Ihr Lieben,
auch von mir nun eine Leseprobe. Ich gebe bewusst keinen Kontext, da es sich hierbei um die ersten Seiten der Geschichte handelt (den Prolog) und sie beim Leser auch ohne Erklärungen funktionieren sollten.
Ich freue mich darauf, von eurer Kritik zu lernen.
Entscheidungen
379 a.C. (anno Caliginis)
152. Nacht;
Zeitrechnung der Wanderer
Zeit der mittleren Nachtwache
Irgendwo in der Stadt der Toten
*Wenn Licht einst ist vergangen, oh, fürchtet die Schatten in der Dunkelheit! *
-Unbekannt
Er hatte keine Angst, dass sie ihn sahen.
Die Schatten der Stadt waren tief und dienten ihm als Versteck. Stets in Bewegung leckten sie am Gemäuer und verwirrten den Blick. Es war leicht, hier den Verstand zu verlieren, nicht umsonst machten die Wanderer einen großen Bogen um die Ruinen. Er aber hatte wie so oft nicht zu Ende gedacht, war getrieben gewesen von Wut und Hass und Enttäuschung.
Die Gefahr lag im ausgeprägten Geruchssinn der Stadtbewohner. Sie witterten Beute aus hunderten Metern Entfernung und diskriminierten bei der Jagd nicht zwischen schlagenden Herzen. War das Blut noch warm, landete man auf ihrer Speisekarte. Alles andere interessierte sie nicht, getreu dem Motto: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.
Er war am Arsch und er war selbst schuld. Sorge verdunkelte seine noch kindlichen Augen, doch er verwarf den Gedanken an Flucht genauso schnell, wie er ihm kam. Man konnte vieles über ihn sagen; er mochte ein Taugenichts sein, ein Tunichtgut, ein Träumer, aber ein Feigling war er nicht. Und selbst wenn, er würde gar nicht aus der Stadt herausfinden, denn schon auf dem Weg hinein, hatte er in kürzester Zeit die Orientierung verloren. Deshalb war er jetzt ja in dieser verzwickten Situation.
Vor ihm spaltete ein Durchbruch die Mauer. Das Fundament lag hier höher als die Straße auf der anderen Seite. Von dort könnte er sich auf einen der patrouillierenden Dämonen stürzen, noch bevor dieser ihn überhaupt bemerkte. Er schluckte hart, denn dass er kein Feigling war, bedeutete nicht, dass er nicht gewaltiges Muffensausen hatte. Doch das war es, was ihn von den anderen Mitgliedern des Trupps unterschied: Seine Angst lähmte ihn nicht.
Vorsichtig schob er sich näher an den Durchbruch. Es dauerte nicht lange, bis ein Gurgeln an seine Ohren drang und jedes seiner Haare zu Berge stehen ließ. Einmal mehr kämpfte er den Drang nieder, die Beine in die Hand zu nehmen.
Genauso hatte es geklungen, als seine Mutter mit aufgeschlitzter Kehle zu sprechen versucht hatte. Und genauso klangen die* Ash’Khanarr*, die Kreaturen, die nun schon so lange das Land heimsuchten. Es gab kein Zurück mehr, jetzt oder nie. Er sprang.
Der Dolch, mit dem er sonst Hasen das Fell über die Ohren zog, fraß sich tief in das Gehirn seines Opfers. Hinter ihm erklang ein durchdringendes Kreischen. Ein weiterer *Ash’Khanarr *hatte alles beobachtet und schlug Alarm. So viel zu seinem Plan, die Dämonen einzeln zu erledigen.
Die Kreatur war groß. Ihr Maul war so weit, dass sie Opfern mit einem einzigen, gewaltigen Bissen, den Kopf abreißen konnte. Enge Reihen spitzer Zähne setzten sich darin bis tief in den Rachen fort. Die Lippen, wenn man sie denn so nennen konnte, ähnelten ausgetrockneten Würmern und erlaubten einen direkten Blick auf fauliges Zahnfleisch.
Oberhalb des ewigen Grinsens fraß sich ein fleischig-rotes Loch in die Fratze. Die Haut darum herum war von Pusteln und Abszessen übersäht und hatte die Farbe von Leinen, die zu lange nicht gewaschen worden waren. Der haarlose Kopf wirkte zu groß und schwer für den ausgemergelten Körper. Eindeutig, er hatte es mit einem Greckal zu tun.
Der Schrei der Kreatur lähmte ihn. Erst als sie ihr Maul schloss, fand der Junge wieder zu sich. Umso hastiger zog er einen Langdolch aus seinem Waffengurt und zielte damit auf den Hals des Greckals. Wie Butter fuhr die Schneide durch Haut und Knochen. Der Kopf landete mit einem Schmatzen im Morast, der Körper kippte hinterher. Es war in diesem Moment, dass weitere *Ash’Khanarr *eintrafen.
Unter die Greckals mischten sich nun auch Krabbler. Ihre ledrige Haut, aus deren Poren bei Bedarf kleine Widerhaken schnellten, hatte die gleiche Farbe wie die Schatten um ihn herum. Spätestens jetzt war klar: Hätte er versucht, aus der Stadt zu fliehen, wäre er blind in ihre Kieferzangen gelaufen.
Zeit, sich zu fürchten, war keine. Schon hackten klauenbewehrte Vorderläufe auf ihn ein, Kieferzangen klapperten, Augen leuchteten gierig. Er wich aus, sprang nach hinten, duckte sich, stieß mit seinem Dolch blind in die Masse. Es war ein einziges Gewusel.
Er hatte sich gewaltig verschätzt, gewaltig überschätzt. Ein Held hatte er sein wollen und war doch nichts als ein Aufschneider. Seinen Bewegungen mangelte es an Präzision und Kraft, seine Angriffe waren unplatziert und hektisch. Einzig seiner Schnelligkeit verdankte er es, dass er noch stand. Davon, den Kampf für sich zu entscheiden, konnte er nur träumen.
Und doch, das Adrenalin, das durch seine Adern pumpte, trieb ihn zu ungeahnten Höchstleistungen an. So schnell wie heute, hatte er sich noch nie bewegt. Auch jetzt duckte er sich wieder unter einem Hieb hinweg, rollte außer Reichweite und sprang auf einen Mauerrest in der Nähe.
Kurz verschaffte er sich einen Überblick und stürzte sich dann wieder in die wogende Masse seiner Gegner. Es hatte nichts mit Können und noch weniger mit Intelligenz zu tun, dass er bei dem Sprung nicht den Tod fand. Wie durch ein Wunder verfehlte er die ausgestreckten Klauen und nagelte beim Landen zufällig einen Krabbler unter sich fest.
Der Moment des Triumphes hielt jedoch nicht lange an. Sobald ihm bewusst wurde, dass er sich nun im Zentrum des geifernden Pulks befand, verlor sich sein Grinsen wieder. Wäre Zeit dafür gewesen, hätte er sich an die Stirn gefasst und ungläubig den Kopf geschüttelt. Was für ein riesen Trottel er doch war.
Schon flog die nächste Klaue heran. Er warf sich nach hinten, stützte sich ab und trat dem Greckal über sich mit aller Kraft in die Fratze. Der verlor vollends das Gleichgewicht und stolperte einige Schritte rückwärts. Bevor er jedoch außer Reichweite war, griff der Junge beherzt zu und zog sich am nächstmöglichen Körperteil nach oben, Aus der Bewegung heraus versenkte er seinen Dolch im Bauch des Unglücksraben.
Wie sich herausstellte, wäre das allerdings gar nicht nötig gewesen. Bereits vorher quietschte der Greckal vor Schmerz laut auf, verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein. Erst da wurde dem Jungen bewusst, woran er sich hochgezogen hatte. Glück hatte das niemand gesehen.
Immer mehr Ash’Khanarr warfen sich ins Getümmel. Einige von ihnen mussten noch Frischlinge sein, denn sie reichten ihm gerade Mal bis zu den Knien. Dicht an dicht drängten sie sich, schlugen und bissen umso wilder. Dass sie dabei auch ihre eigenen Brüder und Schwestern verletzten, kümmerte sie nicht. Einige ließen sogar ganz von dem Jungen ab und stürzten sich stattdessen hungrig auf ihre gefallenen Geschwister.
Wieder sauste eine Klaue auf in herab und dieses Mal entkam er ihr nur knapp. Seine Bewegungen wurden langsamer, ungeschickter. Die Zahl seiner Gegner hingegen stieg trotz allem weiter an. Das Bild eines jungen Mädchens blitzte vor seinem inneren Auge auf. So hatte er sich das Ganze hier nicht vorgestellt. Und dann erwischte es ihn.
Plötzlicher Schmerz nahm ihm den Atem. Er fühlte sich, als hätte er jeglichen Halt verloren. Seine Knie wurden weich, die Welt verschwand in Finsternis. Erst jetzt, der Sicht beraubt, bemerkte er das ungewohnte Pulsieren. Blut sprudelte aus einer tiefen Wunde, die sich von Achsel bis zum Becken zog. Er fiel auf die Knie, spürte nur noch das Brennen und Reißen an seiner Seite.
So war das alles *echt *nicht geplant gewesen.
Er hatte gedacht, er würde im Angesicht des Todes in Panik verfallen. Doch entgegen seiner Erwartung war er völlig ruhig. Mit der Erkenntnis, dass nichts seinen Tod abwenden würde, fiel alle Angst von ihm ab. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er frei atmen.
Was sie wohl gerade tat? Es hieß, im Augenblick des Todes, sähe man das Paradies. Er aber, sah nur sie, dachte nur an sie und bereute, dass sie so wenig Zeit gehabt hatten. War es ein Fehler gewesen sich in die Stadt zu begeben? Er wusste es nicht.
Bereits jetzt vermisste er den Wind in seinen Haaren. Den Duft von klebrigem Harz in der Nase. Das Gefühl von Rinde unter den Fingerspitzen. Er würde seine Heimat nie wieder sehen, sich nie wieder unter tief-hängenden Ästen hinweg ducken, nie wieder über knorrige Wurzeln springen oder mächtigen Bäume erklimmen und nie wieder würde er ihre weichen Lippen auf seiner Wange spüren.
Unaufhörlich sprudelte das Blut. Der Schmerz war verebbt, und der Junge auf einmal so unendlich müde. Die Welt um ihn herum, verlor seine Gestalt, verschmolz zu einer einzigen schwarzen Masse. Das Letzte was er sah, war ein sonderbar heller Fleck, den rot glimmende Linien durchzogen. Schließlich, ohne seinen Blick noch einmal abzuwenden, kippte er in den Morast.
Verzeih mir.