Liebe KollegInnen
Anbei das erste Kapitel eines Krimis, der mir seit ein paar Wochen durchs Hirn geistert. Bitte um Eure geschätzte Kritik! Danke!
Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.
Warum ich es trotzdem tat? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es sein Dackelblick, vielleicht auch nur Neugier. Oder Wut. Oder alles zusammen, keine Ahnung. Nicht immer ist man nachher klüger. Ich zumindest nicht.
Wir hatten uns in dem Café an der Börse verabredet, in dem wir uns früher hin und wieder getroffen hatten. Ich mochte diesen Ort, eine ehemalige Blumenhandlung, in der noch immer riesige Pflanzen herumstanden. Harald wartete an einem der hinteren Tische unter Yuccapalmen und Oleander, begrüßte mich mit Küsschen auf die Wange und bestellte Cappuccino.
Trotz, dass er seinen Fünfziger schon hinter sich hatte, sah er noch ziemlich attraktiv aus. Also für einen Mann. Gut eins achtzig groß, flacher Bauch, breite Schultern, grau meliertes kurzes Haar, Dreitagebart. Wäre ich auf Männer gestanden, hätte ich damals nicht nein gesagt. War aber nicht so. Ist auch heute nicht so.
Nach dem üblichen Smalltalk über Wetter und Karriere – das Thema Politik ließ er penibel bei Seite – rückte er mit seinem Anliegen raus, über das er am Telefon nicht reden wollte. Ich hatte es akzeptiert, immerhin war er Richter und würde wissen, warum er nicht mehr preisgeben konnte.
„Ich brauche eine Sachverständige“, sagte er schließlich und schob mir eine Flügelmappe über den Tisch.
„Ich bin nicht mehr aktiv“, antwortete ich, schlug die Mappe aber dennoch auf. Auf dem Deckblatt stand das Aktenzeichen des Falles und ein Name: Lena Horak. Ich schob sie ihm kopfschüttelnd zurück.
„Karin, bitte!“
Noch einmal schüttelte ich den Kopf. „Nein, Harald. Mache ich nicht. Nicht diesen Fall!“
Er sah mich fast flehend an.
„Ich dachte, da sei alles klar? Ein doppelter Kindsmord, die Mutter stellt sich unmittelbar nach der Tat, ist doch nur mehr eine Formsache, oder?“ Hart und böse hörte sich das an. War es sicher auch.
„Die Horak wurde auf Depressionen behandelt“, berichtete er, „zwei Tage bevor sie ihre Kinder umbrachte, wurde sie als geheilt entlassen.“
„Schwachsinn“, entfuhr es mir.
„Das meint die Staatsanwältin auch und will den Fall neu aufrollen. Sie vermutet einen Kunstfehler seitens der Klinik oder zumindest eine grobe Verletzung der Sorgfaltspflicht“
„Ach daher weht der Wind!“, ätzte ich, „Und jetzt braucht ihr jemand, der dieses System auseinandernimmt, stimmts? Warum aber mich? Nimm doch Alex. Oder Frank.“
„Zu heikel. Das sind Männer. Und seit die Justizministerin den Fall für sich entdeckt hat … na ja, was soll ich dir sagen …“
Ich musste grinsen. Gut, dass den alten weißen Männern von einer Frau mal so richtig Druck gemacht wurde. Trotzdem, die Horak-Sache war mir zu heiß, denn obwohl sich die Tragödie schon vor mehr als einem Jahr abgespielt hatte, war das nach wie vor ein Wespennest, in das man stach. Und zwar mit jeder einzelnen Frage, die man dazu stellte.
„Was ist mit Monika?“, setzte ich nach.
„Voll eingedeckt von der Korruptionsstaatsanwaltschaft.“
„Noch immer die Sache mit den Pflegeheimen?“
Er nickte. Okay, auch das war ein Fass ohne Boden.
„Harald bitte. Ich bin wirklich draußen, ich mag nicht mehr. Hast du denn keine anderen?“
„Nicht für dein Fach, Karin.“
„Du meinst, es gibt nur mehr ganze vier Sachverständige für psychiatrische Pflege in diesem Land?“
Er nickte stumm. Peinlich war das. Aber auch absehbar. Das Gesundheits- und Sozialsystem wurde seit zwanzig Jahren kaputtgespart. Genauso wie die Exekutive, die Judikative und das Bildungssystem. Die Verantwortlichen grinsten uns frech aus dem Fernseher ins Gesicht, schoben ihren eigenen Seilschaften Subventionen in Millionenhöhe zu und klärten uns wortreich über die Wichtigkeiten des Wirtschaftsstandortes auf.
Ich klappte die Flügelmappe noch mal auf und blätterte die ersten Seiten durch. Ein Bild von Lena Horak, blond und lächelnd, im Hintergrund ein Swimmingpool vor einem Reihenhaus. Auf der nächsten Seite eines von den Kindern. Tot. Im Schlaf erstickt. Dann die Anklageschrift, das Verfahrensprotokoll in Kurzfassung, das Urteil. Und irgendwo dazwischen das Gutachten über ihre psychische Zurechnungsfähigkeit. Gerade mal eine Seite lang.
Ich sah erst das Gutachten an, dann Walter und konnte meinen Zorn nur mühsam verbergen. „Ihr habt Baumann das Gutachten machen lassen? Echt jetzt?“
Er zuckte mit den Schultern. „War nicht mein Fall damals“.
„Ja, toll, war nicht dein Fall. Das weiß ich! Aber sieht denn hier niemand die Befangenheit? Doktor Karl Baumann ist der Bruder von Primar Kurt Baumann, den Leiter jener Klinik, in dem die ganze Scheiße abgegangen ist. Seid ihr alle blind?“
„Es war nicht mein Verfahren, Karin!“, wiederholte Walter, nun etwas unwirscher. Anscheinend verspürte er den gleichen Zorn wie ich über diesen Fehler. Wenn es denn ein solcher war.
„Das ist mit ein Grund, warum die Sache weitergeht. Dann ist es mein Fall.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Und ich hoffe, auch der deine.“
„Ich bin genauso wenig objektiv in dieser Sache wie jede andere Frau“, versuchte ich nochmal abzuwehren.
„Aber du bist nicht befangen!“, entgegnete er.
Da war ich mir nun nicht so sicher.
„Alles, worum ich dich bitte, Karin,“ flehte er eindringlich, „ist ein schriftliches Gutachten, ob Baumann und sein Team bei der Horak sauber gearbeitet haben. Egal was dabei rauskommt! Du musst nicht mal bei der Verhandlung dabei sein.“
„Das ist doch Quatsch“, zischte ich. Natürlich musste ich bei der Verhandlung dabei sein, denn wenn Baumann tatsächlich gepfuscht hatte, würde er mit den teuersten Anwälten auffahren. Und die brachten dann mindestens ein Dutzend Gegengutachten mit. Das roch nach Krieg hier. Und zwar gewaltig.
„Ich mach dir einen Vorschlag“, insistierte Harald weiter, „nimm den Akt mit und lies ihn dir mal durch. Schlaf eine Nacht darüber. Morgen rufst du mein Büro an und sagst zu oder auch nicht. Wenn nicht, dann bin ich dir nicht böse, aber wenn, dann weiß ich, dass die Baumann Brüder ihr Fett abbekommen!“
Ich wischte mit dem Mittelfinger über den Aktenordner und sah Harald schweigend an. Nein, die Baumann Brüder waren mir scheißegal. Aber Lena Horak nicht.
„Gut“, sagte ich, „ich les mal drüber“.
Am Weg nach Hause wurde mir schlecht. Scheiße, was tat ich da? Es war nicht die Horak. Oder nicht nur. Es waren die Baumann Brüder. Und ganz besonders Kurt Baumann, mit dem ich noch eine Rechnung offen hatte. Ich war befangen. Und wie!
Richter Harald Egger hatte ich vor acht Jahren in meiner Ausbildung zur Gerichtssachverständigen kennen gelernt. Er war mein Dozent in Straf- und Verfahrensrecht und imponierte mir mit seinem Eingangsstatement: „Hier geht es um Recht. Das ist ein System von Regeln, das ein friedliches Zusammenleben in einem Staat klären und gewährleisten soll. Von den Menschen in diesem Staat kann das als gerecht empfunden werden, muss es aber nicht unbedingt. Denn Gerechtigkeit ist immer nur eine subjektive Empfindung, aber nie ein objektiver Maßstab!“
Das Seminar mit ihm dauerte zwei Tage, es war interessant, wenngleich auch nicht besonders faszinierend. Aber der Mann gefiel mir. Konkret seine Haltung zu einzelnen Dingen an der Schnittstelle zwischen Judikative und Legislative. Und auch wenn er sich im Lauf der Diskussionen in seinem Unterricht bald als gemäßigter, ja fast konservativer Beamter entpuppte, so war er doch nicht bar jeder Empathie, wie viele seiner Kollegen.
Dass er bei uns unterrichtete, war eher ein Zufall, denn der eigentliche Dozent musste krankheitshalber absagen und bat ihn, der damals noch ein einfacher Richter an einem Bezirksgericht war, einzuspringen. Das war kein Fehler, dachte ich, als ich nach dem Vortrag meine Sachen zusammenkramte und gehen wollte. Doch er bat mich noch kurz zu bleiben.
„Sie sind Krankenschwester auf der Psychiatrie?“, fragte er. Ich nickte kurz.
„Und Sie haben eine Ausbildung im basalen Management?“
Wieder bejahte ich.
„Hätten Sie Lust, gleich nach der Abschlussprüfung ihren ersten Auftrag anzunehmen? Ich bräuchte für ein kommendes Verfahren dringend die Expertise einer Sachverständigen.“
Natürlich hatte ich.
Insgesamt arbeitete ich seitdem neun oder zehnmal für ihn. Meist waren es Pflegegeldansprüche, zwei oder drei Gutachten zu Strafverfahren, ein Verwaltungsdelikt. Nichts Aufregendes, was in einem Bezirksgericht eben verhandelt wurde. Das letzte mal kurz vor der Pandemie, dann riss der Kontakt zwischen uns ab. Und vor einer Woche schließlich ein etwas seltsames Mail: „Bitte um eine Unterredung in einer heiklen, aber gerichtlichen Angelegenheit.“ Darunter eine neue Emailsignatur: „Dr. Harald Egger, Vorsitzender am Landesgericht für Strafsachen“.
Hast du es also geschafft, dachte ich noch und erinnerte mich, als er mich nach meinem vierten Auftrag erst zum Essen und danach ins Theater – passenderweise „Die Physiker“ von Dürrenmatt – einlud. Wir sprachen viel über den Fall, den wir eben bearbeitet hatten, ein kompliziertes Durcheinander über einen Brand in einem Pflegeheim, den angeblich ein Bewohner gelegt hatte und dem zwei Menschen zum Opfer fielen. Meine Aufgabe war es zu klären, welche Verantwortung die Heimleitung dabei spielte, und zu guter Letzt konnten wir den alten Mann vor einer Haftstrafe bewahren. Der Brandmelder war lahmgelegt worden, weil er wegen jeder Zigarette, die dieser Bewohner in seinem Zimmer rauchte, Alarm schlug, und das Heim dann die sinnlosen Feuerwehreinsätze bezahlen musste.
Walter baggerte mich im Laufe dieses Abends auf eine durchaus charmante Art an. Als ich ihm sagte, dass er nicht, wie er annahm, zu alt für mich sei, sondern ich grundsätzlich für Männer, auch für so nette wie ihn, nicht zu haben sei, akzeptierte er es mit einem traurigen Lächeln. Das machte ihn für mich noch sympathischer, änderte aber nichts an meinem Nein. Na gut, hatte er gemeint, da ich nun schon die dritte Lesbe sei, in die er sich verliebe, bliebe ihm wohl nur mehr über, Karriere zu machen.
Den Fall Horak hingegen kannte ich nur aus den Medien. Im Sommer des Vorjahrs erstickte eine 32jährige ihre beiden Kinder, ein und sechs Jahre alt, mit einem Polster im Schlaf. Danach verständigte sie ihren Mann von der Tat, fuhr zu der nächsten Polizeistation und stellte sich. Als Grund für die Tat gab sie an, sie habe ihre Kinder „befreien“ wollen. Wovon auch immer.
Der Boulevard hatte seinen Sommerlochfüller und reizte das Thema wochenlang aus. Ich verfolgte die Sache nicht weiter, es rieb mich auf, die Normalverbraucher ihre Urteile über die Frau fällen zu sehen. Nach fünfzehn Jahren Psychiatrie hat man sich eine Art Schutzmechanismus zugelegt, solche Sachen zwar noch wahrzunehmen, aber sie von einem abperlen zu lassen, wie Wasser von an einem Neoprenanzug. Ich hatte genug zu tun auf meiner kleinen gerontopsychiatrischen Station, die ich neben meiner Sachverständigentätigkeit leitete.
Dennoch bleiben solche Sachen an deinem Neoprenanzug kleben, wie ein dicker zäher Schlamm, der nicht abfließen will. Gerade auch, weil dir sowas selbst jederzeit passieren könnte. Ein kleiner Fehler, eine Unachtsamkeit, einmal nicht nachgefragt, nicht genauer hingesehen, den Beteuerungen der Patientinnen oder ihrer Angehörigen zu rasch geglaubt, die Maßnahmen zu selten kontrolliert, die therapeutische Distanz vergessen, die Krankheit in ihrer Komplexität unterschätzt.
Es konnte jeden passieren, tatsächlich ja. Aber es sollte nicht passieren, nicht uns. „Es gilt in Ihrer Profession ein erhöhter Maßstab der Sorgfaltspflicht!“, hatte ich meinen ersten Lehrer für psychiatrische Pflege noch im Ohr. Der Satz verließ mich nie, all die Jahre, in denen ich nun in diesem Beruf arbeitete.
Zuhause setzte ich mich an den Schreibtisch, und überflog den Akt. Ich wunderte mich noch, wie wenig eigentlich über den Fall aufgezeichnet war. Ganz hinten in der Mappe fand ich jedoch einen Link samt Passwort und den Hinweis, dass ich dort weitere Daten finden würde. Außerdem den Auftrag Haralds der mich zur Untersuchung des Falls berechtigte:
„Zu klären sind dabei folgende konkrete Fragestellungen: (1) Wurde seitens des behandelnden multiprofessionellen Teams sowohl diagnostisch als auch therapeutisch lege artis et lege juris vorgegangen? (2) Erfolgte vor der Entlassung der Patientin eine dezidierte Krankheitsprognose samt Einschätzung eventueller Risiken, insbesondere für Dritte? (3) Wäre die Tat verhinderbar gewesen und wenn, welche Maßnahmen hätten dann seitens der Tagesklinik getroffen werden müssen?“
Und schließlich noch: „Der Sachverständigen sind von allen ihr auskunftswürdig erscheinenden Personen sämtliche Fragen unter Wahrheitspflicht zu beantworten“
Ich befreite die Pinwand über dem Schreibtisch von dem Schrott, der sich dort angehäuft hatte, um mir ein Dashboard für den Fall vorzubereiten und loggte mich eben in Walters Cloud ein, als ich hörte, wie Naomi die Tür öffnete. Sie kam zu mir, küsste mich und blickte mir dabei kurz über die Schulter.
„Machst du wieder mal ein Gutachten?“
Ich nickte und wollte eben den Laptop zuklappen, aber sie hatte bereits den Namen auf dem Deckblatt des Aktes gelesen.
„Doch nicht die Kindsmörderin?“, rief sie aus.
„Oh ja“, antwortete ich.
„Du musst verrückt sein, Karin!“
Ja, wahrscheinlich war ich das.
Wir aßen das Sushi, das sie mitgebracht hatte. Schweigend. Sie stellte keine Fragen mehr und ich war ihr dankbar dafür. Aber etwas hatte begonnen zwischen uns Platz zu nehmen, was ich hier nicht haben wollte. Aber auch nicht mehr aufhalten konnte. Und sicher hatte das mit ihrem Kinderwunsch zu tun.
„Weißt du, ich finde das ziemlich weird von dir“, begann sie nach dem Essen schließlich.
„Wie findest du das?“
„Weird. Seltsam. Krank,“
„Und was genau findest du dabei krank?“
„Dass du dich mit diesem Fall beschäftigst, Karin. Hast du vergessen, dass ich in vier Wochen die Insemination habe?“
„Natürlich hab ich das nicht vergessen, wie könnte ich!“
„Und du findest es nicht seltsam, dass ich bald schwanger sein werde und du dich mit einer Kindsmörderin beschäftigst?“
„Nein, wieso?“
„Ich bitte dich, so was färbt doch ab! Du denkst nur an den Grund, warum diese Frau ihre Kinder getötet hat und wie sie das getan hat und was die Kinder mitgemacht haben. Glaubst du nicht, dass sich das auf unser Baby überträgt?“
„Jetzt lass einmal die Kirche im Dorf“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Erstens funktioniert Übertragung ganz anders, als du dir das gerade vorstellst, zweitens bist du es, die schwanger wird, nicht ich, und drittens bist du es ja noch gar nicht.“
„Da irrst du dich aber gewaltig!“, zischte sie mich an, „Denn erstens werde ich diesmal ganz sicher schwanger werden, sagt die Ärztin, zweitens kriegen wir beide das Kind, auch wenn es nur in mir wächst und drittens verschmutzt du dein Denken und Fühlen jetzt schon mit diesem Fall. Und genau diesen Schmutz wirst du mir übertragen. Und ich dem Baby!“
Schmutz also, dachte ich, Schmutz war das, mit dem ich mich hier abgab. Ja, der zähe Dreck auf meinem Neoprenanzug, der nicht abging. Sie hatte recht.
„Komm zu mir“, sagte ich und versuchte sie zu umarmen. Sie ließ es nicht zu, ging aber auch nicht weg. Stand nur da, mit verschränkten Armen, ihre Zornfalte zwischen auf der Stirn und starrte die Tischkante an. Sie hatte Angst.
„Schatz, ich bin professionell genug, dass ich das nicht an mich ranlasse!“
„Ich aber nicht!“, schluchzte sie auf. Tränen standen in ihren Augen.
Noch einmal versuchte ich sie zu umarmen, nun ließ sie es zu. Schniefend schmiegte sie sich an meine Brust.
„Sie hat ihre Kinder umgebracht! Warum, Karin? Warum tötet eine Mutter ihre Kinder?“
„Sie war krank, Naomi. Schwer krank.“
„Aber warum war sie dann nicht im Krankenhaus?“
„Ich weiß es nicht, Schatz. Noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.“
„Kann denn das nicht jemand anderes tun?“
Ich antwortete nicht. Hielt sie noch eine Weile und als sie sich beruhigt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und ich auf den Balkon, um eine zu rauchen. „Vielleicht hat sie recht und du solltest es bleiben lassen“, sagte etwas in mir. Aber ein anderes Etwas antwortete: „Na eben nicht. Du bist die Einzige, die dieses Problem lösen kann!“ Das andere Etwas war deutlich lauter.
Ich ging zurück an den Schreibtisch, aus dem Schlafzimmer drang Musik. Dies Irae aus Mozarts Requiem. Göttin, sie konnte schon eine ziemliche Dramaqueen sein!
Naomi und ich lernten uns kennen, als die Pandemie so richtig losging. Im Krankenhaus waren wir schon seit Wochen in Alarmbereitschaft, aber als dann diese Sache in Ischgl komplett aus dem Ruder lief und der Virus von dort aus über halb Europa verteilt wurde, wussten wir, dass wir total am Arsch waren.
Irgendwann in der letzten Märzwoche schaffte ich es noch vor Geschäftsschluss in einen Supermarkt zu kommen und stand dort vor einem komplett leeren Brotregal. Neben mir dieses junge dünne Mädchen, das lakonisch erklärte: „Tja, da werden wir wohl Kuchen essen müssen.“
„Gibt’s auch keinen mehr, Eure Majestät“, bemerkte ich und sie sagte: „Drauf gekackt!“, und ich wieder: „Klopapier ist aber auch aus“. Dann bekamen wir beide einen Lachflash, als hätten wir uns eben zugekifft.
Wir verließen den Supermarkt, ohne irgendetwas zu kaufen und gingen gegenüber zum türkischen Bäcker, der hatte gerade noch einen Fladen Pide und den teilten wir uns.
Sie wohnte nur ein paar Gassen weiter, aber sie war mir in unserem Viertel noch nie aufgefallen, obwohl sie genau mein Typ war: lange braune Haare, grüne Augen und ein freundliches Lachen mit leicht sarkastischem Unterton.
„Vorige Woche frisch zugezogen“, erklärte sie.
Ein paar Tage später trafen wir uns zufällig in der U-Bahn und erkannten uns trotz Maske auf Anhieb. Wir verabredeten uns zu einem abendlichen Lockdown-Spaziergang und streunten durch leere Straßen mit geschlossenen Bars. Irgendwann fand ihre Hand meine und es wurde rasch klar, wie es mit uns beiden weitergehen würde.
Naomi, acht Jahre jünger als ich, damals also gerade mal fünfundzwanzig, studierte Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaften. Im Vorjahr war sie aus München nach Wien gekommen, um ihre Bachelorarbeit über österreichische Kinderbuchautorinnen zu schreiben. Ihre Mutter war Lehrerin an einer Grundschule, ihr Vater betrieb eine Buchhandlung in der Isarvorstadt, die sich auf pädagogische Fachbücher spezialisiert hatte und die Pandemie nicht überstehen sollte.
Aber auch ich hätte den Wahnsinn, der nun auf uns in der Medizin und Pflege zukam, nicht überstanden, wenn Naomi nicht gewesen wäre, sie und die Aussicht sie hin und wieder zusehen, wenn es meine Arbeit im Krankenhaus erlaubte, die bald weit über die erlaubten sechzig Wochenstunden hinausging.
So beschränkten sich unsere Treffen zunächst auf die wenigen freien Zeiten, die ich hatte, und auch die verursachten mir einiges Bauchweh, da ich ständig in Angst lebte, sie mit dem Virus anzustecken. Bereits in der ersten Aprilwoche erkrankten vier Patienten auf meiner Station und trotz, dass wir sie sofort isolierten – ein sinnloses und auch unmenschliches Unterfangen bei dementen Menschen – waren es eine Woche später zwölf. Danach vier Kolleginnen. Und dann begann das große Sterben.
Ich war keine besonders gute Partnerin in dieser Zeit. Ich hätte mir Zeit nehmen sollen für uns, nur für uns beide, aber es war nie genug davon da, nicht mal im Ansatz. Oft reichte es nur für einen Videochat, obwohl wir keine zehn Minuten voneinander entfernt waren, und selbst da schlief ich manchmal todmüde ein. Dazu bei jedem Treffen die Angst, sie zu infizieren. Und auf zwei Meter Distanz, mit Maske vorm Gesicht, funktioniert keine junge Liebe. Ich weiß nicht, warum sie trotzdem blieb in dieser Zeit.
Im Juni erkrankte ihre Mitbewohnerin und gab die Wohnung auf. Naomi saß quasi auf der Straße, nach München zu ihren Eltern wollte sie nicht, obwohl ich darauf drängte. Es wäre besser so, meinte ich und sie: Nein, ganz und gar nicht wäre es das. Eines Abends stand sie mit ihrem Koffer vor meiner Tür. Seither leben wir zusammen. Covid bekamen wir beide nicht.
Ein Jahr nachdem sie eingezogen war, sagte sie: „Wenn du mich fragen würdest, ob ich dich heiraten möchte, würde ich ja sagen!“ Also fragte ich sie. Ein weiteres Jahr später taten wir es.
„Und bekommt ihr jetzt auch ein Kind?“, fragte mein Bruder bei der Hochzeit. Es sollte witzig klingen.
„Na sicher!“ sagte sie, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt für ein lesbisches Paar.
Dann, ein Jahr später, die erste Insemination. Ohne Erfolg. Vor einem halben Jahr dann die zweite. Wieder nichts. Naomi schrammte am Rande einer Depression entlang. Und nun also der dritte Versuch. Sollte auch der nicht klappen, würde ich die Sache abbrechen. Dann musste sie sich eben mit einer Adoption anfreunden. Warum auch nicht. Es gab genug Kinder, die Eltern brauchten. Aber auch genug Idioten, die einem lesbischen Paar eine solche verweigern würden. Scheißwelt.
Gut die Hälfte einer Sachverständigentätigkeit in meinem Metier ist Aktenstudium, die andere Hälfte Einvernahmen von Auskunftspersonen. Es war nicht sehr ergiebig, was ich sowohl im Akt, den mir Harald gegeben hatte, als auch in den Unterlagen auf seiner Cloud fand. Das polizeiliche Vernehmungsprotokoll bestand nur aus der wörtlichen Wiedergabe des Geständnisses, einer minutiösen Schilderung des Tatherganges. Sie hatte ihre Kinder mit Valium betäubt, gewartet, bis sie eingeschlafen waren, und sie dann mit einem Kopfkissen erstickt. Der pathologische Befund bestätigte ihre Angaben. Unter den Fingernägeln des Sechsjährigen fand man Hautpartikel der Mutter. Er war also noch einmal aufgewacht und hatte sich zu wehren versucht.
Was geht wirklich in einer Mutter vor, wenn sie sowas tut, dachte ich. Im Protokoll der Einvernahme stand es nicht. Auch nicht in jenem der Einvernahme des Ehemannes. Ebenso wenig in der Mitschrift des Gerichtsverfahrens, das nicht mal eine Stunde gedauert hatte. Aber wenigstens erhielt ich dort den Hinweis, dass Lena Horak bereits seit Jahren an Depressionen litt und auch behandelt wurde, aber ihr erster stationärer Aufenthalt fand erst nach der zweiten Schwangerschaft statt.
Ich heftete kleine Zettelchen mit Namen an das Dashboard. Die Polizistin, die Lena Horak als erste einvernommen hatte, den Ehemann der Horak, ihre Eltern, wenigstens eine Nachbarin, die Stationsleitung der Tagesklinik, in der sie behandelt wurde und Primar Baumann. Mein nächster Schritt würde die Einvernahme dieser Personen sein. Ich betrachtete die Zettelchen, dann nahm ich das mit Baumanns Namen wieder ab und warf es weg. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben und wusste dennoch, dass es unumgänglich war. Und dass es diesmal eskalieren würde.
Naomi schien bereits zu schlafen, als ich ins Bett kam. Ich küsste sie auf die nackte Schulter, sie aber drehte mir abrupt den Rücken zu und zog die Decke hoch bis zu den Ohren. Gut, dann nicht, morgen war ein neuer Tag.
Ich fand keinen Schlaf, wälzte mich eine Stunde lang von der einen Seite auf die andere, schließlich holte ich mir ein Bier aus der Küche und rauchte noch eine Zigarette am Balkon. Blaugraue Wolken balancierten eine fahle Mondsichel auf einem schwarzen Himmel. Es war kalt geworden, ich fror in dem dünnen T-Shirt. Dann ging ich zurück an den Schreibtisch, fuhr den Laptop hoch und schrieb ein Mail an Walter. Nur ein Wort: „Angenommen!“ Als ich wieder ins Bett ging, war es halb zwei.
Irgendwann dann ein Traum: Ich lag an einem Strand, es war Nacht und am Himmel stand der gleiche Mond wie vorhin als ich am Balkon war. Ich sah, wie Naomi aus dem Wasser stieg. Sie trug einen gelben Taucheranzug dessen Reißverschluss vorne bis unter dem Nabel offenstand und den dicken Bauch einer Schwangeren im neunten Monat zeigte. In ihren langen nassen Haaren hing schwarzer Tang, aber nicht nur dort, auch auf den Taucheranzug haftete dicker, schlammiger Dreck, als wäre sie eben durch einen Ölteppich geschwommen. Sie kam zu mir, der Dreck tropfte von ihr auf mich. „Sie haben alle gelogen!“, sagte sie und ich wollte etwas antworten, aber aus meinem Mund kamen nur dicke schwarze Blasen aus Öl.
„Du hast geschrien heute Nacht im Traum“, sagte Naomi beim Frühstück, „keine Ahnung, was. Hab dich nicht verstanden.“