Liebe Papyrusse und Papyrussinen,
um nicht einen bleibenden Eindruck als Splatterkönig zu hinterlassen, möchte ich eine schon etwas ältere Kurzgeschichte posten. Könnte auch das erste Kapitel einer Erzählung werden. Entweder eine Buddy-Geschichte oder auch was Psychomäßiges, da bin ich mir noch gar nicht drüber im Klaren.
Der Zugestiegene
Ranziges Licht kleckerte auf den Boden des verschlissenen S-Bahn-Wagens. Draußen in der Dämmerung huschten die verschneiten Felder zwischen Essen und Düsseldorf vorüber. Drinnen zierten dicke Schlieren braunen Matsches das Linoleum.
Der Anblick erinnerte mich an einen Urlaub, den ich als kleines Kind mit meinen Eltern auf dem Bauernhof verbracht hatte. Dort hatte ich zum ersten Mal einen Kuhstall von innen gesehen. In knallroten Gummistiefeln war ich enthusiastisch über den lehmverschmierten Boden gestapft.
Aber dort hatte sich alles zu einem stimmigen Ganzen gefügt: Der braune Matsch, das trübe Licht, das aus dickwandigen Fensterluken hereingesickert war, der dissonante Kanon stetigen Muhens und ein strenger Viehgeruch.
Ärger stieg in mir auf, denn dieser nostalgischen Erinnerung würde nun für immer der schale Beigeschmack eines schäbigen Zugbodens anhaften.
Das Abteil war nur spärlich besetzt; die Angestellten hatten schon lange Feierabend, und für die Nachteulen, die den Verführungen des Freitagabends entgegenfieberten, war es noch zu früh. Ich hingegen mochte diese undefinierte Zeit, genauso, wie mir die Dämmerung gefiel; solchen Momenten wohnte die Melancholie des Ungewissen inne.
Als die Bahn an der nächsten Station hielt, stieg ein junger Mann ein. Anfang Zwanzig, ungefähr in meinem Alter. Er brachte einen Schwall kalter Schneeluft herein und ließ sich, obwohl noch genügend Vierersitze unbesetzt waren, mir gegenüber auf die Bank fallen. Das machte mich auf Anhieb misstrauisch, denn es lag auf der Hand, dass der Typ irgendetwas von mir wollte. Niemand setzt sich einem Unbekannten in einem fast leeren Zug gegenüber, jedenfalls nicht zufällig.
Und tatsächlich, nachdem er seine Augen unstet durch das Abteil hatte schweifen lassen, fokussierte er seine Aufmerksamkeit auf mich.
»Scheiße kalt«, sagte er.
Ich sah mir den Typen genauer an. Er war barhäuptig und trug eine Sommerjacke über einem karierten Sporthemd, dazu Jeans und Turnschuhe.
Warum ging jemand bei Minusgraden aus dem Haus, als wäre er auf dem Weg in den Biergarten? Ich hatte mich in eine dicke Daunenjacke gemummelt und gefütterte Lederstiefel angezogen. Meine Wollmütze hatte ich in die rechte Jackentasche gestopft.
»Winter«, sagte ich achselzuckend. Schuss vor den Bug.
Wenn der Kerl auch nur über einen Hauch von Intelligenz verfügte, wäre ihm klar, was diese lakonische Antwort implizierte: Dass ich jemanden, der in dieser Jahreszeit mit einer Sommerjacke und Turnschuhen herumlief, für einigermaßen unterbelichtet hielt.
»Bin wohl etwas underdressed«, sagte er.
»Und, wie kommt’s?«, fragte ich. »Vergessen, vor dem Rausgehen aus dem Fenster zu schauen?«
Der Typ zog den Rotz hoch und quetschte eine Hand unter die Nasenlöcher. Die Aktion wurde von einem nassen, schmatzenden Geräusch untermalt. Er betrachtete seinen glasig schimmernden Handrücken und wischte ihn an seiner Jeans ab.
»Du bist witzig. Finde ich gut.«
Ich fand weniger gut, dass er das gut fand. Die Chancen, den Blödmann zügig abservieren zu können, schwanden.
»War gerade nichts anderes greifbar«, sagte er. »Aber dafür habe ich was zum Aufwärmen dabei.« Er fummelte in der Tasche seines luftigen Jäckchens herum und zog einen Joint heraus.
Ach herrje
Aus der anderen Tasche kramte er ein Päckchen Streichhölzer. Er neigte fragend seinen Kopf. Wollte sich wohl vergewissern, ob ich etwas dagegen hätte, oder, ob ich mitrauchen wollte. Ich machte eine unbestimmte Geste mit der Hand, die ausdrücken sollte, dass mir wurscht sei, was er vorhatte. Den wenigen anderen Fahrgästen war es wohl auch schnuppe, Hauptsache, sie hatten ihre Ruhe. Die konnte ich mir nun jedenfalls abschminken.
Der Typ ließ sich nicht zwei Mal bitten. Mit zitternden Fingern schob er die Streichholzschachtel auf. Er friemelte umständlich ein Hölzchen heraus, und nach einigen vergeblichen Versuchen, es über die Reibefläche in Brand zu setzen, gelang es ihm, den Joint in Betrieb zu nehmen. Nachdem er tief inhaliert hatte, hielt er die Luft an und mir die Tüte entgegen.
Ich winkte ab. »Nichtraucher«, sagte ich.
Der Typ ließ den Rauch genießerisch aus den Nasenlöchern strömen. Nach einem abschließenden Grunzen sagte er: »Es gibt Rauchen und Rauchen.« Diese gehaltvolle Aussage wurde von einem vielsagenden Grinsen begleitet. »Bist doch wohl nicht einer von diesen Asketen, oder?«
Wow, er hatte den Begriff »Asket« in seinem Wortschatz.
»Nee«, antwortete ich, »mir genügt der Alkohol.«
»Eigentlich kein schlechter Ansatz«, sagte er, nachdem er noch einmal an seiner Tüte genuckelt hatte. »Mich hat das Dope in die Psychiatrie gebracht.«
Fuck.
Ich riskierte einen längeren Blick auf ihn, als könne ich in diesen stechenden Augen den Grad seiner zerebralen Dysfunktionalität auslesen.
»Aber heute Abend bin ich ausgebüxt«, sagte er. »Alter, zwei Monate ohne Party. Das schießt den stärksten Elch aus den Socken.«
»Verstehe«, murmelte ich. »Willste nicht doch mal ziehen?«, insistierte er. »Mann, das Zeug fräst dir Karos in die Gläser!«
Ich schob meine Brille mit dem Zeigefinger auf die Nasenwurzel. Eine Geste, die ich bei anderen immer als grenzdebil wahrnahm und deshalb selbst tunlichst zu vermeiden suchte, aber im Moment hatte meine Selbstkontrolle den niedrigst möglichen Level erreicht. Ich war nicht scharf auf Karos in meinen Gläsern.
»Echt nicht. Werde mich nachher mit Wodka abschießen«, versuchte ich, mich seiner Diktion anzupassen.
»Sauber. Wo willste denn hin?«
»Habe noch keinen genauen Plan. Vielleicht in die Selbsttanke oder das Möbelhaus.«
Das waren zwei hippe Düsseldorfer Etablissements. Kneipen oder Bars oder sowas. Jedenfalls mit kleinen Tanzflächen und der Chance, eine Frau abzuschleppen. Frauen tanzten gerne.
»Nicht dein Ernst!«, rief der Typ und fuchtelte mit seinem Joint vor meiner Nase herum. »Da hängen doch nur affige Designertussis ab.«
Ich schwieg. Schließlich gehörte ich selbst zu den männlichen Vertretern dieser Gattung.
»Alter, nichts für ungut«, schob der Typ hinterher, als er gemerkt hatte, dass die Bemerkung bei mir nicht so gut angekommen war. »Ich stehe bloß eher auf härtere Schuppen. Wollte es heute eigentlich im ‚Brandmal‘ versuchen.«
Oha, das Brandmal. Legendenumwoben. Ein ehemaliger Gruftiladen, sehr düster und mittlerweile in der Hand von irgendwelchen SM-Typen. Man munkelte von Sex auf den Toiletten und Auspeitschungen nackter Leiber auf der Bühne. Alles nicht inszeniert, sondern ganz spontan, je nachdem wie das Publikum gerade so drauf war.
»Du glaubst, dass du in deinem Outfit da reinkommst?«, fragte ich. Das Brandmal war berüchtigt für seine strenge Türpolitik. Ohne schwarzes Leder lief angeblich gar nichts. Besser, man trug zusätzlich noch ein paar Pfund Metall im Gesicht.
»Normalerweise nicht«, räumte er ein. »Aber ich kenne die Betreiber. Ist noch nie vorgekommen, dass ich draußen bleiben musste.«
Ich hielt das für aufschneiderisches Geschwätz. Auch wenn da so ein harter Zug in seinem ausgezehrten Gesicht lag. Immerhin musste er die nächste Station raus, eine früher als ich, wenn er in den Laden wollte.
»Cool«, sagte ich. Die Bahn verlangsamte bereits ihre Geschwindigkeit. Gleich wäre ich den Typen los.
Mit einem elenden Kreischen kam der Zug am Bahnsteig zu stehen. Zischend entwich überschüssige Luft aus den Gedärmen des Bremssystems. Niemand machte Anstalten, aufzustehen.
»Äh, du musst hier raus«, sagte ich.
Der Typ lehnte sich zurück. »Ach weißte, ich steige mit dir aus. Kann ja mal die Designerläden checken.«
Schwerfällig ruckelnd setzte der Zug sich in Bewegung.