Heino ist wieder da

Da ist er wieder. Heino.
Niemand steht für diese frühen Jahre so wie er. Für die Enge, diesen schier unerträglichen Mief der 60er Jahre, unter dem ich so gelitten habe. Diese furchtbaren Lieder, die die Alten voller Inbrunst mitgrölten. Diese Steifheit, die mit viel Alkoholkonsum aufgelöst wurde. Die sich in noch unerträglichere Nähe verwandelte. Grausam. Grauenhaft. Ekelhaft.
Wahrscheinlich können sie nichtmal wirklich was dafür. Diese Generation. Die den Krieg noch erlebt hat. Dem gewaltsamen Tod entkommen. Verletzt am Körper und an der Seele. Oder dem, was von der noch übrig war nach der Nazizeit. Falschheit und Heimlichtuerei waren verinnerlicht. Zum Teil der Persönlichkeit geworden. Die Einen lebten das Böse in sich aus, die Anderen versuchten nur zu überleben. Irgendwie.
Und dann sollte plötzlich alles wieder anders sein. Zurück zur Demokratie. Freier Wille, Wirtschaftswunder. Aber die Menschen im Dorf waren immer noch die gleichen. Einige weniger halt. Gestorben, ermordet, ausgewandert, verschleppt oder vertrieben. Wie das halt so ist im Krieg. Jeder weiß, was der andere getan hat. Keiner ist so ganz sauber geblieben. Das schweißt zusammen. Das trennt auf ewig. Familienfehden, um die jeder weiß, von denen keiner spricht, die noch bei den Enkeln Freundschaften verhindern. „Mit denen spricht man nicht!“ So heißt es dann. In jeder Familie. Und immer sind andere gemeint.
Sehr verwirrend für mich kleines Kind. Warum darf ich mit dem nicht spielen? Der ist doch nett! Und die Neugier zwingt mich nachzufragen. Keine Antworten zu bekommen macht es nur schlimmer. Und darin sind sich irgendwie alle, die es wissen, einig. Darüber wollen sie nicht sprechen. Das wollen sie mir nicht erklären.
Ich soll das einfach so hinnehmen. Aber darin war ich schon als Kind nicht gut.
Weg musste ich. Immer weiter weg. Schnell und möglichst weit. Anfangs in der Phantasie, alles lesend, alles aufsaugend, was irgendwo geschrieben war. Dann, mit 10 Jahren, endlich auch raus aus dem Dorf. In die Stadt. Aufs Gymnasium. Was für eine spannende neue Welt! Unbekannte Menschen, vollkommen unbelastet von vorhandenen Beziehungen und zu erfahren nach eigenem Gutdünken. Meine Freunde, meine Klassenkameraden. Niemand der mir vorschreibt, wen ich mögen darf und wen nicht. Inspirierende Menschen. Unmengen davon. Und plötzlich ging der Blick nach vorne. Endlich!
Musik hören, die im Dorf günstigstenfalls als Krach durchgeht. Kleidung tragen, für die man mich Zigeunern zuweist. Über alles abfällige Bemerkungen machen. Ja, das konnten sie schon immer, darin sind sie gut. Alles, was sie selbst nicht haben, ist doch eh schlecht. Alles, was sie selbst nicht können, braucht man doch eh nicht. Alles, was nicht so ist wie sie, das will man nicht. „Was sollen denn die Leute sagen!“ ist das zentrale Credo der Erziehung und des Lebens. Ein Hoch auf die Fassade. Wie dreckig es dahinter ist, soll keiner sehen. Das bleibt unter uns. Man weiß es und man redet nicht darüber. Omertà. Wie bei der Mafia. Aber uh, das sind ja eh alles Kriminelle, diese Italiener. Bei denen weiß man ja nie. Töchter und Wertgegenstände lässt man besser nicht aus den Augen, wenn die in der Nähe sind. Wir kennen die. Wir wissen Bescheid. Wir fahren ja jedes Jahr dahin in Urlaub. Nicht umsonst zäunen sie da unsere Campingplätze ein. Wegen der Papagalli, die sich da rumtreiben. Ja, wir sind ja so welterfahren. Schon klar. Und ganz Amerika ist Disneyland.

Und da ist er nun wieder. Heino. 80 Jahre wird er und reist von Show zu Show. Unentgehbar. Aber garnicht mehr so schlimm. Wir haben uns verändert. Er und ich. Sicher, die alten Gefühle sind noch da, werden wieder hochgeschwemmt. Eine Abneigung, die mich sicher noch bis zum Ende meines Lebens begleiten wird.
Aber ich hänge es ihm nicht mehr persönlich an. Mittlerweile kann ich trennen. Zwischen der Person, die ich ja garnicht kenne, und dem, wofür er bei mir steht.
Und er? Steht mittlerweile mit Rammstein auf der Bühne. Covered die Toten Hosen, statt von ihnen persifliert zu werden. Was für ein Wandel, was für eine verrückte Welt.

10 „Gefällt mir“

Eine sehr gut getroffene, in sich geschlossene Story, ansprechend geschrieben und Stoff zum Nachdenken.

Ich hatte das Glück, in den ‚anderen‘ 60ern aufzuwachsen, inmitten von Demos, Hippieklamotten, den Beatles, politischen Diskussionen und sonstigem Chaos. Hatte auch nicht nur Vorteile, aber zumindest die Verlogenheit und der spießige Mief sind mir erspart geblieben.
Heino kannte ich damals noch gar nicht, der wurde von meinen Leuten, wie man so schön sagt, noch nicht mal ignoriert.
Heute staune ich auch darüber, was der Typ für eine Wende hingelegt hat.

2 „Gefällt mir“

Bei uns war auch Heino angesagt. Ich durfte trotzdem mit allen spielen. Lag vielleicht am Pütt-Milieu. Die vonne Zeche sind da wohl offener.

Danke, freut mich wirklich, dass sie dir gefällt. :smiley:

Welche anderen 60er meinst du?
Ja, Demos, Hippieklamotten, politischen Diskussionen und sonstiges Chaos - das hat mich auch magisch angezogen. Ok, musikalisch waren es bei mir eher Janis Joplin und Hendrix.
Wir waren diese furchtbaren „Alternativen“ - was aber damals ganz was anderes bedeutete.

Wahrscheinlich ist es überall offener als auf dem Dorf. Und ich wollte einfach nur irgendwohin, Hauptsache weg von da.

eben die Mief-freien, die Kontrastbewegung, die alles Mögliche gewesen ist, aber nicht spießig. Es wurde über alles geredet (um nicht zu sagen: Zu Tode diskutiert), wir Kinder besuchten den antiautoritären Kinderladen und durften alles, meine Eltern haben in Jeans auf dem Standesamt geheiratet u.s.w.

DAS ist sehr gut verständlich!

Oh je. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und dann nach ganz außerhalb gezogen. War immer schon ein Landei. Die Bauern um mich herum sind noch heutzutage so zugeknöpft wie die Leute auf deinem Dorf.

1 „Gefällt mir“

Ich auch.

Lach mein Mann auch, ich hatte immerhin mal ein Kleid an.
Heute ist das zum Glück normal, damals wars ein Skandal.

Echt? Ich besitze gar keins. Dafür habe ich eine Heino-CD.

1 „Gefällt mir“

@Yolo @Suse Heiraten, wie spießig :joy: Ok, Scherz. Das ist die Freiheit eines jeden^^

Und ich zwei :wink:

1 „Gefällt mir“

Ist das auf dem Tatoo Heino mit Gitarre?

1 „Gefällt mir“

Nein es ist: Death (is a lighthearted musician)

Suse, mittlerweile hab ich auch keines mehr. Obwohl … ich müsste mal ganz hinten in den allertiefsten Tiefen meines Schrankes buddeln.

Aber das Hochzeitskleid hab ich noch, heute passt es leider nicht mehr so ganz. Ein sehr kurzes Kleid mit passender Jacke aus blauer Seide, die ich aus Thailand mitgebracht hatte. Eine Freundin hatte mir das dann genäht.

P.S: Ich hab keine Heino-CD.

Wahnsinn. Ich habe mal einen Pullover gestrickt, den ich dann nicht anziehen konnte. Den habe ich aufbewahrt. Das mit den Buchstaben liegt mir irgendwie besser.

Och.

Edit: Du streamst bestimmt …

och, stricken kann ich sehr gut, nur nähen nicht. Ich arbeite überhaupt gerne mit den Händen, kann mit den meisten Werkzeugen umgehen und auch einigermaßen Drechseln.

Edit: Nee, ich streame nich!!!

2 „Gefällt mir“

Landschaftlich ist mein Dorf wunderbar. Ich liebe diese vielen Mischwälder und die Hügel, die kleinen Flüsse, alles wunderschön. Wenn die Menschen nicht wären, würde ich direkt wieder hinziehen.
Und ja, die Frage der Zugezogenen ist nochmal eine ganz andere. …

Ich bin in den hiesigen Reitverein eingetreten. Ein Muss. Oder man geht zur Freiwilligen Feuerwehr. Irgendwann bin ich aus dem Reitverein ausgetreten. Damit waren auch alle „Freunde“ weg. Zum Glück hatte und habe ich noch echte Freunde (entweder auch zugezogen oder gar nicht erst aufs Dorf gezogen, sondern in der Nachbarstadt geblieben, die früher Bergbaustadt war und heute Universitätsstadt ist).

1 „Gefällt mir“