Ich hab einen Kalender mit „Schreibübungen“ zu Weihnachten bekommen - eigentlich soll es glaube ich eher ein positives Affirmations-Dings sein. Hab aber gedacht ich übe mich lieber an „Kurzgeschichten“ weil ich mit meiner eigentlichen Geschichte nicht weiter komme. Über Stilkritik/Anmerkungen usw. wäre ich sehr dankbar, Ich hab das Gefühl, das Forum hat mir schon ordentlich was beigebracht. Ach ja, das Thema sollte „Wofür mir Leute dankbar sind“ sein - irgendwie ist es aber doch wieder dark geworden.
Der Riss
Sie waren mir dankbar dafür, dass ich ihnen einen Ort gab, an den sie mit ihren Schmerzen gehen konnten. Nicht nur den körperlichen, sondern auch den verborgenen seelischen Schmerzen. Der körperliche Schmerz, so schien es, war gesellschaftlich tolerierter, daher wurden die seelischen Qualen in Schubladen versteckt, hinter all dem Kram, der am Tage aufgelaufen war. In gewisser Hinsicht war ich ihr Therapeut, wenn auch wider Willen, anscheinend jedoch so gut, dass sie meist zurückkamen. Dabei, so muss ich zugeben, sagte ich wenig und hörte viel.
Nachdem sie mein Zimmer verlassen hatten, schüttelte ich ihre Geschichten ab, als wären sie kleine Sandkörner, die der Wind auf meine Haut geblasen hatte. Natürlich verklemmte sich hier und da ein Sandkorn unter meinen Fingernägeln oder blieb in meinen Haaren hängen. Doch im Großen und Ganzen nahm ich ihre Geschichten nicht mit. Ja, im Großen und Ganzen konnte ich meine Welt vor ihrem Schmerz schützen.
Doch an einem Montag im Januar, es war kalt und ich erinnere mich, dass eine Krähe vor meinem Fenster im Schnee pickte, trat S. in mein Zimmer.
Das Erste, was mir an ihr auffiel, waren ihre Lippen. Mir ist die Oberflächlichkeit dessen klar, doch ich möchte ehrlich bleiben. Obwohl sie ungeschminkt war, waren ihre Lippen in einem zarten Rosa gefärbt und auf ihrer geschwungenen Oberlippe saß, wie zufällig dahin gemalt, ein kleiner Leberfleck.
„Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Es heißt, Sie können Schmerzen nehmen?“, fragte sie und wartete auf meine Antwort.
„Das wird mir wohl nachgesagt“, antwortete ich so diplomatisch und wage wie möglich. Was sollte eine so junge Frau zu mir führen? Ich signalisierte ihr fortzufahren.
Ohne mich anzuschauen begann sie zu reden und so änderte sich Wort für Wort mein bisheriges Leben.
„Vor kurzem stand ich auf einer Lichtung“, sagte sie. „Es war Nacht und unendlich still.“
Sie sprach leise, kaum hörbar und schaute dabei auf die Finger ihrer linken Hand, die sich langsam umeinander bewegten.
„Ich hörte kein Rascheln und die Bäume warfen böse Schatten, wie Gefährten aus einer anderen Welt.“
Ihre Stimme zitterte, doch wirkten ihre Worte gewählt, poetisch beinahe und zwischen ihren Sätzen hingen lange Pausen.
„Ich weiß, da war etwas Anderes. Etwas, das mich lähmte, ich konnte keinen Schritt mehr tun. Meine Luft, sie wurde knapp und mein Herz, es wurde so schwer. Ich war wie getrieben, ich wusste nicht, wie ich in den Wald gelangt war. So stand ich und wartete - auf mein Schicksal vielleicht. Dann trat es zu mir, es kam aus den Schatten, ich kann es nicht beschreiben und wenn ich es müsste, so würde ich sagen, es war das Grauen selbst.“ Sie zögerte, als würde sie an dem Gesagten zweifeln. „Sie denken bestimmt, ich bin von Sinnen. Vielleicht, wer weiß, so bin ich das. Wer weiß“, so gab sie mir als Ausweg, „vielleicht hab ich’s nur geträumt. Doch die Dunkelheit, sie macht mir seit dem Angst.“
Nachdem sie nicht weitersprach entgegnete ich: „Traum und Wirklichkeit liegen in manchen Nächten nah beieinander. Doch jeder Traum geht dann zu Ende, wenn man die Augen öffnet. Und das Grauen, es verblasst im Licht.“ Ich gebe zu, ich war naiv und unbedarft.
Sie nickte schweigend, ging und kam nie wieder.
Seitdem sie fort ist höre ich die Stille rufen. Wenn niemand spricht und ich alleine bin.
Ich denke, ich werde ihr folgen.