Ich bin jetzt mal ganz ganz mutig. So wie der Held, zu dem ich vor kurzer Zeit ernannt wurde.
Dies ist eine Geschichte mitten aus meinem Buch. Ich möchte euch daran teilhaben lassen und freue mich natürlich über euer Feedback.
Mein Buch wird heißen:
‚Der Busfahrer - oder: wie ich die Welt bewege‘
Es ist eine der Haltestellengeschichten, die meist ein wenig kürzer ausfallen als andere.
Haltestelle III – Nordostbahnhof
Dib hea
Ich gehe mal davon aus, dass ihr es anhand der einen oder anderen Geschichte schon bemerkt habt: Ich bin unheimlich gerne und mit Leib und Seele Busfahrer. Tatsächlich. Ich liebe es regelrecht. Das ist ein super-duper-toller Job … das sage ich hier ganz ehrlich … und es kommt von Herzen.
Zudem bin ich ein Typ Mensch, der im Beruf den Umgang mit anderen Menschen genießt. Und ich entdecke in so vielen Kleinigkeiten so großartige Facetten unseres Miteinanders, dass mir die Themen für meine Geschichten zuweilen regelrecht zufliegen. Selbst kürzeste Momente, in denen ich nur für eine minimale Zeitspanne die Mimik oder Gestik, die Geschicke oder das Handeln von Fahrgästen oder Passanten beobachten kann, führen häufig zu einem weiteren Kapitel in meinen Busfahrer-Alltags-Schilderungen.
Man ist also bei allem, was so passiert, absolut live dabei. Und es gibt so viel zu sehen.
Die Scheiben sind riesig, der Rundumblick so gut wie uneingeschränkt. Man befindet sich also gefühlt irgendwie immer draußen und ist trotzdem stets drinnen im Trockenen. Und wenn es regnet, wird eigentlich immer nur die Hülle nass. So ist die Karosserie für mich als Busfahrer quasi mein Regenschirm. Dann schalte ich schlicht und einfach die Scheibenwischer ein und weiter geht’s.
Scheint die Sonne, tankt man durch die großen Scheiben permanent deren Energie und nimmt hoffentlich genug davon auf, um allem Ungemach des Lebens entgegentreten zu können. Denn, und auch das ist eine Wahrheit und ich habe es deshalb schon erwähnt: Man braucht als Busfahrer teilweise einen riesigen Haufen Geduld. Und man muss aufpassen, dass der sich nicht über die Zeit von den kräftigen Winden der Erlebnisse abtragen lässt. Wie so ein Laubhaufen im Herbst. Also immer genug Energie sammeln und dafür sorgen, dass sie einem nicht abhandenkommt.
Und so komme ich zu der kleinen Sarah, die mir am Nordostbahnhof ein vorzügliches Beispiel von kindlicher ‚Behauptungstaktik‘ darbietet. Ich habe hier laut Fahrplan etwas Aufenthalt, der Wagen ist noch leer und es ist dementsprechend ruhig. Nur die vorbei fahrenden Autos sind zu hören.
Sarah ist wohl etwa zwei Jahre alt und genießt die Bequemlichkeit des Buggys, mit dem sie ihre Mutter durch die Welt kutschiert. Die beiden kommen still durch die zweite Tür herein. Es wird rangiert, die Gummis quietschen auf dem Innenboden des Busses, die Sicherung der Rollen rastet mit einem lauten Knacken ein. Die Mutter klappt sich einen der angrenzenden Sonderstühle herunter und setzt sich.
Und kurze Zeit später beginnt das Spektakel:
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘, klingelt es in meinen Ohren. Laut und unnachgiebig hallen die Töne durch die Rohre der Haltestangen. Die kleine Sarah klopft wohl mit irgendeinem Spielzeug daran.
»Hör auf damit«, höre ich die Mutter sagen. Etwas zu nett für mein Gefühl.
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘, klingelt es schon wieder.
»Hör jetzt auf damit, Sarah … sonst …«, aber sie wird unterbrochen von einem erneuten ‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘.
»So das war’s«, schreitet die Mutter ein und windet das Spielzeug aus den zarten Händen des kleinen Mädchens. Konsequent, finde ich.
Wenn jetzt jemand erwartet, dass sofort ein großes Geheule folgen würde, den muss ich enttäuschen. So wie ich in diesem Augenblick selbst etwas enttäuscht bin. Aber nein:
»Dib hea.« Nur ein wenig unzufrieden beschwert sich das Mädchen.
»Aber nicht mehr gegen die Stange klopfen … «, fordert die Mutter. Die kleine Sarah nickt lächelnd und bekommt ihr Spielzeug zurück.
Es vergehen einige wenige Sekunden.
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘.
»Sarah! Hör auf damit!« Die Mutter wirkt jetzt schon etwas übellauniger.
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘.
»Sarah, ich nehme es dir wieder weg!«, droht sie nun und verschärft den Ton in ihrer Stimme.
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘.
Ich sitze da und schmunzle in mich hinein, weil ich die Not der Mutter nachvollziehen kann: Zu laut darf sie nicht werden, Schimpfwörter darf sie nicht verwenden, körperliche Intensität verbietet sich ebenfalls. Doch was soll sie jetzt tun?
Ein letztes Mal höre ich laut den Namen ‚Sarah‘ … dann entwindet sie der Kleinen erneut ihr Spielzeug.
»Dib hea«, fordert Sarah dieses wieder ein.
»Nein. Du hörst nicht mit dem Klopfen auf. Und deswegen bekommst du es jetzt auch nicht mehr«, erklärt die Mutter ihr ihre Entscheidung.
»Diib heea«, fordert Sarah erneut.
»Nein.«
»Diiiib heeeea«, verlangt Sarah mit einer eindeutigen Verlängerung der Aussprache der einzigen Worte, die sie verwendet.
»Nein.« Aber dann legt sie erneut ihre Bedingung fest: »Außer du hörst auf, damit gegen die Stange zu klopfen, okay?«
In meinem Spiegel kann ich beobachten, wie Sarah zaghaft nickt. Also gut, sie hat ihr Ziel erreicht. Ihre Mutter reicht ihr ihr Spielzeug. Die Kleine schaut sich etwas im Bus um und scheint nach einem Publikum zu suchen. Ob sie mich bemerkt hat? Auf jeden Fall komme ich mit dem Zählen gerade mal bis zur zwölf (ich wollte wissen, wie lange sie an sich halten kann, und habe einen Countdown angefangen).
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘.
»SARAH«, faucht die Mutter die Kleine jetzt an.
‚Ding-Ding-Ding-Ding-Ding‘.
Wie kann ich der jungen Frau helfen? Eigentlich nur noch damit, indem ich selbst Sarah erkläre, dass ich bei dem Lärm, den sie da macht, nicht Bus fahren kann. Oder soll ich der Mutter eine alte Weisheit mit auf den Weg geben?
Sie würde lauten: ‚Alle großen Leute waren einmal Kinder, aber nur wenige erinnern sich daran.‘
Doch die Mutter kommt mir zuvor.
»SARAH«, faucht sie erneut und ohne Warnung entreißt sie der Kleinen wohl zum letzten Mal den Schlüsselring. (Das war mir jetzt endlich möglich auszumachen).
»Diiiiiiib heeeeeeea«, quäkt Sarah wieder voller Unzufriedenheit. Das Spiel war einfach zu schön.
Keine Reaktion kommt von der Mutter.
»Diiiiiiiiiiibb heeeeeeeeeeeeeeaaaa«, ist der nächste Versuch. Die Lautstärke schwillt an und eine Träne läuft über ihre Wange.
Und dann tut die Mutter etwas, womit ich nicht im Mindesten gerechnet hätte:
Sie steht auf, löst die Bremsen des Buggys, und verlässt mit ihrer Tochter den Bus. Wortlos zunächst, aber als die beiden an der vorderen Tür vorbeikommen höre ich von ihr:
»Na gut. Dann gehen wir heute eben nicht in den Tiergarten.«
Die einzige Antwort der kleinen Sarah sind riesige Kullertränen und ein verzweifelter Blick in meine Augen …