Einspruch Euer Ehren. Und zwar in Bezug auf „komplette“. Die Weitergabe der Geschichte des eigenen Volkes und der Familie oblag denen, die die Ahnengeschichten selbst erzählt bekamen und welche die jüngere, zurückliegende Geschichte selbst erlebt hatten. Quasi ein Volks- oder Familiengedächtnis. Da wurden Geschichten so weitergegeben wie man sie selbst erzählt bekommen hatte. Klar, dass sich der Stil und auch gewisse Einzelheiten im Laufe der Jahre änderten - nicht jeder kann Geschichten erzählen, aber im Kern bleiben sie erhalten und da rührte auch keiner dran.
Bei den meisten religiösen Texten lege ich da meine Hand nicht ins Feuer. Sie wurden extra oftmals als Mär angefertigt, um unwissendes Volk in eine bestimmte Richtung zu konditionieren. Hier liegt natürlich keine Improvisation vor, sonder eher Hinterlist.
Wer will das schon? Aber ich muss da mal minmal intervernieren.
Im Gegensatz zu anderen religiösen Schriften, ist die Bibel die Einzige, die auch auf die Schwächen und Fehler einiger Herrscher eingeht. Normalerweise - auch in anderen historischen Schriften - wird gelogen, dass sich die Balken biegen, König X war toll, siegreich und gerecht. Kein Wort wahr. In der Bibel wird ein König erwähnt - den Namen ad hoc vergessen -, der scharf auf die Ehefrau eines Offiziers war. Und da er anders nicht an die Dame herankommt, schickt er ihn an die Front, wo er dann auch stirbt. Unter anderem war die Existenz von Herodes Antipas wissenschaftlich nicht nachzuweisen, bis man vor etwa 20 Jahren in Jerusalem eine Steinplatte umdrehte und sich die Aussage der Bibel bestätigte. Gott sei Dank bin ich Atheist, also ist das für mich nicht so relevant. Trotzdem sehr interessant.
Hier gibt es die gleiche Problematik. Am Lagerfeuer hat man eher verschwiegen, dass Uropa ein Arsch war. Was sollen sonst die Nachbarn denken?
Im Zusammenhang mit fiktiv oder nicht fiktiv ein echtes Problem. Welches ich glücklicherweise nicht habe. Die Grundlagen der mündlichen oder getanzten, gesungenen Weitergabe erscheint mir im Kern sicherlich glaubwürdig, ist jedoch kaum zu überprüfen. Je älter die Weitergabe, desto schwieriger die Überprüfung.
Im Jahre 1000 kamen in Europa einige Herrscher auf die irre Idee, den Zeitpunkt der Geburt Jesu Christi einfach mal eben 1000 Jahre später anzusiedeln. Allein aus dem Grunde, weil sie gerne in der Zeit, in der der Heiland auf die Welt kam, regiert hätten. Es wurden einige Schriftstücke dahingehend verfälscht. Die Idee wurde jedoch wieder verworfen.
Der König war David und die Dame hieß Bathseba.
Ja die Geschichtsklitterung ist so alt wie die Menschheit. Da haben ägyptische Pharaonen die Namensglyphen ihrer Vorgänger „ausradiert“ (mit Hammer und Meißel) um dann ihre eigenen eingravieren zu lassen. Das wurde so krass gehandhabt, dass es bis heute schwierig ist, eine vernünftige Chronologie des ägyptischen Geschichte hinzubekommen.
Dazu kommt natürlich, dass Geschichte oftmals mit religiösen Anschauungen verziert wurde. Dafür steht die germanische Geschichte Pate. Nachträgliche Vergötterungen gibt es ja in fast allen Historien der Völker.
Ich dachte da mehr an die Aufzählungen rückwärts in den Familiengeschichten. Beim Uropa ist ja meistens Schluss. Da waren unsere Vorfahren etwas rühriger und konnten die Ahnenreihe relativ weit zurückerzählen. Je exklusiver und blaublütiger die Familie, desto weiter ging es rückwärts in der Geschichte.
Letztens einen Podcast mit Benjamin von Stuckrad-Barre gehört und er trug eine Textpassage aus dem Lied “Du trägst keine Liebe in dir” vor. Das hatte schon was.
Klar, aber sie wurden in den wenigsten Fällen bzw. gar nicht aufgeschrieben und vorgelesen. Geschichten (meist biblische) abschreiben und vorlesen war vor Martin Luther bzw. Gutenberg allein der Kirche vorbehalten. Ob sie korrekt abgeschrieben wurden ohne dass etwas hinzugefügt oder weggelassen wurde, steht im wahrsten Sinne des Wortes auf einem andern Blatt, wie Du ja auch sagst.
Aber eine mündliche Wiedergabe von dem, was Oma und Tante erzählt haben, ohne schriftliche Belege, ist für mich im weitesten Sinne improvisiert und entsprechend “fehleranfällig”, was Faktengenauigkeit angeht, auch wenn sie - das sehe ich wie Du - “im Kern” erhalten blieben. Auf diese Weise wurden ja auch Märchen jahrhundertelang von einer Generation an die nächste mündlich weitergegeben, bis sie dann irgendwann mal von den Gebrüdern Grimm aufgeschrieben wurden.
Aber ich muss zugeben, dass der von mir gewählte Ausdruck “komplette Kultur” nicht das trifft, was ich meine - “komplette Unterhaltungskultur” trifft es besser, also das, was sich auf Jahrmärkten, in Schaubuden und ähnlichen Orten abspielte an Theater und Musik. Da gab es zwar bestimmte Vorgaben und Rahmenbedingungen, festgelegte Figurentypen (z.B. in der Commedia dell’arte) mit entsprechenden Verhaltensmustern, aber das Spiel selbst war frei improvisiert, ohne Text- oder Notenvorlagen.
Ach, mir war’s eine Freude, dass mal wieder jemand den Preis gekriegt hat, mit dessen Werk ich auch was anfangen kann …
Aber natürlich sind und waren die Entscheidungen der Nobelkomitees immer umstritten, und bestimmt oft zu Recht. Aber etwas muss nicht mit Preisen überhäuft werden, um Literatur zu sein. Es muss nicht mal gut sein, um Literatur zu sein – es gibt ja auch schlechte Literatur. Aber dass Lieder Literatur sind, ist meines Erachtens schwer zu bestreiten: Was sollen sie denn sonst sein? Musik? Die Melodie ist Musik, aber ein Lied ohne Text ist nun mal kein Lied, sondern ein Instrumentalstück. Ergo haben wir es mit einem Zwitter zu tun, einem Grenzgänger zwischen den Künsten – halb Musik, halb Literatur.
Ganz nebenbei bemerkt: Lieder zu schreiben ist so ziemlich die einzige Möglichkeit, mit Lyrik eventuell richtig Geld zu verdienen.
Klappt leider auch nicht. Mein Mann macht seit 45 Jahren Musik. Er hat u. a. mal in einer ProgRock Band gespielt, die in der Szene einen gewissen Bekanntheitsgrad hat. Ein Auftritt in Bordeaux war sehr erfolgreich (Akzeptanz beim Publikum) und vor einem Plattenladen in Bordeaux haben sich die Leute vor der Abendveranstaltung Autogramme geben lassen. Die haben deshalb vor dem Plattenladen Schlange gestanden. Was hat das monetär gebracht? 0,00 DM.
Er hat in vielen Bands gespielt. Immer mit live-Auftritten und eigenen Songs, immer erfolgreich. Bis auf 1 Mal. Was hat es gebracht? 0,00.
Ja. So wird es wohl sein.
Ich glaube auch, dass der Musikmarkt noch schwieriger ist, als der Literaturmarkt. Ganz sicher jedoch ist Musik deutlich aufwändiger zu produzieren - Demoband, Auftritte, bei Bands Kollegen finden, die mit Dir harmonieren, Proberäume oder verständnisvolle Nachbarn, bei Radiosendern Klinken putzen, da kommt einiges zusammen. Auch finanziell, gute Instrumente kosten Geld dito die Räumlichkeiten, etc.
Als Autor brauchst man einen PC, ein gutes Schreibprogramm, viel Zeit und Nerven und einen geduldigen Partner. Und auch dieser Markt ist riesig. Kohle spielt aber beim Verfassen eines Buches nicht so eine große Rolle, die Grundinvestition ist überschaubar. Ein guter Freund, verehrte Suse, produziert auch seit Jahren und Jahren. Er macht alleine Mucke, spielt aber auch in mehreren Bands, seine Texte, seine Videos sind witzig, meiner Meinung nach stimmt alles. Wenn man das unter Hobby deklariert, ist das okay, aber Geld verdienen? Kaum machbar.
Lieder sind musikalisch begleitete Gedichte.
So sehe ich das auch.
Ohne Musik wäre mein Leben schwer denkbar, machen, hören - das brauche ich sehr.
Ohne Lyrik hingegen käme ich klar, sie würde mir zwar fehlen, aber nicht so wie ein Bruder, eher wie eine angeheiratete Cousine zweiten Grades.
Ich geb dir Recht, Andreas, manchmal fragt man sich schon, was das Komitee geritten hat, gerade diesen oder jenen Autor prämiert zu haben.
Aber ich habe doch etliche der Preisträger der letzten zwei, drei Jahrzehnte gelesen und schätzen gelernt.
Denke da z.B. an: Die große, große Toni Morrison, Günter Grass, egal, was er mit 17 Jahren für Nazi-Unsinn im Kopf hatte, Imre Kertész, Elfriede Jelinek, deren Prosa - nicht ihre Dramen - ich heiß liebe, Orhan Pamuk, Doris Lessing, mit ihrem goldenen Notizbuch, Alice Munro, die keinen einzigen Roman schrieb, aber deren KGs ich geradezu verschlungen habe und natürlich auch den eigenwilligen Peter Handke.
Liedertexte sind natürlich auch Literatur, wenngleich ich mich bei manchen frage, worin die literarische Aussage besteht.
Es war auch einmal Leonard Cohen im Gespräch für den Nobelpreis. Der hat immerhin in seinen jungen Jahren ein oder zwei Romane geschrieben, wenn ich mich nicht irre.
LG, Manuela
Für mich ist das bildende Kunst. Auch die Schlacht von Hastings auf dem Teppich. Hier wird mit Bildern eine Geschichte erzählt. Es gibt auch Kirchen, in denen die Bibelgeschichten als Bilder an die Wände oder Decken gemalt wurden. Die meisten Leute konnten früher ja nicht lesen. Moderne Form ist der Comix.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bildende_Kunst
Literatur ist alles, das mit Schriftzeichen oder schriftzeichenähnlichen Zeichen (Hieroglyphen) dargestellt wird.
https://de.wikipedia.org/wiki/Literatur
Ja. Ein bekannter Verseschmid war Shakespeare. Liedtexte sind mit Gedichten verwandt, weil sie auch auf der Versform aufbauen.
Da stimme ich grundsätzlich zu, nur bei Instrumentalstücken, die aus dem Kreis und von einem „rumänischen Nomaden“ gespielt werden, bin ich mir nicht so ganz sicher. Gerade bei solchen Stücken meine ich immer, die Geige würde auf ihre Art etwas erzählen: Schmerz, Sehnsucht etc. Das heißt für mich: Melodie kann für gewisse Aussagen stehen, genauso wie ein Wort. Oder wie siehst Du das?
Um es jetzt richtig kompliziert zu machen:
Es gibt ja die berühmten „Lieder ohne Worte“ von Felix Mendelssohn Bartholdy. Für Klavier, solo.
Da könnte man natürlich die Frage diskutieren, worum es sich bei dem nicht existierenden Text handelt - aber ich glaube, das führt jetzt zu weit…
Smetana-Die Moldau, eine musikalische Bilderreise. Für mich dennoch definitiv keine Literatur.
Nun, es gibt keine Kunstform, in der finanzieller Erfolg garantiert wäre. Aber es gibt Kunstformen, in der finanzieller Misserfolg garantiert ist, und die Lyrik gehört dazu. Zwar überdauern gute Gedichte mühelos die Jahrhunderte, gehen in die Volkssprache ein, werden Zitate und was weiß ich, nur verkauft kriegt man sie nicht. Selbst Lyrikbände ganz großer Dichter waren und sind immer Zuschussgeschäfte, die sich Verlage aus anderen als aus pekuniären Gründen leisten.
Bei Liedern gibt es zumindest die Chance auf kommerziellen Erfolg, mag sie auch klein sein (und gegenwärtig eher schrumpfen).
Grundsätzlich ist aber in jedem Fall so, dass, wessen Ziel das Geldverdienen ist, die Künste meiden und lieber Unternehmer werden sollte.
Das ist wohl wahr.
Würde ich trotzdem der Musik zurechnen, da ich der altmodischen Auffassung bin, Literatur müsse was mit Worten zu haben. Ich gebe aber gern zu, dass man den Wunsch, die Dinge sauber in Kästchen einzuordnen, auch übertreiben kann und die Grenzbereiche zwischen den Kategorien oft sehr spannend sind.
Denn: Spielt es eine Rolle, wie es einsortiert ist? Wichtig ist doch nur, dass/ob es gefällt. Bewegt. Ergreift.
“Peter und der Wolf” von Prokofjev ist für mich eine Bilderreise. Jedes einzelne Instrument verkörpert deutlich hörbar ein Tier. Diese Töne erzeugen Emotionen und Bilder. Man muss beim Genuß dieser Musik ja nicht einmal die Augen öffnen. Wenn das keine Literatur ist, dann vielleicht begleitende Literatur? Es ist müßig und genau genommen volkommen unerheblich.
Ich stimme Dir unumwunden zu, verehrter AndreasE.
Wieso sollte man alles eintüten, Zettel druff und ab in die Schublade? Vieles ist eben Crossover und es entstehen ständig z. B. neue Musikrichtungen wie Ska, Scat oder Rap. Entscheidend: Gefällt oder gefällt nicht, das ist entscheidend. Für mich.
“Krieg und Frieden” vom guten Leo Tolstoi ist überhaupt nicht mein Fall, aber wer bin ich, der die Kategorien festlegt? Eben.
Und wieso dann überhaupt Kategorien?
Liebe Suse, singe, schreibe songs, male etwas Schönes, etwas nicht so Schönes, Ausdruckstarkes, Banales - es ist egal.
Es muss in erster Linie Dir gefallen, egal, was auf dem Etikett steht.