Hallo liebe Leute,
nachdem ja Karfreitag ist, dachte ich ich stell eine neue Kurzgeschichte von mir über die Ostertage rein. Sie hat einen losen Zusammenhang mit meiner Kurzgeschichte Mira (oder auch: Halbstein), welche ihr hier finden könnt:
Während „Mira“ als Prolog zu meinem Buch gedacht ist, soll „Lena“ einen Epilog bilden und einen Ausblick auf das Kommende geben. Das Ende hin - nur als Warnung - ist leicht obszön. Das ist bewusst so gehalten und ich habe mich bemüht, eine Grenze nicht zu überspringen und bin gespannt, ob mir das so gelungen ist. Es ist etwa ein Absatz, zwei oder drei Sätze und vieles liegt in der Phantasie des Lesers.
Eine weitere Warnung: es ist recht lang, also stell ich das noch als pap-Datei hier herein, falls jemandem das lieber ist.
Lena.pap (32,1 KB)
Und jetzt genug der langen Rede, los gehts:
Eris hatte sein ganzes Leben in diesem Dorf verbracht. Manche in der Gegend nannten es Mühlbach, doch ein Wandermönch hatte einst gesagt, dass es gar keinen Namen trüge. Nicht einmal auf den alten Karten sei es verzeichnet, als hätte die Welt selbst vergessen, dass es diesen Ort je gegeben hat.
Vielleicht war das der Grund, warum sich nie Fremde, Reisende oder Händler hierher verirrten. Und selbst wenn das bedeutete, dass man für jeden noch so nichtigen Bedarf eine Tagesreise zum nächsten Markt antreten musste – mit schmerzendem Rücken und wunden Füßen – beklagte sich niemand. Die Menschen in Mühlbach liebten die Abgeschiedenheit, die Einfachheit und den gleichmäßigen Rhythmus, mit dem die Tage dahinzogen, wie der Bach draußen an der alten Mühle, leise murmelnd zwischen den Feldern.
Eris war keiner von den Alten, sondern einer der wenigen jungen Männer im Dorf und der Gedanke, bald eine der ebenso wenigen jungen Frauen zu heiraten – jene, die er seit Kindertagen kannte –, erschütterte ihn nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Es genügte ihm nicht nur, es stellte ihn zufrieden.
Ginge es nach ihm, nach seinen Freunden, den Nachbarn und den Ältesten, dann war es ihr größtes Glück, dass hier niemals etwas geschah, und genauso so sollte es auch bleiben.
Es war kurz nach Eris‘ zwanzigstem Geburtstag. Die Zeit rückte näher, in der er seine Gefährtin wählen sollte – als dann alles anders kam.
Der rote Mond war noch nicht lange am Nachthimmel, dieses Jahr früher als sonst, und die alten Männer waren wie üblich damit beschäftigt, Sensen zu schleifen und Dreschflegel herzurichten. Anna und Marta, die beiden Schwestern, stritten wie in jedem Frühjahr an jeder Ecke des Dorfes darüber, wann die Zeit für bunte Türkränze aus Frühlingsblumen gekommen sei. Doch wie jedes Jahr würden es die alten Weiber sein, die bestimmten, wann die zornigen Götter milde gestimmt und die Dunklen vertrieben werden mussten.
Vielleicht war es die Rache des anderen Gottes – des Einen, den die Mönche den Erbauer nennen –, der das Verderben über ihr Dorf brachte.
Aber was war Mühlbach schon? Ein kleines Bauerndorf, verloren zwischen sanften Hügeln am Rand des dunklen Waldes. Welcher ferne Gott sollte sich für einen Ort interessieren, der kaum auf der Welt zu existieren schien?
Die Weiber sahen ihn zuerst.
Sie standen wie immer am Dorfplatz, wo der alte Brunnen mit seiner moosgrünen Steinumrandung still vor sich hin tropfte. Dort, wo sie sich trafen, um zu tratschen und zu lästern, während die Greise daneben im Schatten saßen und ihre Pfeifen mit Rotkraut stopften.
Zuerst war er nur eine schwarze Silhouette am Horizont - reglos auf den Hügeln oberhalb des Dorfes. Einer nach dem anderen hob den Kopf, drehte sich, bis schließlich jeder Blick auf ihn gerichtet war. Ein Wanderer ohne Pferd, ohne Gepäck, der fehl am Platz wirkte, wie ein Fehler in einem Bild.
Wer ist dieser Mann?, fragten die einen. Warum steht er dort?, flüsterten die anderen.
Längst hatte sich das halbe Dorf beim Brunnen versammelt, und als der Mann sich endlich in Bewegung setzte, ging ein falscher Hauch von Erleichterung durch die Reihen. Sie waren nicht glücklich darüber, dass er sich langsam und bedächtig auf ihr Dorf zubewegte – aber sie waren dankbar, dass er aufgehört hatte, sie anzustarren. Als würde er auf etwas gewartet haben.
Wie dumm sie doch waren.
Er war ein Mann mittleren Alters, vielleicht schon darüber hinaus. Der Staub der Straße und die Müdigkeit verwischten die Linien in seinem Gesicht, machten es schwer, sein Alter zu schätzen. Er trug eine abgewetzte Kleidung, die einst vielleicht eine Uniform gewesen war – jetzt aber war sie nur noch ein schäbiges, löchriges Schwarz, überzogen mit dem matten Schleier von Zeit und Verfall.
Ein Deserteur, schoss es Eris durch den Kopf und obwohl er, wie die meisten im Dorf, kaum etwas über die Welt jenseits der Hügel und Wälder wusste, war selbst ihm klar, dass solche Männer gefährlich sein konnten.
Doch das Gesicht des Fremden war eingefallen, der Körper schien schwach. Wieder fiel Eris auf, dass er keinen Proviant bei sich trug, keine Ausrüstung, nicht einmal einen Beutel. Seine Bewegungen waren langsam, seltsam schleppend. Ja, sein Verhalten war merkwürdig, sein Blick unangenehm – aber er war nur einer und sie waren viele. Warum also sollten sie sich fürchten?
Er grüßte nicht.
Stattdessen ließ er seinen Blick langsam über sie gleiten, sah jedem einzeln in die Augen – lang, beharrlich, als würde er dort nach etwas suchen. Einige der Kinder begannen zu wimmern und wichen zurück.
„Brauchst du ein Zimmer?“, fragte Liesbeth, deren Mann vor wenigen Sommern bei einem Unfall ums Leben gekommen war, und die seither die Wirtschaft mit unbeugsamer Entschlossenheit allein führte. „Ich hab keines. Nur eine Gaststube“, stellte sie klar. „Gastrecht hin oder her.“
Der Fremde reagierte nicht. Kein Nicken, kein Wort, als hätte er sie gar nicht gehört.
„Wir wollen nicht unhöflich sein“, sagte der alte Josefz nach einer langen Stille – und klang dabei alles andere als freundlich. Mit ausgestreckter Hand deutete er auf die Hügelkette hinter dem Dorf. „Aber wir wollen hier keine fremden Leute.“
„Fremde bedeuten Probleme“, knurrte der alte Barthel, und Martin, der Fischer, pflichtete ihm lautstark bei. Inzwischen war das halbe Dorf versammelt.
„Wie heißt du?“, fragte dann ausgerechnet Lena – Eris‘ Lena –, die er morgen beim Reigen um ihre Hand bitten wollte. Bald schon wäre sie seine Frau gewesen, wie es der Brauch verlangte. „Wie lautet dein Name?“
„Lass das, Lena!“, fuhr Anna sie an, und Marta nickte eifrig dazu. Der dumme Streit um die Blumenkränze war vergessen, jetzt standen sie Seite an Seite. „Wir wollen, dass er verschwindet. Nicht wahr? Hast du gehört? Verschwinden sollst du!“
Doch der Mann schenkte weder Lena noch den beiden schrillen Schwestern einen Blick. Stattdessen griff er ruhig in seine Manteltasche und holte ein paar Münzen hervor. Ein lautes Klimpern, und es war deutlich zu hören, dass dort noch mehr waren.
„Ich hab auf meinem Hof ein freies Gemach“, sagte dieser verfluchte Orrick und griff mit einem schiefen Grinsen nach den Münzen.
Niemand war überrascht – der hagere Bauer war schon immer gierig gewesen. Was hingegen überraschte, war die Reaktion des Fremden.
„Man nannte mich Olaf“, sagte er nur.
Keiner bemerkte den kleinen, aber entscheidenden Unterschied. Nicht: Ich heiße Olaf, sondern nur: Nannte man mich.
Doch in diesem Moment achtete niemand darauf. Der Fremde nickte Orrick zu, und der machte sich eilig mit ihm auf den Weg, als fürchtete er, jemand könnte ihm diesen Fang noch entreißen.
Orricks Hof lag außerhalb des Dorfes, auf einem kleinen Hügel und viele spotteten, er habe sich den Platz nur ausgesucht, um besser auf sie herabblicken zu können.
Die Veränderung dort oben kam langsam und schleichend. Zuerst viel auf, dass nur der Fremde zu sehen war. Stundenlang stand er still vor den Gebäuden, ohne etwas zu tun. Er zog so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass es eine Weile dauerte, bis jemand merkte, dass weder Orrick noch seine Frau, ja nicht einmal der Knecht oder eine Magd je wieder gesehen worden waren.
Später sah man vom Dorfplatz aus, wie das Unkraut in den Gemüsebeeten wucherte, wie der Hof zu verfallen begann. Das passte nicht zu Orrick, diesem pedantischen Geizkragen, der sonst selbst das Wachstum der Brennnesseln kontrolliert hätte.
Nein, vermisst hatte ihn eigentlich niemand, und doch fehlte er ihnen auf eine seltsame Weise. Das Bier in Liesbeths Stube schmeckte noch schaler als nach dem Tod ihres Mannes, die Männer würfelten leiser, und das Lachen blieb ihnen öfter im Hals stecken, als ihnen lieb war.
Es waren Martin, der Fischer, und Jakob, der Bauer, die eines Abends beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Ja, der Hof mochte Orrick gehören, aber das hier war ihr Dorf. Und wenn sich dort ein Fremder einnistete, dann geht das jeden etwas an.
Ein Fremder, der bleibt, ist immer eine Gefahr, meinten sie.
Einnisten – genau dieses Wort spukte ihnen allen im Kopf herum, doch niemand sprach es laut aus. Ebenso wenig wagte jemand zu sagen, was längst jeder dachte: Dass es sich nicht nur um einen Fremden handelte, sondern um einen unheimlichen. Und jeder von ihnen hoffte insgeheim auf den Tag, an dem dieser endlich das Weite suchte.
Ein paar andere schlossen sich Martin und Jakob an. Marja etwa, die neugierige Magd von Jakobs Hof, und auch Franz, der junge Heißsporn, der entschlossen war, der Sache auf den Grund zu gehen – notfalls mit den Fäusten.
Sie kamen früher zurück, als Eris erwartet hatte, und Bestürzung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Was sie erzählten, pflanzte sich wie ein stummes Unbehagen auf die anderen in Liesbeths Stube über.
Ja, sie hatten Orrick und seine Frau gesehen, aber er war kaum wiederzuerkennen: ungewohnt still, fast abwesend. Am schlimmsten war aber die Stille auf dem Hof selbst.
Kein Gegacker der Hühner, kein Muhen der Kühe. Nicht einmal die Hunde hatten angeschlagen, als sie sich näherten.
Doch das eigentlich Verstörende kam erst zum Schluss – der Fremde war nicht mehr allein.
Ein paar weitere Männer hatten sich in Orricks Hof eingefunden, irgendwann in der Nacht, lautlos, wie Schatten, die niemand rief. Sie waren da. Einfach da.
Franz meinte, er habe drei gezählt, Marja nur zwei, doch in einem waren sie sich einig: Diese Männer starrten. Sie starrten, als wären sie eine Schlange, reglos vor dem Sprung.
Martin, der ohnehin nie zur Ruhe kam, sagte, er habe es kaum erwarten können, von dort wieder fortzukommen. Die Kälte sei ihm den Rücken hinaufgekrochen, und seine Knie würden noch jetzt zittern, wenn er nur an die Männer dachte.
Keiner widersprach ihm, niemand lachte darüber. Franz nickte nur stumm, und Jakob legte ihm schweigend die Hand auf die Schulter.
In den Tagen danach begannen Dinge zu geschehen, über die man bewusst hinwegsah, blind aus Angst oder aus Trotz.
Die Hühner fraßen ihre eigenen Eier, die Hunde schlichen nur noch mit eingekniffenem Schwanz über den Platz, und von den Katzen fehlte jede Spur. Sie hatten wohl Reißaus genommen, und die Ratten und Mäuse waren ihnen gefolgt.
Dann geschah es doch.
Die Idylle, die so langsam und leise zerbrochen war, dass niemand sagen konnte, wann es begann, fiel mit einem Knall. Und selbst dieser war, im Nachhinein betrachtet, kaum mehr als das Prasseln der ersten Regentropfen eines heraufziehenden Sturms.
Es war am Tag des Erbauers, vor der kleinen Kapelle. Ohnehin war nur noch die Hälfte des Dorfes erschienen – auch das eine jener Wahrheiten, über die man schwieg.
Ohne jede Vorwarnung begannen die Schwestern Anna und Marta vor der Kapelle zu schreien, packten sich gegenseitig am Haar, rangen wie Besessene und es brauchte mehrere Männer, um sie auseinanderzureißen. Es sei um einen Laib Brot gegangen, hieß es später.
„Nimm ihn mit, zu deiner Hure von Mutter!“, brüllte Anna und warf das Brot Marta vor die Füße. Die schlug zurück, mit Fäusten und blind vor Wut. Als die Leute schließlich den Platz verließen, brodelten Wunden, die nichts mit den Schlägen zu tun hatten.
Die Schwestern waren nicht die Einzigen, die sich seltsam verhielten. Der alte Barthel verließ seine Hütte nicht mehr, sondern stand den ganzen Tag am Fenster, die Stirn gegen das Glas gedrückt, den Blick starr nach draußen gerichtet. Einmal, als Eris ein lautes Geräusch vom Dorfplatz hörte und nachsehen ging, warf er einen Blick zu Barthels Hütte und sah ihn noch immer dort stehen.
In der Nacht. Regungslos.
Dann war da noch die Sache mit Marja, der jungen Magd von Bauer Jakob. Sie stellte einen dampfenden Topf Suppe auf den Tisch, sah die anderen an und blickte durch sie hindurch, als wären sie Fremde.
„Ich habe keinen Hunger“, sagte sie leise und rannte plötzlich davon, direkt in den Wald. Stunden später erst kehrte sie zurück. Sie setzte sich hin und löffelte den ganzen Topf allein aus, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Seitdem sprach sie kaum noch und in ihren Augen lag ein fiebriger, irrer Glanz, als würde sie etwas sehen, das kein anderer sehen konnte.
Nach und nach schoben sie nachts den Riegel vor, den sie sonst nie brauchten. Die tratschenden Weiber lächelten sich nur noch flüchtig zu, aber tratschten nicht mehr. Es wurde stiller im Dorf, die Stimmen leiser, die Blicke vorsichtiger.
Der zuvor so stille Hof von Orrick schien hingegen an Leben zu gewinnen, obwohl man von den Tieren nach wie vor nichts hörte. Kein Laut, kein Geräusch.
Dafür begannen nun immer mehr Dorfbewohner, den Hof zu besuchen. Marja war eine der Ersten, gefolgt von Anna und Marta, dann Benno, der Müller, und Lorenz, der Schuster.
Der alte Barthel, so waren sich alle einig, musste der Erste gewesen sein. Er war wohl heimlich in der Nacht zum Hof gegangen, inzwischen machte die halbe Dorfgemeinschaft kein Geheimnis mehr daraus.
Und dann waren da noch die anderen Geschichten, beunruhigende. Tote Hühner in einer Scheune, nicht geschlachtet, sondern einfach erschlagen. Dort sollten sie liegen und verfaulen, hatte man gesagt. Und obwohl niemand sah, dass die Fremden je etwas aßen, keine Felder bestellten, kein Gemüse einholten, schien ihnen der Hunger nichts auszumachen.
„Warum gehst du zu den Fremden rauf?“, fragte Liesbeth eines Abends Benno, als sie ihm das Bier hinstellte. „Schämst du dich denn nicht?“
„Er ist kein schlechter Mensch“, sagte Benno ruhig. „Er ist höflich und freundlich.“
„Und seine Freunde?“
„Die auch.“
Als Eris ihn nach Orrick und dessen Frau fragte, lächelte Benno nur, dieses leere, milde Lächeln, als hätte er die Frage nicht verstanden. Dann zahlte er, ließ sein Bier unangerührt stehen und verließ die Stube. Er kehrte nie wieder zurück.
Die Männer waren gerade einmal zwei Wochen im Dorf, und doch war es inzwischen Eris, der sich hier wie ein Fremder fühlte. Die nächste Andacht an den Erbauer fiel aus, zu wenige waren bei der letzten gekommen, und die Worte, die nun durch Stuben und Hütten geisterten, ließen selbst im Hochsommer ein Frösteln aufkommen.
„Er bringt die Wahrheit“, sagten die einen. Und die anderen murmelten, man müsse sich endlich von den alten Wegen lösen, sie seien schon viel zu lange im Dunkeln gewandelt.
Alte Wege. Neue Wahrheiten.
Bei diesen Worten wird Eris schlecht. Fast ebenso wie bei dem Gedanken, dass nun auch Lena zum Hof ging. Sie habe gesagt, sie würden ihnen jetzt das Licht zeigen.
Die Fremden hatten nie Reden gehalten, und doch trugen sich ihre Worte durch das Dorf, als wären sie geflüstert worden in dunklen Ecken, von Mund zu Mund, von Herz zu Herz. Aber diese Worte waren falsch. Verdorben.
So wie die Menschen, die sie einst kannten. Sie hatten sich längst verändert, verwandelt in Hüllen, die mit gehässigen Blicken auf sie herabsahen und mit jedem Tag ein Stück Menschlichkeit verloren.
Es war Zeit zu handeln, und so stehen sie nun hier, in Liesbeths Stube.
Es sind nicht viele, die Eris‘ Ruf gefolgt sind, aber es werden genug sein. Da ist Martin, der Fischer – unruhig und fahrig wie eh und je, aber verlässlich. Genauso wie Josefz, dessen knochige Arme noch immer Kraft bergen. Ihm gegenüber sitzt Jakob, der Bauer, dessen Magd verschwunden ist. Eris ist nicht gut mit ihm ausgekommen, aber Jakobs Wort hatte Gewicht.
Hatte.
Einst waren diese Männer Säulen der Dorfgemeinschaft. Heute sind sie es, die befremdlich angesehen werden.
Eris hatte gehofft, drei oder vier seiner Freunde auf seine Seite ziehen zu können, doch keiner war gekommen. Nicht einmal Lena.
„Seid ihr bereit?“, will er fragen, aber sie haben an diesem Abend schon genug Worte gewechselt. Und es gibt nichts, was die Unruhe vertreiben könnte, die wie ein schweres Tuch über ihnen liegt.
Dort drüben, an der Wand, lehnt eine Heugabel, daneben eine Axt. Doch am schaurigsten wird Eris beim Anblick der Bretter und der Hämmer. Und bei den Fackeln.
Sie hatten sich zugeflüstert, sie würden diese Bastarde ausräuchern, doch in Wahrheit wird heute Nacht der Hof brennen. Und vorher werden sie die Türen und Fenster vernageln.
Das Feuer soll nicht nur die Fremden verschlingen, sondern auch den Schatten vertreiben, der sich über das Dorf gelegt hat. So versprechen es doch die Mönche in ihren Messen, nicht wahr? Wie also könnte das, was sie vorhaben, falsch sein?
Die Sonne ist längst hinter den ausgedörrten Feldern versunken und ein letztes Mal klopfen sie sich aufmunternd auf die Schultern, dann greifen sie zu Werkzeug, Äxten und Heugabeln. Die Nacht der Entscheidung ist gekommen und trotz der Angst, die auch in Eris‘ Brust sitzt, fühlt es sich gut an.
Es fühlt sich richtig an.
Was sich nicht richtig anfühlt, ist die Stille. Nicht die übliche Nachtruhe, sondern eine vollkommene, erdrückende Stille. Kein Knarren, kein Rufen, kein Wind. Nicht einmal der alte Barthel hängt an seinem Fenster.
Stattdessen begleiten sie schwere Nebelschwaden den Hügel hinauf, dicht und träge, wie aus jenen alten Schauergeschichten, die sie sich früher an Winterabenden erzählten.
Als sie an einer Scheune vorbeikommen, denkt Eris an die toten Hühner, aber er muss nicht nachsehen. Der Gestank und die Stille sagen alles.
Sie schleichen um das Hauptgebäude, betreten den großen Hinterhof – und dort steht ausgerechnet Lena. Lächelnd, als hätte sie auf ihn gewartet. Und sie ist fast nackt.
Ihre Brust ist entblößt, der Rock viel zu kurz, an einer Seite fast bis zur Hüfte aufgerissen. Doch es kümmert sie nicht. Weder die Kälte der Nacht noch ihre entblößte Haut scheinen sie zu berühren. Sie steht da, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Trotz der Absurdität des Moments verschlägt es Eris die Sprache. Er hat noch nie die Brüste einer Frau gesehen, abgesehen von jenem Mal, als sie als Kinder den Weibern heimlich beim Baden zusahen.
Aber das hier ist anders.
Diese hier sind schön. Wunderschön. Hübscher, begehrenswerter, als alles, was sich Eris je in seinen Träumen auszumalen gewagt hatte.
Martin oder Jakob stößt ihn an, reißt ihn aus seinem stummen Staunen. Eris blinzelt, will etwas sagen – doch da ist plötzlich eine andere Stimme hinter ihnen.
„Ihr habt lange gebraucht.“
Es ist Benno, alle vier fahren herum.
„Wir dachten schon, ihr kommt nie“, sagt Anna, dann folgt Martas schrilles, viel zu helles Lachen. Es klingt falsch, wie ein Spiel, das keiner mehr versteht.
Wieder drehen sie sich um und sehen die Schwestern aus dem Schatten treten. Und sie sind nicht allein.
In der Dunkelheit regt sich etwas. Gestalten lösen sich aus der Schwärze, eine nach der anderen.
Dort steht Franz, da der alte Barthel, und dann eine junge Frau.
„Marja!“, ruft Jakob, als er seine Magd erkennt, und will zu ihr stürzen, doch Liesbeth packt seinen Arm und hält ihn zurück.
„Wir sollten gehen“, flüstert Liesbeth, doch auf dem stillen Hof tragen sich ihre Worte wie ein Ruf.
„Gehen? Wohin?“, fragt der alte Barthel, lebendiger als je zuvor, mit leuchtenden Augen, die Eris nie an ihm gesehen hat.
„Wollt ihr zurück in die Dunkelheit, wo hier doch das Licht herrscht?“
Alle treten einen Schritt näher. Gleichzeitig. Als hätten sie ein Zeichen gespürt, das nur sie verstehen.
„Sie sind gekommen, um uns neue Wege zu zeigen“, sagt Franz.
Und der Kreis um sie wird enger. Ein Ring aus Fackeln, Gesichtern und Blicken, die nicht mehr denen der Menschen gleichen, die sie einst kannten.
Längst hat Eris erkannt, dass es kein Zurück mehr gibt. Nicht so, wie Liesbeth es gehofft hatte. Keine Flucht, kein Durchschlüpfen. Nur Gewalt – gegen ihre Nachbarn, gegen Freunde, gegen das, was einst Familie war.
Da tritt Lena näher.
Sie stellt sich vor ihn, greift nach seiner Hand – fest, aber sanft.
„Komm mit mir.“
Dann zieht sie ihn zu sich. Ihre Lippen berühren sich, warm, weich, seltsam vertraut. Ein Kuss wie eine Tür, die sich öffnet.
„Wohin?“, haucht er.
Lena führt ihn hinein, und der Bauernhof ist nicht länger ein Ort des Schreckens.
Er ist ein Tempel, ein Ort der Offenbarung. Die Fackeln werfen kein unruhiges Licht, sondern erleuchten endlich die Dunkelheit.
Mit jedem Schritt spürt Eris ein flaues Ziehen in der Magengegend und ein feines Zittern, doch es ist keine Angst. Es ist ein Kribbeln in den Fingern, als wolle etwas aus ihm hervorbrechen – etwas, das all die Jahre in ihm geschlummert hatte.
Lena führt ihn tiefer ins Haus, an einer Stube vorbei, dann an einer weiteren. Und noch einer. Und noch einer. Es geht weiter und weiter, obwohl Eris weiß, dass es in diesem Haus nie so viele Räume gegeben hat.
Die Fenster wirken schief, verzogen, als blickten sie hinaus auf andere Landschaften, oder gar auf andere Welten.
Einmal glaubt Eris, in einer Kammer den geöffneten Leib von Orrick zu sehen. Die Haut ist aufgeschnitten, das Fleisch zur Seite geklappt, als wäre es nie mehr gewesen als eine Hülle.
Er will Ekel spüren, will sich abwenden, würgen, schreien. Doch stattdessen sieht er … Ordnung. Das Blut fließt in ruhigen Linien, die Schnitte sind sauber, überlegt, fast zärtlich. Es ist keine Schlachtung, es ist ein Kunstwerk.
Etwas in seiner Brust zieht sich zusammen, nicht vor Angst, nicht vor Schrecken.
„Du verstehst es, nicht wahr?“
Er hört nur die süße Stimme von Lena, leise wie ein Gebet, spürt den warmen Druck auf Lenas Hand in seiner, sieht nur ihre Brüste – klein und straff, wie sie sich mit jedem Atemzug heben und senken.
Für einen kurzen Moment glaubt Eris zu begreifen. Nicht nur die anderen sind gebannt – auch er. Es ist ihm nicht anders ergangen, er ist genauso verloren.
Nein, flüstert etwas in ihm. Nein, das ist nicht richtig. Das darf nicht richtig sein!
Noch bevor seine Lippen auch nur zu zittern beginnen, steht er da. Plötzlich.
Der Fremde.
Olaf.
Und an seiner Seite seine Freunde.
Die Begegnung kommt so unerwartet, dass Eris bei dem starren, unbewegten Blick zusammenzuckt. Doch Lena legt sanft ihren Kopf an seine Schulter, ihr Arm schließt sich um ihn, ruhig und zärtlich, hält sie seinen Kopf sanft fest. Es gibt kein Zurück mehr. Schon lange nicht mehr.
Längst hat Eris jeden Gedanken an Widerstand aufgegeben. Er lässt es geschehen, lässt den Fremden in seine Augen blicken, tief hinein, bis zum Grund seiner Seele.
Und dann, ganz plötzlich, klingen seine eigenen Gedanken wie Lügen.
Der Fremde ist nicht länger bedrohlich – er war es nie. Wo vorher Tod war, erkennt er nun die Schönheit, er bemerkt, dass das Feuer in den Augen der anderen nicht unheimlich ist, wie er fälschlich dachte, sondern dass es wärmt und einlädt.
Lena lässt seine Hand los, die Fremden treten schweigend zur Seite. Und erst jetzt sieht Eris ihn - den großen Steinblock in der Mitte des Raumes. Ein Altar, roh und kalt, umringt von mehr Kerzen, als ein Mensch zählen könnte. Doch sie flackern nicht, sie brennen still, vollkommen ruhig, ohne Flammen. Im ganzen Hof gibt es keinen einzigen Schatten mehr.
Lenas Rock gleitet zu Boden, völlig nackt legt sie sich mit dem Rücken auf den Altar, zieht die Beine an und gibt sich ihm hin. Eris sieht das feuchte, gierige Glitzern zwischen ihren Schenkeln, spürt, wie sich etwas in ihm regt – ein Hunger, heiß und uralt, der von irgendwoher kommt und doch aus ihm selbst.
Er hatte sie immer begehrt, immer ihren Blick gesucht, ihren Gang verfolgt, ihrer wunderschönen Stimme gelauscht. Doch das sanfte, zaghafte Begehrten von damals weicht einem brennenden Verlangen, das alles in ihm auffrisst.
Er will sie.
Hier. Jetzt. Genau so.
„Ja“, flüstert sie, „wir haben zu lange im Dunkeln gelebt.“
Sie sieht ihn an, durch ihre geöffneten Schenkel hindurch, mit einem Blick, der ihn durchbohrt wie ein Kuss. Dann hebt sie den Finger und deutet ihm, zu kommen.
Und Eris folgt.
Ja, der Wahn hat einen neuen Ort gefunden, und er wird hier nicht enden.
(Ich hoffe, es hat jemand bis zum Schluss gelesen, und es hat unterhalten )