Kurzgeschichte Mira (leichte Gruselgeschichte)

Hallo, hier eine neue Kurzgeschichte von mir.

Es ist als Epilog meines Buches gedacht und soll den zweiten Band anteasern (ob ich das wirklich so mache, weiß ich noch nicht). Die Geschichte spielt an einem Ort namens Halbstein. Das ganze Buch über ging es darum, dass die Protagonisten quasi den Auftrag/Befehl hatten, diesen Ort aufzusuchen. Doch mit jedem Handlungsfortschritt entfernen sie sich davon immer mehr. Hier erfährt man, was sie dort aufgefunden hätten:

(Es ist etwas lang, also würde ich es hier noch als separate Textdatei reinstellen, falls dies jemanden lieber ist)
Mira.pap (30,0 KB)

Feedback würde mich natürlich sehr freuen :sweat_smile: Aber in erster Linie hoffe ich, dass ich den ein oder anderen damit gut unterhalten hab. Also los gehts:

Es gab Jahre, da war die Lage schlimmer. Viel schlimmer vielleicht, wenn man den alten Geschichten Glauben schenkte. Aber das war lange her, und wer wusste schon, was davon wahr war und was das lallende Gefasel betrunkener Greise.
Geredet wurde viel, vor allem von den Alten. Je länger sie am Feuer hockten, je mehr Becher Wein sie kippten, desto kühner wurden ihre Erzählungen. Monster in den Wäldern, Winter, die selbst Steine sprengen konnten, Männer, die lebendig erfroren und doch weiterwanderten. Irgendwann lachte niemand mehr.
Er war nun schon mehrere Jahre hier. Sein vierter Winter in der Festung, und die Kälte biss schärfer als je zuvor. Frost und Eis nagten an ihnen, aber das eigentliche Problem war der Schnee.
Seit Wochen waren sie von den übrigen Siedlungen abgeschnitten. Auch das passierte in manchen Jahren, sagten die Alten mit einem Achselzucken. Anfangs hatte er ihnen geglaubt. Doch inzwischen konnten sie ihm nichts mehr vormachen. Ihre Worte klangen hohl, ihre Blicke sagten die Wahrheit. Sorgenfalten gruben sich in ihre wettergegerbten Gesichter, und in ihren Augen schlummerte eine Angst, die sie nicht benannten.
Nein, die Lage war schlimm. Es gab nichts mehr zu beschönigen.
Halbstein lag abgelegen, ein verlorener Fleck auf der Welt, weit entfernt von den nächsten Dörfern. Hier oben, wo das Firmament am Horizont hing wie eine kalte Messerklinge, waren die Winter lang und hart. Sie hatten sich vorbereitet, wie jedes Jahr.
Dieses Jahr reichte es nicht.
Zuerst gaben sie die großen Türme auf. Es waren nur zwei gewesen. Der eine war schon vor Menschenaltern zur Hälfte in sich zusammengestürzt und diente nun als Waffenkammer und Lagerhaus. Der andere ragte noch auf, ein einsamer Zahn aus schwarzem Stein. Ein Aussichtsturm, aber wonach sollten sie noch Ausschau halten?
Dann wurden die ersten Männer krank. Nichts Ungewöhnliches, dachten sie. Ein wenig Fieber, unruhiger Schlaf. Doch bald reichte das Krankenzimmer nicht mehr aus, also brachten sie die Kranken in die Gemeinschaftshalle. Die Halle, in der sie aßen. In der sie lebten.
Nichts Ernstes, sagten sie sich. Nichts, was nicht jedes Jahr geschah.
Als kurz darauf klar wurde, dass ihre Vorräte an Holzkohle und Feuerholz nicht reichen würden – nicht diesen Winter –, zogen sie alle in die Halle.
Dann starb der Erste von ihnen, lautlos, ohne Kampf, ohne ein letztes Wort. Er wachte einfach am nächsten Morgen nicht mehr auf.
So was passiert.
Noch am selben Tag brachten sie ihn hinaus und legten ihn in die Erde. Das Holz für ein Feuer war zu kostbar, also gruben sie das Loch tief genug. Es reichte. Es musste reichen. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an, nicht kameradschaftlich, nicht ehrenvoll. Schlugen ihm den Kopf ab, damit er nie wieder aufsteht.
Die Verabschiedung war leise. Eine böse Vorahnung schwebte über ihnen, als sie im frostigen Hof standen und auf das Loch zu ihren Füßen hinabschauten. Sechs Männer hatten es mit Schaufeln und Spitzhacken gegraben, ein Tag harter Arbeit für einen einzigen Toten.
Ihr Hauptmann gestattete ihnen am Abend einen Becher starken Rotwein. Ein kleines Geschenk, ein Hauch von Gnade. Für gewöhnlich war der Wein nur zum Kochen oder wurde stark verdünnt getrunken. Jetzt brannte er warm in ihren Kehlen, schmolz für einen Moment die Kälte aus ihren Knochen. Trotz des Verlustes breitete sich ein behagliches Gefühl in ihnen aus, eine Lüge, die sie für einen Abend glauben wollten.
Einer der Männer erzählte eine lustige Geschichte, die er mit dem Verstorbenen erlebt hatte. Ein paar Lacher, gedämpft, als wäre das Eis über ihnen zu dünn, um zu viel Gewicht zu tragen. Am Ende des Tisches würfelte eine Gruppe um ihre Morgenration von gewässertem Wein.
Dann hustete einer von ihnen.
Olaf.
Er war schon den ganzen Tag still gewesen, in sich gekehrt wie ein Mann, der ein Geheimnis trägt.
Er hustete laut und lang. Zu lang.
Immer mehr verstummten sie, die Würfel blieben liegen, die Geschichte endete im Nichts. Alle Blicke richteten sich auf Olaf. Der Husten wollte nicht enden, kratzte und riss an ihm, als würde etwas in seiner Brust zerspringen.
Dann löste sich etwas.
Zuerst dachten sie, es wäre bloß Hustenschleim. Doch dann kam das Blut.
Und noch etwas anderes. Etwas Dunkles, Faseriges.
Lungengewebe, sagte einer der Alten.
Niemand wusste, woher er das glaubte. Vielleicht war es Blödsinn. Vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle mehr.
Das Gesicht ihres Hauptmanns wurde hart wie gefrorener Stein.
Er beendete den geselligen Abend. Nicht, dass noch jemandem nach Reden zumute gewesen wäre.
Da wussten sie bereits, dass etwas im Argen war. Das wussten sie schon, bevor der Zweite zu husten begann.
Er hustete kein Blut, er spuckte keine Fetzen seines Inneren auf den Boden. Aber es ging ihm schlechter. Sie legten ihn in eine dunkle Ecke, so weit weg wie möglich.
Er verzog das Gesicht, wenn eine Fackel zu nah kam. Duckte sich zusammen, wenn jemand sprach. Licht und Geräusche schienen ihn zu schmerzen.
Der Hauptmann musste nicht erst sein Zahnfleisch sehen, um zu wissen, was sie längst alle ahnten.
Rotröcheln.
Das kam vor. Nicht oft, aber oft genug, dass jeder von ihnen die Geschichten kannte. Ein schlechtes Zeichen. Selten blieb es bei einem einzigen Kranken. Es gab Erzählungen von ganzen Dörfern, ganzen Festungen, die binnen Tagen ausgelöscht wurden.
Schauermärchen, sagten sie sich.
Trotzdem.
Danach ging alles schnell.
Ihr Hauptmann entschied, dass sie zu Bett gehen sollten. Es war spät, sie konnten nichts tun. Am nächsten Morgen würden sie die Vorräte begutachten. Dort, im halb verfallenen Turm, lagerten noch gesalzene Fleischstücke, getrocknete Äpfel, eingelegte Früchte – genug, um den Winter zu überstehen. Selbst wenn das Fleisch in der Küche verdorben war, dort draußen lag es sicher, eingefroren in der Kälte.
Erst viel später kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht am Wasser gelegen haben könnte.
Am nächsten Morgen war ihr Hauptmann tot. Und mit ihm drei andere.
Keiner hatte einen Laut von sich gegeben. Keiner hatte um Hilfe gerufen.
Mehrere andere wurden schwächer, wankten, aber hielten sich noch auf den Beinen. Sie konnten einfache Arbeiten verrichten, doch ihre Gesichter waren eingefallen, ihre Augen stumpf.
Sie waren noch etwa dreißig Männer.
Die meisten kräftig. Entschlossen. Ein paar müde, angeschlagen. Zwei von ihnen würden die nächste Nacht nicht überleben.
Er kann sich noch gut an den Augenblick erinnern. Wie sie um den großen Tisch standen. Wie sie sich gegenseitig Mut zusprachen, Pläne schmiedeten. Wie sie beschlossen, weiterzumachen.
Dann kehrten die Männer vom Turm zurück. Keiner musste aussprechen, was sie gefunden hatten.
Ihre Gesichter sagten alles.
Und trotzdem hatte er sich zwei, drei Männer geschnappt und war selbst hinausgegangen.
Die große Tür des Turms war eisenverstärkt, massiv, aus alten Eichenbohlen. Niemand konnte sie ohne Werkzeug aufbrechen. Und trotzdem lagen die Bretter vor seinen Füßen.
Nicht zerschlagen. Nicht aufgebrochen.
Zerfetzt.
In Hunderten Splittern und Spänen. So etwas hatte Korren noch nie gesehen. Kein Beil, keine Axt, kein Werkzeug hätte so etwas anrichten können.
Aber das war nicht das, was die Männer sprachlos gemacht hatte. Nicht die zerschmetterte Tür. Nicht die unheimliche Art, wie sie zerstört worden war.
Es war die völlig leere Vorratskammer.
Nichts. Kein gesalzenes Fleisch. Keine getrockneten Früchte. Keine Säcke mit Getreide.
Nur Kälte. Nur Leere.
Sie würden diesen Winter nicht überleben.
Nicht sie alle gemeinsam. Nicht mit dem wenigen, das ihnen blieb. Und was sie noch hatten, war vermutlich schlecht. Vielleicht hatte es sie überhaupt erst krank gemacht.
Der Entschluss, den sie dann fassten, kam ihnen unausweichlich vor.
Sie teilten sich auf. Zwei Gruppen, je zehn Mann. Die eine Hälfte würde sich nach Süden kämpfen. Die andere nach Osten. Dort lagen die nächstgelegenen Dörfer.
Der Weg war weit. Unter normalen Umständen hätte sich niemand auf einen solchen Marsch eingelassen.
Notwendigkeit trieb sie an.
Kühl und besonnen hatten sie ihren Plan besprochen. Ohne große Worte. Jeder wusste, was ihn erwartete. Der lange Marsch durch den Wald. Die Kälte, die in die Knochen kroch. Der Schnee, der jeden Schritt zur Qual machte.
Ob sie die Dörfer erreichen würden, wusste niemand.
Noch am selben Tag brachen sie auf. Zurück in der Festungsruine blieben fünfzehn Mann. Zehn von ihnen zu schwach zum Gehen.
Die meisten schliefen den ganzen Tag. Andere lagen wach, aber konnten sich kaum auf den Beinen halten. Die übrigen fünf blieben bei ihnen. Um sie zu versorgen. Um sie sterben zu sehen.
Korren war einer von ihnen.
Sie hatten eine notdürftige Tür zur leeren Vorratskammer gezimmert. Kein guter Schutz. Nur ein Versuch, die Dinge zu ordnen. Dort lagerten nun die Toten.
Niemand sprach es aus, aber sie wussten es alle, niemand würde Gräber ausheben.
Der Boden war hart wie Stein. Und bald wären es zu viele. Und doch, Olaf lag nicht dort. Niemand sagte es laut, aber sie alle waren überrascht.
Er lebte noch. Er wirkte schwach, aber sein Husten hatte aufgehört.
Zuerst hatte sich Korren darüber gefreut, dass es Olaf mit jedem Tag etwas besser zu gehen schien. Er saß wieder aufrecht, rieb sich die Arme, als wolle er Leben in seine Glieder zurückholen, und seine Haut hatte nicht mehr die wächserne Blässe der anderen Kranken.
Er lag nicht mehr, sondern saß im Halbdunkel aufrecht in seinem Bett und sah ihnen zu.
Nicht nur das.
Nach einiger Zeit fiel Korren auf, dass es kein bloßes Beobachten war.
Olaf starrte.
Er verlor sie keine Sekunde aus den Augen. Sein zuvor fiebriger Blick war nun klar. Klar und eiskalt. Kein Laut kam von ihm. Und das Essen auf seinem Teller rührte er nicht an.
Die meisten der Kranken siechten dahin. Aber Olaf war anders.
Er wurde stärker. Kräftiger. Wacher.
Und mit ihm zwei andere. Auch sie saßen aufrecht. Auch sie aßen nicht. Auch sie sprachen kein Wort. Auch sie starrten.
Ohne ein Blinzeln. Ohne Regung. Ohne jeden Funken Menschlichkeit.
In dieser Nacht schlief Korren mit seinen Männern zum ersten Mal am anderen Ende der Gemeinschaftshalle.
Als er zu später Stunde aufstand, um zu pissen, fiel sein Blick auf die andere Seite des Raumes.
Sie saßen immer noch da. Reglos.
Die Dunkelheit machte ihre Gesichter zu Schatten, doch ihre Augen … Ihre Augen schimmerten im fahlen Licht der Glut. Vielleicht war es Einbildung. Vielleicht hatte er selbst Fieber.
Korren wusste längst, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Aber in diesem Moment wusste er, dass dies nicht mehr seine Kameraden waren.
Etwas Feindseliges lag in ihren Blicken. Etwas Unheimliches. Etwas, das ihn frieren ließ.
Zweimal sandte Korren einen Mann aus, um zu jagen. Zweimal kehrte einer nicht zurück. Zuerst der Jäger. Dann der, den sie ausgesandt hatten, um nach ihm zu suchen.
Er erließ einen Befehl. Jede Nacht würde einer von ihnen Wache stehen.
Die Tatsache, dass er es überhaupt für notwendig hielt, diesen Befehl zu geben, beunruhigte ihn.
Noch beunruhigender war nur, dass niemand widersprach.
Einer schlief. Einer wachte. Einer arbeitete und versorgte die Kranken. So lange es noch ging. Die armen Schweine bluteten aus den Ohren, aus der Nase, aus dem Mund. Das Fieber fraß sie auf, ließ ihre Körper zittern und ihre Augen ins Leere starren.
Jede Bewegung war eine Qual. Jedes Geräusch ein Stich ins Fleisch. Fast alle hatten mehrere Zähne verloren, ihre Fingernägel wurden schwarz wie verkohltes Holz.
Niemand kümmerte sich noch um Olaf und die beiden anderen Starrer.
Aber das schien sie nicht zu berühren.
Dann wurde auch er krank.
Er merkte es, als sein Atem zu heiß wurde, seine Glieder zu schwer. Und erst da begann er, seine beiden Kameraden genauer zu beobachten. Er sah, wie der eine plötzlich einen schlurfenden Gang hatte. Wie der andere fahrig wurde, abwesend, als hätte ihm jemand das Licht hinter den Augen ausgeblasen.
Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie sich zu den Kranken legen konnten.
Und niemand würde sich um sie kümmern. Oder vielleicht würde es Olaf tun.
Korren wusste nicht, welcher der beiden Gedanken ihm mehr Angst machte.
Dann kam das Mädchen.
Das schwarzhaarige Mädchen mit den blassblauen Augen und der Haut so fahl wie Schnee. Sie stand eines Abends einfach da. Mitten in ihrer Halle.
Still. Regungslos. Eine scharfe Narbe teilte ihr Gesicht, zog sich über Wange und Nase bis zum Kinn.
Wie in aller Welt war sie hier hereingekommen? Er hatte sie nicht gehört. Niemand hatte sie gehört.
Aber zuletzt war alles rätselhaft.
Korren fragte sich, wie das Mädchen hierhergekommen war. Warum. Aber vor allem fragte er sich woher.
Das Mädchen war ihm nicht geheuer.
Manchmal war es nicht so unheimlich wie Olaf. Manchmal war es noch schlimmer.
Aber ihn kannten sie zumindest. Sie wussten, wer er einst gewesen war. Und an das Starren hatten sie sich inzwischen etwas gewöhnt.
Auch das Mädchen starrte sie an. Aber anders als die anderen.
Ihr Blick war nicht leer oder leblos, nicht wie der von Olaf. Sie musterte sie, beobachtete jede ihrer Bewegungen, aufmerksam und berechnend, wie ein Raubtier, das auf den richtigen Moment wartete.
Zu Korrens Überraschung blieb sie nicht bei ihnen. Sie kam und ging, lautlos, als wäre sie nie wirklich da gewesen. Manchmal verschwand sie für Stunden, manchmal für einen ganzen Tag. Doch sie kehrte immer zurück.
Diese Augenblicke nutzte Korren, um seine Männer zu bedrängen. Sie mussten das Mädchen fortschicken, es verjagen, die Türen verschließen. In seinen Gedanken erschlug er sie sogar, aber davon sprach er nicht. Stattdessen redete er auf die anderen ein, unermüdlich, fast flehend.
Mit ihr stimmt etwas nicht, sagte er. Kein Kind läuft hier draußen allein herum. Nicht hier, wo es nichts gibt. Wovon hat sie gelebt? Woher kommt sie? Warum sagt sie nichts? Warum starrt sie nur?
Und warum kehrt niemand von ihren Männern zurück?
Doch seine Kameraden waren zu müde, zu schwach, um sich Gedanken zu machen. Die Kälte, der Hunger und das Fieber hatten sie stumpf gemacht. Korren ließ nicht locker, redete weiter, drängte sie, so lange, bis er glaubte, sie überzeugt zu haben.
Dann kam das Mädchen zurück.
Mit Fleisch in den Händen.
Keiner fragte, woher es stammte. Keiner wollte es wissen. Der Hunger war zu groß. Sie hätten es ihr roh aus den Fingern gerissen, wären sie nicht so entkräftet gewesen.
Das Fleisch war seltsam. Der Geschmack metallisch, der Geruch fremd. Und die Farbe … nicht das Rot, das sie kannten. Es war kein Wildschwein. Kein Reh. Und zu groß für Kaninchen oder Eichhörnchen.
Aber sie aßen es trotzdem.
Auch Korren.
Auch die Kranken.
Dann zog sie los, um Weiteres zu holen.
Die Männer, mit denen Korren so lange gedient hatte, waren gute Männer gewesen. Gewiss, jeder von ihnen hatte seine Eigenheiten. Wer zu lange auf Halbstein lebte, bekam sie früher oder später. Doch sie waren eine Gemeinschaft, sie hatten aufeinander aufgepasst.
Jetzt schien es niemanden mehr zu kümmern, dass die Männer, die sie losgeschickt hatten, nicht zurückkamen. Niemand fragte nach den Jägern. Niemand wunderte sich, warum die Kranken immer schwächer wurden, obwohl sie nun jeden Tag Fleisch bekamen.
Sogar Korren.
Er wurde nur … beseelter.
Und mit jeder Stunde erschien ihm das alles normaler.
Nein. Nicht nur normal.
Beim Erbauer. Es erschien ihm richtig.
Korren hatte sein eigenes Spiegelbild im Wasser gesehen, als er sich wusch. Für einen Moment glaubte er, eine Leiche starre ihn an.
Er verfluchte das Mädchen. Und seine Männer gleich mit.
Er wollte wissen, woher sie das Fleisch hatte. Er wollte wissen, woher sie kam.
Er schrie sie an. Brüllte. Warf einen Becher nach ihr.
Einer der Männer versuchte, ihn zurückzuhalten, doch Korren stieß ihn fort. Nicht einmal mit voller Kraft, nur ein Reflex – aber der Mann fiel. Und blieb lange liegen.
Das Mädchen aber? Es sah ihn nur an. Kein Wort. Keine Regung.
Und doch hatte er das Gefühl, sie hätte ihm eine Antwort gegeben. Nächsten Morgen, sagte ihr Blick.
Er sollte sie begleiten.
Das war gestern gewesen.
Jetzt verlassen sie die Festung. Der Schnee ist hart unter seinen Stiefeln, die Luft kalt in seinen Lungen. Das erste Sonnenlicht fällt fahl durch die kargen Äste.
Das Mädchen geht vor ihm her, lautlos wie ein Geist. Ihre Fußspuren sind klein und eng beisammen.
Korren fühlt sich elend.
Er hatte sie angeschrien, sie verflucht, und doch war sie es, die sie alle am Leben hielt.
Er will sich entschuldigen. Sagt es auch, während sie nebeneinander durch den Schnee stapfen. Aber sie reagiert nicht.
Natürlich nicht. Und doch hofft er für einen winzigen Moment, dass sie innehält. Dass sie sich umdreht. Dass sie ihn ansieht. Vielleicht sogar lächelt.
Aber sie geht weiter.
Sie führt ihn zu einer Lichtung. Korren kennt diesen Ort. War hier ein paar Mal gewesen. Weiter in diese Richtung gibt es nur Wald, Wald und noch mehr Wald.
In der Mitte der Lichtung steht ein Baumstumpf.
Auch an den erinnert er sich. Ein Blitz hatte ihn zerschmettert, und am nächsten Tag hatten sie den Baum gefällt. Es war eine verdammte Heidenarbeit gewesen, das Holz nach Halbstein zu schleppen.
Jetzt liegt Schnee um den Stumpf. Dunkel und verschmutzt.
Korren tritt näher, und mit einem Mal begreift er. Hier hat sie das Fleisch zerlegt.
Warum nicht in der Festung? Dort hätten sie ihr helfen können. Ein Gedanke, der sich wie ein kalter Nagel in seinen Hinterkopf bohrt.
Er fragt sich nicht, womit sie das Fleisch zerlegt hat.
Er sieht den Blätterhaufen ein paar Schritte entfernt. Ihre Fußspuren führen hin und zurück, immer wieder, viele Male.
Dort also. Dort hat sie die Überreste vergraben.
Sie folgen anderen Fußspuren, die sich zwischen den Bäumen verlieren und schließlich auf eine kleine Höhle zulaufen.
Korren bleibt stehen. Diese Höhle … Er war nie hier gewesen. Ohne die vielen Abdrücke im Schnee hätte er sie wohl auch übersehen.
Er versteht.
Hier also. Hier hat sie ihr Lager. Der Blätterhaufen ist vergessen.
Er zündet eine Fackel an, oder versucht es. Seine Finger sind taub, zittern in der eisigen Luft. Immer wieder versagt er, flucht, knurrt, aber die Flamme will nicht kommen.
Dann tritt das Mädchen neben ihn.
Sie hilft ihm.
Ein kleiner, fast nicht wahrnehmbarer Moment – und doch erwischt es ihn kalt, als sie ihm die brennende Fackel zurückreicht … und dabei leicht lächelt.
Kaum merkbar. Aber immerhin.
Er wartet. Sucht in ihrem Gesicht nach etwas, das er deuten kann. Irgendwann hebt sie leicht das Kinn und deutet auf den Höhleneingang.
Natürlich. Er hat die Fackel. Er soll vorangehen.
Korren schluckt, dann setzt er sich in Bewegung.
Die Höhle ist schmal, niedrig. Er muss sich tief bücken, und an einer Stelle kriecht er fast auf den Knien. Die Enge drückt auf seine Brust. Das Mädchen folgt ihm lautlos.
Erleichterung durchzuckt ihn, als er erkennt, dass der Gang nicht tief ist.
Eine Kurve – und dann ein größerer Raum. Ihr Lager.
Doch kaum schiebt sich sein Körper durch die Enge, überkommt ihn eine Kälte, die nichts mit dem Winter draußen zu tun hat.
Etwas ist hier. Etwas, das nicht sein sollte.
Korren will zurückweichen. Doch das Mädchen hinter ihm stößt ihn vorwärts.
Nicht stark. Nicht grob.
Dann sieht er es.
Er kann hier stehen, der Raum ist groß genug. Er könnte seine Hand ausstrecken, die Decke gerade einmal berühren.
Doch sein Blick bleibt an den Wänden hängen.
Der Blätterhaufen. Die dunklen Flecken im Schnee. Er hatte es vorher schon gewusst.
Dicke Wurzeln ragen aus Stein und Erde, und an ihnen baumeln nackte Körper.
Manche unversehrt.
Andere gehäutet.
Einem fehlt ein Bein, einem anderen ein Arm.
Die Kälte hat sie bewahrt. Kein Wundbrand. Keine Verwesung.
Korren würgt. Die Gesichter.
Manche verzerrt vor Schmerz. Andere mit stummem, offenem Mund, die Augen aufgerissen in ewigem Erschrecken.
Seine Männer.
Der Jäger. Der Mann, den sie ausgeschickt hatten, um nach ihm zu suchen. Sowie andere. Jene, die zur nächsten Siedlung aufbrechen wollten.
Jetzt hängen sie hier.
Keiner von ihnen hat je das nächste Dorf erreicht.
Er reißt den Blick von den Körpern los, dreht sich um – und starrt direkt in die kaltblauen Augen des Mädchens.
Sie lächelt. Nicht verspielt. Nicht triumphierend. Ein eiskaltes, totes Lächeln.
Es steht im Widerspruch zu dem, was er fühlt. Denn es ist warm. So warm und wohlig, dass es ihn verwirrt.
Er blickt an sich hinab.
Blut rinnt aus seinem Bauch, sickert durch seine Kleidung, tropft auf den gefrorenen Boden. Das Messer steckt bis zum Schaft in ihm.
Die Hand des Mädchens ist tiefrot, fast schwarz. Warum spürt er nichts?
Doch noch in dem Moment verlässt ihn die Kraft. Seine Knie sacken weg, er taumelt.
Das Mädchen tritt einen Schritt näher – als hätte sie genau das erwartet. Sie greift nach seinen Haaren. Langsam, ganz ruhig.
Dann zieht sie seinen Kopf nach hinten.
„Warum?“, krächzt er.
Für einen Moment erstarrt ihr Gesicht. Etwas bewegt sich in ihren Zügen, als würde sie nachdenken. Ein Funke, ein Schatten.
Dann spricht sie. Leise. Als wäre es die einfachste Wahrheit der Welt.
„Weil ihr uns nicht geholfen habt.“ Ihre Stimme ist rau. Älter, als sie sein sollte.
Korren schluckt, Blut sammelt sich in seinem Mund.
„Wem?“, flüstert er. „Wer bist du?“
Er weiß, wie absurd es ist, noch zu fragen.
Das Mädchen sieht ihn an. Dann sagt sie nur ein einziges Wort.
„Mira.“
Das Messer gleitet an seine Kehle. Es ist das gleiche schartige Ding, mit dem sie draußen am Baumstumpf …
Dann ein Ruck.
Und dann sieht er nichts mehr.

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Alle Achtzig, Lazy, das ist gut!
Dir gelingt es, sehr rasch eine beengende finstere Spannung aufzubauen, die einen gewaltigen Sog in die Geschichte entwickelt. Man kann nicht aufhören, weiterzulesen.
Allerdings wirkt das ab der Hälfte etwas langatmig. Wer ist dieser Korren eigentlich? Wer sind seine Kameraden? Was ist der Grund ihres Aufenthaltes in dieser unwirtlichen Gegend? Da hätte ich gerne mehr Infos . Dafür etwas weniger Anspielungen an diverse Monster. Da lauern mir zu viel verschiedene davon: Zombies, Werwölfe, Kannibalen. Weniger ist manchmal mehr.
Gleiches gilt für die vielen Punkte im Textfluss, die ich persönlich zumindest zur Hälfte gegen Beistriche getauscht hätte. Sehr kurze Sätze halten zwar das Tempo hoch, aber auf Dauer, und vor allem, wenn dann lange nichts wirklich passiert, wirken sie etwas bemüht. Oder so, als ob du die Geschichte in die Länge ziehen willst, weil du nicht weißt, wohin sie führt. Fürchtest du dich gar vor dem unausweichlichen Ende ? Es wäre verständlich.
Aber das sind Kleinigkeiten. Nimm etwas Schleifpapier, Körnung 180 und geh noch mal drüber. Die geheimnisvolle Mira lass aber so. Immerhin, die hat ein Messer. Vorsicht vor den Bad Girls, Mann!

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Yeah, Danke

Ja, ich denke das Schwafeln ist meine größte Schwäche. :see_no_evil:

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@LazyBastard
Die beklemmende Stimmung fängt mich sofort ein. Es ist ein Ort, an dem ich nicht sein möchte.

Ich finde, Gschichtldrucker hat auf den Punkt gebracht, was ich auch so empfunden habe. Im ersten Teil verwendest du viele sehr kurze Sätze, die gefühlt Geschwindigkeit erzeugen, jedoch findet kaum Handlung statt.

Zur Story:

Man ahnt die ganze Zeit, was/ wer gegessen wird und ist trotzdem berührt, wenn man mit Korren in der Höhle steht und die Toten sieht.

Warum geht er entgegen seinem Bauchgefühl mit ihr in die Höhle? Die ganze Zeit denke ich, verdammt nein, geh nicht mit!

Ich finde es gelungen und sehr spannend geschrieben. Meine Neugier ist auf jeden Fall geweckt.

Fazit: Alle Daumen hoch, gefällt mir

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Ich finde die Geschichte toll.

empfinde ich sie als etwas anstrengend, weil immer alles Schlag auf Schlag berichtet wird. Mir fehlen da auf Dauer manchmal ruhigere, fließendere Passagen zum Ausgleich im Text.
Aber das ist nur eine winzige Kleinigkeit und nur mein persönlicher Geschmack. Ich würde die Geschichte kaufen. Ich finde sie toll und auch wirklich gut geschrieben.

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Zu allererst: Mir gefällt die Geschichte auch richtig gut. Du bringst hier einen satten Gruselfaktor, bei dem jegliche Action außen vor bleibt. Toll, wenn sowas so gut gelingt!
Der abgehackte Schreibstil ist dafür natürlich perfekt geeignet, er hält die Spannung hoch und ‚hangelt‘ sich von Satz zu Satz, man ahnt und vermutet als Leser zunächst zwar jede Menge, erfährt aber nur das Allernötigste.

Ja, das habe ich mir auch gedacht, ein paar mehr Infos wären hier schön gewesen.

Ein bisschen in die Länge gezogen finde ich es auch, man könnte da ein paar Stellen etwas straffen. Muss aber nicht viel sein.

Der Schluss erinnert mich etwas an klassische Horrorfilme: Die Heldin geht alleine in das Spukhaus/das unheimliche Zimmer/das gefährliche Wasauchimmer, von dem der Zuschauer genau weiß, das wird tödlich enden. Also warum geht sie entgegen jeglicher Logik alleine da rein? :wink:

Egal, hier finde ich es irgendwie passend, auch wenn ziemlich klar war, wo das Fleisch hergekommen ist. Insgesamt eine spannende und in sich stimmige Sache, noch ein bisschen Feintuning, und es ist richtig super.

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Dieses Straffen ist mein Nemesis. Ich hab es schon drei, viermal überarbeitet und gestrafft :rofl: :see_no_evil:

Mein Tipp: Ausdrucken und alle fraglichen Stellen mit schwarzem Edding markieren!

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:rofl: :rofl: :rofl: