Dogma 95

Davon war auch nicht die Rede. Es ist zudem nicht nur erlaubt, sondern nützlich, Regeln zu hinterfragen. Ein reines Einhalten von Schreib-Regelwerken, von denen inzwischen fast jeder namhafte Autor eines verfasst hat, führt nicht zwangsläufig zu einem guten Buch.
Ich bin, vielleicht altersbedingt, noch aus der Fraktion, die daran festhält, dass alle Menschen talentiert in irgendeinem Bereich, einige sogar in etlichen Sparten, sind. Es gilt herauszufinden, in welchen und nicht darauf zu vertrauen, dass jemand behauptet „Jeder kann schreiben“ (schreiben kann durch malen, musizieren, kochen, tanzen … ersetzt werden). Basics sind erlernbar, doch der Unterschied entsteht m.E. im geschenkten Talent. (Ich kann bspw. recht gut technisch zeichnen, bin aber im figürlichen Darstellen eine komplette Niete. Ich kann für den ‚Hausgebrauch‘ schreiben, werde aber nie das Niveau namhafter Autoren erreichen.)

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Haha, ich bin in einem Altersbereich, der mich denken lässt, dass fast alle Menschen untalentiert in fast Allem sind.
Möglicherweise ist das die gleiche Aussage.
Außerdem denke ich, wir sind ungefähr im gleichen Altersbereich.

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Ich habe schon eingangs erklärt, dass ich nur meinen Mostrich dazugeben kann. :wink:
Mein Plädoyer gilt nicht einem Regelwerk (das riecht in der Tat oft nach Dogma), sondern dem Handwerkszeug, das ich auch im künstlerischen Bereich für unabdingbar halte.

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Ich muss da noch einmal einen Schritt zurückgehen. Sollte mein Auftreten als zu „intensiv“ empfunden worden sein, so entschuldige ich mich dafür.

Es gibt eine Sache daran, die mich extrem triggert.
Stell dir vor. Du bist siebzehn, hoffnungslos verliebt und bastelst fünf Stunden an einem Liebesgedicht.

Dann kommt jemand, älter, gebildeter, toller akademischer Rang und Titel und haut dir um die Ohren, dass es konzeptuell nicht in Ordnung (Onkel Adorno ruft laut: „Barbarisch!“) so etwas zu schreiben - und womöglich auch noch als gelungen zu empfinden.

Das hat nix damit zu tun, dass alles beliebig sein soll und jeder Mist Kunst sein soll. Nur, wenn man mich fragt, wer im 20. Jahrhundert höheren Kunstanspruch hat: Eminem oder Shakespeares „Shall I compare thee…“, dann wüsste ich, in welchem Team ich spiele…

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Ojeh, da hab ich ja was angezündet am Sonntag Vormittag. - Dennoch, diese Diskussion hier (und mit wieviel gegenseitigen Respekt sie geführt wird) ist es, was die Qualität dieses Forums ausmacht.
Mich erinnert das ein bisschen an die Streitgespräche mit meiner Tochter (die Kunstfraufessor und Feministin), ob mein Lieblingsmaler Schiele denn nun Kunst oder Pornographie gemacht hat. Die Fronten kann man (und frau) sich in ihrer Härte gut vorstellen, aber auch wie sehr wir uns lieben und wie stolz sie mich macht (und angeblich auch ich sie).
Mit „Regeln“ meinte ich hier, einen gewissen Grundkonsens, auf den wir Schreibenden uns einigen können (wie die deutsche Rechtschreibung), aber die wir auch diskutieren und brechen können (wie in der Diskussion um das Gendern). Ich denke, dass ein gewisses Maß von Regeln wichtig ist, um miteinander auszukommen, aber auch dass ihr Bruch (wie bei Schiele oder Brecht) notwendig ist, weil es ohne diese keine Entwicklung gäbe. Wie sagte schon der Dalai Lama: „Lerne die Regeln gut, damit du sie besser brechen kannst!“
Und nichts anders meinte Adorno, glaub ich, als er hinterfragte ob eine Lyrik im Sinne von Goethe, Rilke etc. als Ausdruck der Deutschen Kultur (zu der ich die österreichische zähle) nach Auschwitz überhaupt noch gelten könne. Nun - Ingeborg Bachmann, Günther Grass und Erich Fried (um nur drei zu nennen) haben Adorno das Gegenteil bewiesen. Und gut wars.
Und Beuys Fettecke war auch nur der halbe Kuchen. Erst die Frage der Putzfrau, ob das Kunst sei oder weg könne, vervollständigte das Kunstwerk an sich, weil es damit eine bis heute andauernde Diskussion auslöste (wie auch Schieles Bilder oder Eminems Musik). Und wenn ein Werk (egal ob Musik, Malerei oder Schriftstellerei) so eine lange und breite Diskussion auslöst, eigene Dogmen hinterfragt und andere Perspektiven eröffnet, dann ist es in meinen unprofessionellen Augen, tatsächlich große Kunst.
Ich bin froh, hier bei euch zu sein, wünsche euch einen schönen Sonntag und fahre jetzt auf den Jahrmarkt ins Nachbardorf um mir dort unter anderem die Blasmusikkapelle zu geben. Habt noch einen schönen Sonntag, ihr Lieben!

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Solltest du dich bei mir entschuldigt haben (?), so musst du das nicht wirklich nicht! Wir alle sind emotionale Wesen (wie gut!) und so manches Pferd geht da mit uns durch. Eine gute Diskussion ist immer schätzenswert.

Ich kann mich gut in die Siebzehnjährige hineinversetzen und besonders gut in die Gefühlswelt (weit mehr als mir lieb ist) der Ablehnung, der Verurteilung oder Zurückweisung. Aber diese Siebzehnjährige exponiert sich nicht in der Öffentlichkeit mit einem kompletten Gedichtband – das ist der Unterschied. Als Eltern loben wir unsere Kinder, freuen uns (hoffentlich) mit ihnen über ihre selbstgemalten Bilder, vollkommen unabhängig von ihrer objektiven Qualität, aber wir bringen keinen Bildband heraus, um ihn auf den Buchmarkt zu werfen. (Ja, es gibt Ausnahmetalente.)

Es mag herzlos klingen oder kalt, aber Fakt ist, wir schreiben öffentlich. Und ein Buch ist ein Produkt, eine Ware, wie vieles andere auch. Unsere Bücher kosten Geld, das sich einige mühsam abgespart haben und Leser haben zu Recht Erwartungen.
Da reicht es nicht, zu sagen, es sei mit Herzblut geschrieben. Wir selbst verreißen hier doch selbst etliche Bücher ohne mit der Wimper zu zucken, sogar von Verlagsautoren. Müssten wir dann nicht ebenso konsequent alles loben, weil es möglicherweise aus traurigen Umständen entstand oder unerkannte Kunst ist?

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Oder meine viel zitierte „Stadt der Blinden“.

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Nö. Verreißen kann ich - mit Begründung - alles.
Was dem einen gefällt, hält der andere für Müll.
Ebenso kann ich totalen Schrott (in meinen Augen) bis in die höchsten Töne loben. Weil es so toll und außergewöhnlich geschrieben ist. Beispiel: Bret Easton Ellis’ Informers. Hochgelobt, in meinen Augen jedoch Papierabfall. Eins der wenigen Bücher, die ich abgebrochen habe.

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Das war auch eine rhetorische Frage. :wink:

Das ist der Kern der gesamten Diskussion! Und genau der Punkt, den ich für wichtig & richtig halte.
Sowohl bei Kritik, als auch bei Lob.

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