Edith

Diesen Brief schreibe ich, damit keine Zweifel aufkommen, nur, weil ich alt bin. Ihr sollt Bescheid wissen. Ich bereue nichts. Endlich ist Ruhe.

Sie haben mich nach Hause geschickt. Vorerst. In der Wohnung ist es still. Ich liebe diesen Frieden. Endlos lange habe ich mich danach gesehnt.
Werner? Werner, kannst du dich noch an das Huhn erinnern, das meiner Mutter wie ein Hund hinterhergelaufen ist? Wie ein Hund, hörst du, Werner?
Werner? Werner, weißt du überhaupt, dass Günther abgeschossen wurde? Von ganz oben? Der war doch bei den Fliegern. Die Jungs in den Flugzeugen hatten einen gefährlichen Job. Aber so ist das eben im Krieg oder nicht? Werner?
Werner? Werner, habe ich schon mal erzählt, dass wir früher nur Kartoffeln hatten? Die mochte ich nicht. Sie hingen mir zum Hals raus. Werner? Hab ich das schon mal erzählt?
Jahrzehntelang hat Edith mich mit ihren substanzlosen Geschichten gequält. Zu jeder Kleinigkeit erwartete sie einen Kommentar von mir. Werner? Werner? Mit der Zeit konnte ich meinen eigenen Namen nicht mehr ertragen. Selbst jetzt geht sie mir wieder auf den Wecker. Hätte ich diesen Brief besser nicht angefangen? Doch. Ich will, dass ihr wisst, wie Edith war.

Werner? Werner sehen wir uns gleich den Film an? Werner?
In die Küche bin ich gegangen. Sie saß im Wohnzimmer, redete und redete, stellte unaufhörlich Fragen, fing mit der Leier von früher an, die Hühnergeschichte, Günther, Kartoffeln. Und mein Name. Da bist du ja endlich, hat sie gesagt.
Wie sie da saß. Wie immer. Meistens im Morgenmantel, manchmal nur im Nachthemd, aber nie vernünftig angezogen. Was willst du mit dem Messer? Ihre Frage beantwortete ich umgehend.
Hätte ich damit rechnen können, dass sie so viel Kraft hat? Edith war schließlich ebenso alt wie ich, doch ihr Entschluss stand offenbar fest: Bis zur letzten Sekunde wollte sie weiter auf meinen Nerven herumtrampeln.
Sie bäumte sich auf. Ich rutschte ab. Ihren Hals erwischte ich dennoch. Immer wieder stach ich zu. Meistens traf ich die Couch. Edith schlug um sich. Schrie sie? Sie muss geschrien haben. Aber an Schreie kann ich mich nicht erinnern. Nur an die Ruhe danach.

Versteht ihr mich jetzt? Es war der einzige Weg. Gegen das Urteil könne ich Revision einlegen. Bis zum Abschluss des Verfahrens dürfe ich in meiner Wohnung bleiben. Fluchtgefahr bestehe bei mir nicht, haben die Richter gesagt. Wieso trauen die mir immer noch nichts zu?

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Oha, harter Tobak.
Ein paar Cent von mir:

hier hätte ich eher nochmal „Werner“ erwartet … z.B.: Sogar jetzt höre ich sie „Werner? Werner …“ sagen.

auch hier - Werner, da bist du ja endlich, …

und hier - Werner, was willst du mit dem Messer? Werner?

Ja, ich kann es mir vorstellen, wie ein Name als Waffe benutzt wird …:scream:

Das passt für mich nicht so recht, das ist zu, hm, harmlos. Hier könnte ich mir einen „Hinweis“ auf das nächste nervende Opfer vorstellen, die schrille Nachbarin, die hochmütige Bäckereiverkäuferin oder sogar die eigene Tochter, die fatalerweise bestimmte Charakterzüge von Edith geerbt zu haben scheint …:smirk:

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Harter Tobak, fürwahr, musste spontan an den den Stierkampf von Hannilein denken, aber da hieß der Mann Hans. Insgesamt eine gute Geschichte, oder ein guter Brief, aber der letzte Satz verwirrt mich auch, da scheint mehr zu kommen? Ein Rentner rechnet ab?

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Hi,

dann werde ich das Ende wohl ändern.

@Alex Sassland
Noch mehr Werners nerven meiner Ansicht nach den Leser und nicht Werner, oder?

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Könnte zwar sein, aber das ist ja das zentrale Stilmittel bzw. Thema.
Ich bin jedenfalls an diesen Stellen über den „fehlenden Werner“ gestolpert:roll_eyes:

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Das Ende ändern, kommt ja darauf an was du mit dem Satz bezwecken willst. Klar nervt WErner, darum geht es ja, und wenn der Leser genervt ist, versteht er es besser und kann sich besser reinfühlen. Das ist eine sinnvolle nervige Wiederholung, würde ich zumindest sagen.

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Mit dem Ende wollte ich eigentlich sagen, dass er fliehen wird, womit niemand rechnet. Den Mord hatte ihm auch keiner zugetraut. Wenn das nicht rüberkommt, dann ist es falsch oder nicht vernünftig darauf hingearbeitet.

Ich hänge nicht an exakt diesem Ende. Mein Mann findet das Ende toll.

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Vielleicht kann ich nach dem “Wieso trauen die mir immer noch nichts zu” noch als Schlusssatz schreiben, um @Alex Sassland s Vorschlag aufzugreifen: “Das Klaviergeklimper von nebenan nervt mich auch schon seit Jahren.” oder so etwas in der Art.

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Du könntest vielleicht oben bei Ediths Tiraden zwei-, drei Mal ein “Wernääär” einbauen und ganz am Schluss noch den Satz anhängen:
“Und diese Staatsanwältin … ich höre sie immer noch. Angeklagter? Angeklagtääär? Es bleibt noch viel zu tun. Wann kommt bloß das Taxi?”

Hier fehlt auf keinen Fall ein Werner, denn er ist genervt, weil er sich an sie erinnert. Sie geht ihm auf den Wecker, INDEM er sich an sie erinnert. Und er sagt ja nicht zu sich selbst Werner.

@RalfG - Das gefällt mir überhaupt nicht. Es würde den ganzen Stil der kleinen Geschichte verändern. Nicht zu vergessen, dass er einen Brief schreibt. Da würde er doch nicht fragend in den Brief schreiben, wann das Taxi kommt.

erweitert: Was willst du mit dem Messer, Werner? Werner? Ihre Frage beantwortete ich umgehend.
erweitert: Und mein Name. Werner, da bist du ja endlich, hat sie gesagt.
erweitertes Ende: Wieso trauen die mir immer noch nichts zu? Die wissen offenbar nicht, dass ich mich von niemandem mehr nerven lasse.

Jetzt sieht die Geschichte also so aus und ist meiner Ansicht nach rund.

Diesen Brief schreibe ich, damit keine Zweifel aufkommen, nur, weil ich alt bin. Ihr sollt Bescheid wissen. Ich bereue nichts. Endlich ist Ruhe.

Sie haben mich nach Hause geschickt. Vorerst. In der Wohnung ist es still. Ich liebe diesen Frieden. Endlos lange habe ich mich danach gesehnt.
Werner? Werner, kannst du dich noch an das Huhn erinnern, das meiner Mutter wie ein Hund hinterhergelaufen ist? Wie ein Hund, hörst du, Werner?
Werner? Werner, weißt du überhaupt, dass Günther abgeschossen wurde? Von ganz oben? Der war doch bei den Fliegern. Die Jungs in den Flugzeugen hatten einen gefährlichen Job. Aber so ist das eben im Krieg oder nicht? Werner?
Werner? Werner, habe ich schon mal erzählt, dass wir früher nur Kartoffeln hatten? Die mochte ich nicht. Sie hingen mir zum Hals raus. Werner? Hab ich das schon mal erzählt?
Jahrzehntelang hat Edith mich mit ihren substanzlosen Geschichten gequält. Zu jeder Kleinigkeit erwartete sie einen Kommentar von mir. Werner? Werner? Mit der Zeit konnte ich meinen eigenen Namen nicht mehr ertragen. Selbst jetzt geht sie mir wieder auf den Wecker. Hätte ich diesen Brief besser nicht angefangen? Doch. Ich will, dass ihr wisst, wie Edith war.

Werner? Werner sehen wir uns gleich den Film an? Werner?
In die Küche bin ich gegangen. Sie saß im Wohnzimmer, redete und redete, stellte unaufhörlich Fragen, fing mit der Leier von früher an, die Hühnergeschichte, Günther, Kartoffeln. Und mein Name. Werner, da bist du ja endlich, hat sie gesagt.
Wie sie da saß. Wie immer. Meistens im Morgenmantel, manchmal nur im Nachthemd, aber nie vernünftig angezogen. Was willst du mit dem Messer, Werner? Werner? Ihre Frage beantwortete ich umgehend.
Hätte ich damit rechnen können, dass sie so viel Kraft hat? Edith war schließlich ebenso alt wie ich, doch ihr Entschluss stand offenbar fest: Bis zur letzten Sekunde wollte sie weiter auf meinen Nerven herumtrampeln.
Sie bäumte sich auf. Ich rutschte ab. Ihren Hals erwischte ich dennoch. Immer wieder stach ich zu. Meistens traf ich die Couch. Edith schlug um sich. Schrie sie? Sie muss geschrien haben. Aber an Schreie kann ich mich nicht erinnern. Nur an die Ruhe danach.

Versteht ihr mich jetzt? Es war der einzige Weg. Gegen das Urteil könne ich Revision einlegen. Bis zum Abschluss des Verfahrens dürfe ich in meiner Wohnung bleiben. Fluchtgefahr bestehe bei mir nicht, haben die Richter gesagt. Wieso trauen die mir immer noch nichts zu? Die wissen offenbar nicht, dass ich mich von niemandem mehr nerven lasse.

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Ok. Es ist deine Geschichte und du sollst ja damit zufrieden sein :slight_smile:

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Ich finde den letzten Satz absolut richtig! - ohne den Nachsatz.
Genau so denkt ein Verzweiflungstäter, der sich ein Leben lang etwas hat gefallen lassen und irgendwann ausrastet.
Das ist ein direkter Hinweis auf eine eklatante Differenz zwischen Fremd- und Selbst-Bild!

Ich würde in dem Brief auch die korrekten Anführungsstriche setzen.
Das ist zwar in einem Brief eines vergleichsweise einfachen Gemütes (so wirkt Werner) nicht unbedingt zu erwarten. Aber das erhöht die Lesbarkeit und macht die Sache sehr viel leichter verständlich!

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Hallo Suse,

ich finde den “Brief” inhaltlich sehr interessant. Aber für den Brief-Charakter fehlt mit etwas. Entweder am Anfang eine Anrede - damit ich als Leser nachvollziehen kann, wer angesprochen wird oder ein überraschenderes Ende. Irgendwo musst du den Leser stärker “packen”.
Die Anrede muss nicht sein. Wenn der Empfänger nicht adressiert ist, kann sich sich jeder Leser angesprochen fühlen.
Dann wäre es aber nicht schlecht, wenn das Ende dem Leser eine Überraschung bietet … i. S. v.: “…wenn Du das liest, bin ich längst weg” oder so ähnlich.

Normalerweise würde ich dir Recht geben, doch empfinde ich meinen kurzen Text nicht als schwer verständlich oder schwer lesbar. Edith sagt daß Ganze ja nicht, weil sie schon tot ist. In seinem Brief erinnert er sich an Ediths Worte. Anführungszeichen würden hier stören.

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Och. Ist der Tötungsdelikt mit keinerlei Unrechtsbewusstsein denn nicht genug? Bei einem Roman würde ich dir Recht geben, bei einer “echten” Kurzgeschichte auch, aber bei den paar Zeilen?
Sehen die anderen das auch so wie @Neri?

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ich nörgele ja nicht am Inhalt (s. o.) … nur an der Form :wink:
“Form follows function” heißt es. Du hast die Briefform gewählt. Damit bekommen deine “paar Zeilen” eine besondere Funktion. Ich finde deine Idee richtig gut und finde schon deshalb, dass es sich lohnt das Ganze noch etwas runder zu gestalten. Nur meine persönliche Meinung, keine Regel und schon gar keine Besserwisserei :wink:

Nein, nein. So habe ich das auch nicht aufgefasst. Ich bin wirklich gespannt, ob andere das auch noch so sehen. Außerdem ist Nörgeln erlaubt, wenn man etwas zur Kritik veröffentlicht. :slight_smile: - an Form und Inhalt.

Was vielleicht an der Form noch fehlen könnte, wäre eine Anrede und eine Grußformel am Schluss, wie bei einem “normalen” Brief halt.
Eventuell.
Muss aber auch nicht, wenn ich mir vorstelle, Werner lässt den Zettel auf dem Küchentisch liegen und ist dann mal weg.

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