Dialog mit einem Charakter

Hallo zusammen,

wir hatten im Fantasy- und Schreibforum eine Schreibübung, die ich gerne auch hier mit euch teilen möchte. Es soll ein Dialog mit einem erfundenen Charakter sein, den man sich selbst einmal für irgendein eigenes Projekt ausgedacht hat. Ich hab mir meinen „Willi Wunderlich“ aus „Moringrad“ herausgepickt.
Viel Spaß beim Lesen und Kommentieren!

Gruß

Super Girl

Ich sitze im Bus von der Arbeit nach Hause und hänge einem Gedanken für mein neuestes Buchprojekt nach. Da tippt mich plötzlich ein Mann von hinten an. Ich wirble erschrocken herum. Den Fremden schätze ich auf Mitte fünfzig. Er ist nicht zu dick und nicht zu dünn, trägt keine Brille und hat keinen Bart. Ein blau-weiß-kariertes Hemd macht ihn für mich zu einem gewöhnlichen „Business-Typen“, wahrscheinlich ein Mitarbeiter eines Erlanger Großkonzerns. Ich versuche den Blick abzuwenden, um diesen Mann nicht anzustarren, was mir nicht gelingt. Ein Grübchen am Kinn des Mannes sowie der Wanderrucksack neben ihm auf dem leeren Nachbarsitzplatz passen nicht so recht in das Erscheinungsbild eines Siemensianers. Zu meinem Entsetzen spricht er mich direkt an.

„Ich weiß es einfach, du kennst mich!“
„Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Du bist die Autorin von „Moringrad - das dunkle Reich“. Sag bloß du erkennst mich wirklich nicht?“
Ich mustere den Mann ein weiteres Mal und verfalle in eine Art Schockstarre. Irgendetwas in mir hat „Klick“ gemacht.
„Willi? Willi Wunderlich? Das glaub ich jetzt nicht wirklich. Das muss ein Traum sein!“
Er kneift mich von hinten in den Nacken.
„Aua, das hat weh getan. Ist ja gut, ich glaube dir. Ich darf doch „Du“ sagen, oder?“
Willi nickt eifrig mit dem Kopf. „Danke dafür, dass du mir Leben eingehaucht hast. Ohne dich wäre ich Zara Zaudernicht, der Zauberin, nie begegnet. Unsere bisherigen Abenteuer in Moringrad waren sehr spannend. Wann schreibst du an deinem Projekt weiter? Ich möchte noch viel mehr Abenteuer mit Zara erleben!“

„Lassen Sie die Frau in Ruhe, Sie Spanner!“, ruft plötzlich ein älterer Mann mit weißen Haaren und Vollbart dazwischen.
Er steht auf und schlägt mit seiner Faust in Willis Richtung, doch dieser weicht dem Punch gekonnt aus.
„Von wegen Spanner. Wissen Sie eigentlich mit wem Sie reden? Mein Name ist Willi Wunderlich und ich bin ein unfreiwilliger Weltenretter! Warten Sie nur ab, bis meine Begleiterin Zara kommt und Sie verzaubert!“
„Natürlich. Und rosa Schweinchen können fliegen! Wenn Sie nicht augenblicklich die Frau in Ruhe lassen…“
„Dann was? Verklagen Sie mich, alter Mann, oder was?“ Kampfeslustig schaut Willi den Alten an.

Ich traue meinen Ohren und Augen kaum. Denn dieses neue Verhalten passt so gar nicht zu dem Willi, den ich erschaffen habe. Treuherzig, ein wenig naiv und stets darauf bedacht kein falsches Wort zu sagen. So habe ich Willi in Erinnerung. Als ich ihm seine Charakterzüge direkt ins Gesicht sage, verstummt er augenblicklich.

Da beginnt der fremde Fahrgast zu stänkern. Dem Busfahrer der 280er Linie reicht es endgültig. Er hält den Bus noch vor der Haltestelle „Neumühle“ an und bittet uns alle Drei unverzüglich auszusteigen. Ich komme seiner Aufforderung gerne nach. Willi trottet mir nur etwas widerwillig hinterher. Der Alte bleibt jedoch sitzen. Ich kann eine Diskussion zwischen dem Busfahrer und dem älteren Fahrgast beobachten. Willi ebenfalls. Er lächelt. „Danke nochmals, dass du mich erschaffen hast. Der genervte Blick des Alten ist einfach unbezahlbar!“

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Das ist genial.
Und belegt eindrücklich, dass selbsterschaffene Protas durchaus ein Eigenleben haben (können).

„Eigenleben“ - Hmmm. Vermutlich ist das etwas zugespitzt formuliert - das „Eigenleben“ entstammt doch in jedem Fall Ihrem Schöpfer, bzw. dem Gehirnbereich, den man präfrontaler Kortex nennt - es sitzen ja kaum die Figuren einer Geschichte irgendwo in der Gehirnrinde und verknüpfen Nervenzellen von Hand? Das wäre allerdings eine lustige Vorstellung … :wink:

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Die Figuren befinden sich in der Vorstellungswelt und suchen eifrig nach einem Portal zur realen Welt. :grinning: :upside_down_face:

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… der „kleine Mann im Ohr“ … womöglich gibt’s den ja doch?? :sunglasses:

Es ist kurz nach Mitternacht, als ich aufwache, den Mund voll Magensäure. Scheibenkleister, denke ich, wieder mein Antazidum vergessen. Ich wälze mich aus dem Bett, gehe ins Bad, hole mein Magenschutzgel und wanke schlaftrunken in die Küche.
Da steht sie, an den Esstisch gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, in einem karierten Männerhemd und kurzen Hosen. Ihre roten Haare leuchten und sie grinst. Ich schrecke kurz zurück, aber ich erkenne sie auf Anhieb. Vierzehnjährige Mädchen sollten sechzigjährige Männer nicht so lasziv angrinsen, denke ich, auch wenn sie etwas frühreif sind.
„Hallo Gabi“, sage ich.
„Hallo Papa“, antwortet sie.
„Ich bin nicht dein Vater.“
„Aber du hast mich erschaffen. Oder soll ich Robert zu dir sagen, wie dein Alter Ego in deinem Roman?“
Mein Blick fällt auf den tiefen, klaffenden Schnitt auf ihrem rechten Oberschenkel.
„Du blutest mir alles an hier“, sage ich.
„So hast du mich zurückgelassen am Ende des 17. Kapitels“, bemerkt sie schulterzuckend, „vor drei Wochen schon!“
Stimmt, denke ich und fühle mich wieder schuldig. „Soll ich dir die Wunde verbinden?“
„Das geht hier nicht“, lehnt sie ab, „Nur in deinem Roman.“
Ich nicke. Wo sie recht hat, hat sie recht.
„Willst du was trinken?“
„Cola mit Zitrone wäre super“ sagt sie, „Geht aber leider auch nicht.“
„Hätte ich ohnehin keines gehabt. Ich trinke schon seit Jahrzehnten kein Cola mehr. Und von Zitronen bekomme ich Magenschmerzen.“
Wir betrachten uns eine Weile stumm. Dann frage ich: „Wie kommst du überhaupt hier her. Du gehörst in meinem Kopf und in mein Manuskript, aber nicht hierher, in meine Küche!“
„Du hast mich gerufen“, behauptet sie.
„Ich? Wann?“
„Als du diesen Post von @SuperGirl im Forum der Papyrus-Community gelesen hast. Da dachtest du: ‚He, das würde ich auch mal gerne machen. Ein Gespräch mit Gabi führen!‘. Tja, und wupp, schon bin ich da.“
„Du bist eine Halluzination“, sage ich.
„Stimmt. Aber echt bin ich trotzdem. Genauso wie der Geschmack nach Cola mit Zitrone, der sich manchmal auf deiner Zunge bildet, wenn du über mich schreibst.“
Genauso, wie dein Kuss geschmeckt hat, den du mir vor 48 Jahren gabst, denke ich.
„Und was willst du?“, frage ich sie.
„Dass du deinen Roman weiterschreibst, alter Mann. Oder wie lange soll ich noch mit dieser Wunde hier im Klassenzimmer rumsitzen?“ Obwohl es ein Vorwurf ist, lächelt sie. Dann wird ihr Bild durchsichtig und löst sich langsam auf.
Sie hat recht, denke ich, ich muss weiterschreiben. Dann öffne ich den Kühlschrank. Wo heute Abend noch das Bier stand, sind jetzt zwei Dosen Cola. Und im Gemüsefach liegt eine Zitrone.

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Genial. Tolle Idee übrigens!

Das gefällt auch mir außerordentlich gut. :slight_smile:

:+1:

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Klasse!

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gefällt mir auch richtig gut, liest sich witzig, spannend und hat sogar einen Gag am Schluss.
Ich überlege nur grade, wenn man das als Fantasy- oder auch Horrorautor macht, was sich da dann hinterher im Kühlschrank findet … :wink: :astonished:

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… ein abgetrennter Kopf wäre das mindeste, was ein Horrorautor einbringen müsste. Beim Fantasyautor öffnet sich glaube ich mit der Kühlschranktür ein Portal … so wie in Ghostbusters? :slight_smile:

wäre ne Idee. Ich dachte zuerst allerdings an ein paar saftige Drachen-Nackensteaks …

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