im Vorbeigehen hörte sie das Getuschel hinter sich. Wahrscheinlich lästerte man mal wieder über ihr Aussehen und ihre Ansicht von Körperhygiene – im Moment zugegebenermaßen tatsächlich ein Grund zum Lästern. Sie straffte die Schultern und ging hoch aufgerichtet und nach außen selbstbewusst weiter. Nur keine Schwäche zeigen.
Wie immer, wenn sie in die große Halle kam, war sie von ihrer schieren Größe überwältigt. Es faszinierte sie immer wieder darüber nachzudenken, wie das alles ohne zusätzliche Stützen hielt. Außer den Säulen an den Seitenwänden der Halle waren keine sichtbaren Träger oder ähnliches erkennbar und dennoch hielt das Dach seit ewigen Zeiten. Erleuchtet von Tausenden von Feuerkäfern war es hier unten fast so hell wie in der Außenwelt. Wie schon so oft nahm sie sich vor darüber einmal mit Haruzel zu sprechen. Sie war sich fast sicher, daß er wußte warum dies so war. Er war ein wandelndes Lexikon und überraschte sie immer wieder mit seinem Wissen.
Flusel blieb schließlich in einem der Seitengänge, die in die Halle mündeten, stehen und beobachtete erstmal das Geschehen, das sich vor ihr ausbreitete. Die Streckenabgrenzungen und -geräte für das tägliche Training standen bereits aufgebaut an ihren Plätzen und wurden je nach Können in den unterschiedlichen Bereichen genutzt. Abends wurde soweit möglich alles wieder abgebaut, damit der Bereich zur allgemeinen Nutzung zur Verfügung stand. Eine Ecke allerdings war immer für die Kleinsten reserviert. Durch einen stabilen Zaun vom übrigen Bereich abgetrennt war hier ein sicherer Kinderbereich geschaffen worden, in dem jeden Tag die Kleinsten betreut wurden. Sie mußte lachen, als sie sah wie eines davon mit einer kindlichen Verbissenheit versuchte, einen Stein zu erklimmen um ein anderes von eben diesem herunter zu schubsen. Immer wieder rutschte es ab, landete unsanft auf dem Hintern, rappelte sich auf und versuchte es erneut. Während der König des Steins davon gar nichts mitbekam, weil er angestrengt Richtung Tisch starrte auf dem gerade der Morgenbrei in Schüsselchen verteilt wurde. Seiner Figur nach war er stets der erste und beste Abnehmer. Und er würde schneller dort sein als er im Moment noch dachte, denn sein kleiner Widersacher hatte es endlich geschafft den Stein zu erklimmen und stieß den verdutzen Steinkönig von seinem Thron. Sie konnte nicht sagen, wer von den Beiden überraschter war.
Sie schmunzelte immer noch als sie sich wieder dem Trainingsbereich zuwandte. Sie selbst war beim Training nicht erwünscht, das waren Frauen noch nie gewesen. Dennoch hatte sie eine besondere Kampfausbildung erhalten, wenn auch nur im Geheimen. Nur zwei andere wussten von ihren dadurch erlernten Fähigkeiten und ihrer sonderbaren Gabe. Einer davon war Haruzel. Sie blickte sich suchend in der Halle um und entdeckte ihn schließlich. Sie wollte schon zu ihm hinübergehen als sie mitten in der Bewegung innehielt und hastig wieder in den Schatten zurücktrat, um nicht gesehen zu werden.
Ihr Herz kam einen Moment aus dem Takt. Neben ihm stand Flatul! Sie würde warten, bis er gegangen war. Zu oft schon hatte er sie mit seinem durchdringenden Blick von oben herab angesehen, sie fast abfällig behandelt und ihr mehr als einmal allzu deutlich zu verstehen gegeben was er von ihr hielt. Und sie damit jedes Mal härter getroffen als er auch nur ahnte. Irgendwie zog sie Schwierigkeiten immer magisch an und von all den Männern hier mußte sie sich ausgerechnet in ihn verlieben. Dabei war es einfach aussichtslos, wenn sie an sein Verhalten ihr gegenüber dachte. Nie würde er in ihr etwas anderes sehen als die nutzlose Frau, die sich nicht wie alle anderen verhielt, sondern ihm die Stirn bot und oft unterwegs war ohne daß jemand wußte wo sie war.
Sie schalt sich eine Närrin, fuhr mit Tränen in den Augen herum und lief eilig zu ihrem Zimmer. Haruzel würde auf ihren Bericht warten müssen bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie wollte sich erstmal waschen und schlafen. In ihrem jetzigen Zustand war sie viel zu angreifbar…. und verletzbar.