In der Stadt

Ich war wütend! Wütend auf die Schmitt-Schneider, diese unerträgliche Zicke! Sie war die Leiterin der Konfektionsabteilung des Kaufhauses, in dem ich seit ein paar Monaten arbeitete. Wieder einmal hatte sie mich im zischelnden Flüsterton zurechtgewiesen, ich solle gefälligst freundlicher sein zu unseren Kundinnen. Freundlicher! Zu dieser fetten Kuh, die, nachdem sie sich fünf verschiedene Kleider in viel zu kleinen Größen in die Kabine hatte bringen lassen, keines davon kaufte mit der Bemerkung, unsere Auswahl sei ja sehr mäßig und sie würde sich woanders umsehen. Aber vor allem wütend auf mich selbst, weil ich mich zu der Bemerkung hatte hinreißen lassen: „Na dann viel Glück bei Ihrer Figur“, was mir den Rüffel von der Schmitt-Schneider eingebracht hatte. Dabei brauchte ich diesen Job so dringend! Ich konnte es mir nicht leisten, ihn wegen einer Unbeherrschtheit aufs Spiel zu setzen.

Erst einmal brauchte ich eine Auszeit. Ein Blick auf die Uhr zeigte mit, dass meine Mittagspause gleich beginnen würde. Also schnappte ich mir meine Jacke und verkrümelte mich gen Ausgang. Bloß raus hier, raus an die frische Luft!

Draußen herrschte nasskaltes, trübes Wetter, das nicht dazu beitrug, meine Laune zu verbessern, ebenso wenig wie die üppige Weihnachtsdekoration in der Fußgängerzone. Ich nestelte mit nervösen Fingern meine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche, steckte mir eine Zigarette an und tigerte vor dem Schaufenster des Kaufhauses hin und her. Während ich den Rauch tief inhalierte, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich muss mich unbedingt zusammenreißen, sagte ich mir, noch eine Abmahnung und ich werde gefeuert. Das konnte ich unmöglich riskieren, schon gar nicht, wenn Holger wieder einmal nicht pünktlich mit den Unterhaltszahlungen rüberkommen würde, jetzt, kurz vor Weihnachten! Und Jonas wünschte sich so sehr dieses ferngesteuerte Auto, das so unverschämt teuer war. Außerdem war überall von Stellenabbau die Rede, sogar von Werksschließungen. Ich würde bestimmt eine der Ersten sein, die sie rausschmissen. Scheiße! Ich warf die halb aufgerauchte Zigarette auf den Boden und zerrieb sie heftig unter meinen Sohlen.

„Nana, so schlimm?“

Erschrocken sah ich mich um. Die freundliche Stimme kam von einem alten Mann, der nicht weit entfernt vom Eingang des Kaufhauses auf einer Bank saß. Ich hatte ihn schon öfter dort sitzen sehen, allein, mit seiner Thermoskanne, aus der er sich jetzt einen noch dampfend heißen Tee in den Deckelbecher füllte. Das Lächeln in dem bärtigen Gesicht war warm und verständnisvoll, als er mich jetzt mit einer Handbewegung einlud, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen. Innerlich immer noch aufgebracht folgte ich seiner Aufforderung.

„Na, Ärger gehabt? So wie Sie die arme Zigarette malträtiert haben, muss es schlimm gewesen sein, hab ich recht?“

Obwohl mir nicht danach zumute war, musste ich über seine Ausdrucksweise lächeln.

„Ach, nur das Übliche“, antwortete ich. Ich vergrub meine Hände tief in den Jackentaschen. Warum sollte sich dieser Fremde für meine Sorgen interessieren?

„Das Übliche also, aha.“

Der aufmerksame Blick aus den dunklen Augen des alten Mannes ließ mich nicht los und sein verständnisvolles Nicken forderte mich auf, weiter zu erzählen. Keine Ahnung, warum, aber plötzlich sprudelte der ganze Frust aus mir heraus. Wie sehr ich es hasste, immer freundlich und geduldig sein zu müssen, auch wenn die Kundinnen noch so unverschämt waren, wie mir die ständige Kontrolle der Vorgesetzten zusetzte, die Angst, den Arbeitsplatz verlieren zu können, der Druck, nie genug Geld zu haben, um sich auch mal kleine Extras leisten zu können wie jetzt zum Beispiel das Weihnachtsgeschenk für Jonas. Ich weiß nicht, was ich noch erzählte. Irgendwie tat es gut, alles einmal loszuwerden.

Geduldig hörte er mir zu, dieser mir fast völlig fremde Mann, während er seinen Tee trank und ich eine Zigarette nach der anderen rauchte. Irgendwann, als mir bewusst wurde, wie ich da herumjammerte, hielt ich inne.

„Aber was erzähle ich Ihnen das alles“, sagte ich verlegen. „Das interessiert Sie sicher gar nicht.“

„Aber nicht doch! Das interessiert mich sehr!“, erwiderte der Mann. „Wissen Sie, ich interessiere mich für die Menschen.“

Wieder dieses milde, verständnisvolle Lächeln auf dem Greisengesicht. Wie alt mochte der Mann wohl sein, überlegte ich. Fünfundsiebzig, achtzig Jahre? Sein dicker Mantel sah altmodisch, aber sauber und ordentlich aus, ebenso seine übrige Kleidung, die korrekt und solide wirkte. Ich wurde neugierig.

„Und Sie? Warum sitzen Sie bei diesem fiesen Wetter hier auf der Bank? Ich habe Sie schon öfter hier gesehen. Wird es Ihnen nicht langweilig?“

„Nein, ganz und gar nicht! Ich interessiere mich für Menschen, wie gesagt. Ich beobachte sie gerne.“

„Ach ja?“ Unwillkürlich folgte ich seinem Blick. Unablässig strömten Menschen durch die Fußgängerzone, die hier vor dem Kaufhauseingang einen größeren Platz mit einen Springbrunnen und mehreren Sitzgelegenheiten aufwies. „Was ist denn so interessant an ihnen?“

„Wie sie aussehen. Ich wundere mich darüber, wie sie aussehen. Sie sind gut angezogen, haben offenbar reichlich Geld in der Tasche, sie können sich ihre Wünsche erfüllen, sich etwas leisten. Es geht ihnen gut.“

Mein Blick fiel auf einen Mann und eine Frau mittleren Alters, die eilig nebeneinanderher gingen. Offensichtlich ein Paar: sie im modischen kurzen Kamelhaarmantel, er in einer Lederjacke, die mindestens achthundert Euro gekostet hatte, beide mit prall gefüllten Einkaufstüten einer teuren Marke

„Was wundert Sie denn dabei?“, fragte ich.

„Ich wundere mich über ihre Gesichter. Achten sie einmal auf ihre Gesichter!“

Ich konzentrierte mich auf die Gesichter der Passanten. Mir fiel nichts auf. Es waren gewöhnliche Gesichter, hübsche und hässliche, junge und alte. Nichts Ungewöhnliches.

„Ja, und?“

„Sie sehen nicht glücklich aus, fällt Ihnen das nicht auf? Sie müssten doch eigentlich gutgelaunt sein, fröhlich, oder zumindest zufrieden. Besonders jetzt, in der Vorweihnachtszeit. Alles ist so schön geschmückt, so einladend. Die Menschen befinden sich offensichtlich in einer guten Lebenslage, haben Geld, gehen einkaufen. Aber was ich in den Gesichtern sehe, ist Missmut, Gehetztheit, Ungeduld. Und dann der Gang! Sie schlendern nicht, bummeln nicht, sondern sie haben es alle eilig. Sie hasten, ja laufen fast. Selten, dass jemand stehen bleibt, sich in Ruhe ein Schaufenster betrachtet. Sie haben keine Zeit, keine Muße. Als ob sie etwas unentwegt antreibt. Ist das nicht verwunderlich?“

Tatsächlich, jetzt sah ich es auch. Kaum ein frohes oder lächelndes Gesicht, kaum ein Paar, das miteinander sprach. Viele waren allein unterwegs. Irgendwie wirkten alle gehetzt und gestresst.

„Naja, wahrscheinlich hat jeder von ihnen auch seine eigenen Sorgen. Das kann man ja nicht wissen“, wandte ich ein.

„Aber bedenken Sie nur einmal: In diesem Land, hier, in Deutschland, gibt es keine existentielle Not, keinen Hunger, keinen Krieg. Keiner braucht Angst vor Verfolgung und Gewalt zu haben wie in anderen Teilen der Welt. Alles ist geordnet, geht seinen rechtmäßigen Gang. Deutschland ist doch ein schönes, sicheres, reiches Land. Ich verstehe nicht, warum die Menschen nicht zufriedener sind.“

Mit neuem Interesse musterte ich meinen Banknachbarn. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Haut ein wenig dunkler war als gewöhnlich. Sein akzentfreies Deutsch hatte mich nicht vermuten lassen, dass er kein Einheimischer sein könnte.

„Sind Sie nicht von hier, wenn ich fragen darf?“

Ein nachsichtiges Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. Er hatte inzwischen seinen Tee ausgetrunken und verstaute die Thermoskanne in einem Leinenbeutel. Langsam und nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Ich bin inzwischen deutscher Staatsbürger, wenn Sie das meinen. Aber ich stamme aus Syrien.“

Er zog seine Brieftasche aus der Innentasche seines Mantels und holte ein Foto daraus hervor. „Hier, schauen Sie: Das ist meine Familie. Vor zehn Jahren sind wir aus Aleppo geflüchtet. Für uns Christen wurde es dort zu gefährlich. Ich war Lehrer für Englisch und Deutsch, mein Sohn ist Arzt, seine Frau ist Kinderärztin, sie haben beide sofort eine Anstellung gefunden hier. Die beiden Kinder sind hier geboren.“

Ich nahm das Foto in die Hand und betrachtete es. Ein älteres und ein junges Paar, gutaussehend, dunkelhaarig, mit freundlichen Gesichtern, zwei niedliche Kinder, offensichtlich ein Junge und ein Mädchen.

„Eine tolle Familie haben Sie“, sagte ich, als ich ihm das Bild zurückreichte. Ich musste an den politischen Umsturz in Syrien denken, von dem die Nachrichten voll waren.

„Ja“, sagte der Mann mit leiser Stimme, während seine Finger leicht über die Gesichter der Abgebildeten auf dem Foto glitten. „Leider sind sie nicht mehr hier. Sie sind zurück nach Aleppo, dort werden Ärzte dringender gebraucht als hier.“

„Und Sie? Sie sind hiergeblieben?“

Das Lächeln in dem bärtigen Gesicht bekam etwas Trauriges, als er sagte. „Ja, wissen Sie. Jemand muss doch das Grab meiner Frau pflegen. Das hier auf dem Foto ist sie. Sie liegt hier in der Nähe auf dem katholischen Friedhof begraben.“

„Ach, das tut mir leid“, war alles, was ich herausbrachte.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Erschrocken stellte ich fest, dass meine Mittagspause längst vorbei war. Ich sprang auf.

„Ich muss gehen, meine Pause ist zu Ende. Hoffentlich kriege ich nicht wieder eine Abmahnung.“ Ich reichte meinem neuen Bekannten die Hand. „Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen“, antwortete der Mann aus Syrien, „und denken Sie manchmal daran, wie wunderbar Deutschland ist.“

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Gut geschrieben. Aber etwas weniger Moralinsäure und etwas mehr Recherche über die Situation syrischer Flüchtlinge in Deutschland, hätte nicht geschadet.

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Ich finde du schreibst gut. Der erste Teil hatte mich wirklich … dann wurde es mir inhaltlich zu oberflächlich, zu viel Klischees - Oberlehrerhaft ehrlich gesagt.

Ich muss dir recht geben. Da ist beim Schreiben wohl die Ex-Lehrerin mit mir durchgegangen.

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Versteh ich gut als Ex-Lehrer :wink:

und ich als Sohn zweier Lehrer und Bruder einer Lehrerin :roll_eyes: :grinning:

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Kann ich als ehemaliger Schüler auch verstehen …

Darf ich mich in deinen Post einklinken :wink:?

Voilà:

Friederike hatte Olaf zu einem Sonntagsspaziergang auf der Einkaufsallee überredet. „Wie Omma und Oppa?“ nörgelte Olaf. Doch mit einem Hinweis auf das ausstehende Tagesziel in seiner Sport-App war es ein Leichtes gewesen, ihn zu überzeugen. Bei einer ausreichenden Anzahl von Schritten erhielt er ein Sternchen. Für zehn Sternchen in Folge bekam er einen virtuellen Pokal, für zehn Pokale gab’s 5% Rabatt im Sportgeschäft. Olaf hatte Blut geleckt.

An diesem Tag waren die Geschäfte alle zu. Fermé, closed, chiuso, cerrado.

Ausnahmsweise! Denn die Politik hatte es seit zwei Jahren durchgesetzt, jeden Sonntag die Innenstadt für den Verkauf zu öffnen. Angeblich genossen es die Leute, an diesem Tag zu shoppen. Der Kauf von Dingen, die die Welt nicht braucht, lenkte sie von echten Problemen ab.

Doch eine Gegenbewegung hatte sich gegründet, die RUSO: Ruhe-Sonntag. Sie setzte sich dafür ein, dass Läden zumindest an einem Tag in der Woche geschlossen blieben. Die Initiatoren hofften, dass es so vielleicht wieder möglich würde, sich gemütlich schlendernd zu unterhalten. Oder einträchtig zu schweigen. Andere Spaziergänger zu beobachten. Einen vorbeilaufenden Hund zu bewundern.

Und nicht zuletzt Schaufenster wie dieses zu betrachten. Es glänzte verführerisch…
Ein talentierter Dekorateur hatte geschickt die Waren ins rechte Licht gerückt, sodass fast sämtliche Passanten der gut besuchten Einkaufsstraße unweigerlich stehenblieben.
Nicht teuren Schmuck, sondern … Backutensilien konnte man hier bewundern.

Wie bitte?

Genau, Kuchenformen in allen Größen und von verschiedener Beschaffenheit, originelle Ausstechförmchen, Aufbewahrungsdosen in Pastellfarben, funkelnde Mixgeräte. All dies sah aus wie im Tanze vereint und lud den Betrachter ein, das Nudelholz im Takt zu schwingen. Das gekonnte Arrangement schickte eine Ahnung voraus, wie herrlich das Selbstgebackene wohl schmecken würde.

„Kommst du weiter, Sportsfreund?“ riss Friederike Olaf aus seinen Tagträumen und gab ihm einen sanften Klaps auf den Hintern.
Olaf blinzelte selig und schlang Friederike im Weitergehen einen Arm um die Taille. „Weißt du, ich glaube, ich versuche es mal mit einer Back-App. Was ist eigentlich dein Lieblingskuchen?“

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Ein schöner Kontrast zu meiner Geschichte, Cordula!

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Ich liebe ja Städte. Das kulturelle Angebot, Architektur, das bunte Leben und Treiben! Allerdings nicht den damit verbundenen Konsumrausch…