Deine Tipps, Figuren zu schreiben, mit denen du wenig gemeinsam hast?!

Wenn wir schreiben, schlüpfen wir in die Leben unserer Figuren – morgens Rettungstaucherin, abends Rennfahrer! :checkered_flag:

Wie schreibt ihr Figuren, mit denen ihr wenig gemeinsam habt?

Vielleicht haben sie Dinge erlebt, die ihr nie erfahren habt und Fähigkeiten erworben, die euch fremd sind. Oder sie sind charakterlich ganz anders als ihr – möglicherweise sogar extrem unsympathisch!

Nähert ihr euch solchen Figuren über Recherche? :mag: In welche eurer Figuren konntet ihr euch sofort hineinversetzen, bei welchen hat es gehakt? Und woran lag das?

Einmal habe ich es aufgegeben, aus der Perspektive einer alten Dame zu schreiben, die als junge Frau den Krieg überlebt hat. Ihre Lebenserfahrung schien von meiner so weit entfernt, dass ich ihr trotz allen Wissens keine authentische Stimme geben konnte.

Gibt es Figuren, aus deren Perspektive ihr nicht schreiben könntet oder möchtet?

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Hallo, ihr Lieben,
ich kann großen Abstand zu den Figuren finden, die absolute Negativpersonen sind, indem ich sie „entmenschliche“, sie quasi auf ihre Auffälligkeiten (Äußeres / Benehmen) reduziere und die „Einzelteile“ personifiziere.
„Er besinnt sich kurz, hofft, dass der Schlapphut das Berlinerische wirklich nicht versteht …“
„Das Gesicht unter der Hutkrempe dreht sich von den Briefkästen weg, legt sich in Falten, und sprüht über die Lippen: …“
„Stille. Der Hut wandert auf die Strohhaare, die Hand mit den dicken Goldringen greift nach dem Koffer, schnelle Schritte klackern dem Ausgang entgegen.“
Jetzt fällt mir gerade von Robert Merle „Der Tod ist mein Beruf“ ein. Die Darstellung des Schreibtischmörders … Ich hätte bei einer derartigen Beschreibung wahrscheinlich meine gesunde Psyche eingebüßt.

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Dann hat der Leser nachher auch großen Abstand. Der „Hut“ bleibt vage und lässt den Leser im Dunkeln tappen. - Möchtest du nicht, dass sich die Leser in die Figur hineinversetzen, die du erschaffst?

Bei mir ist es so, dass ich absichtlich Distanz schaffen möchte. Das kommt auf die Figur an. Wenn ich eine unsympathische Person habe, soll auch der Leser diese Person unsympathisch finden. Das hat bei mir jedoch damit zu tun, dass eine solche Person meine Geschichte nicht unbedingt überlebt.

Ich lese gerade einen Roman von John Irving (Die Geschichte vom wilden Wassertrinker). Da kann ich mich in keine der Figuren hineinversetzen. Die snid irgendwie alle völlig durchgeknallt.

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Ich möchte, dass bei meinen Figuren nachvollziehbar ist, warum sie etwas tun, im weiteren Sinn auch, warum sie so sind wie sie sind. Sie quasi zu entmenschlichen finde ich nicht optimal, dabei verliert man (= Leser) sehr schnell den Bezug zu ihnen bzw. baut ihn gar nicht erst auf.

Auch beim schlimmsten Übeltäter finde ich es viel interessanter zu lesen, warum er z.B. zum Serienfrauenmörder geworden ist, als mit einem ‚Kuno hasste nichts mehr auf der Welt als blonde Frauen‘ vom Autor abgespeist und vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.

Auf diese Weise muss man sich als Leser in die übelsten Schurken nicht komplett hineinversetzen, kann ihre Entwicklungen (und damit meist auch den Plot) aber logisch nachvollziehen und verstehen.

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Der Leser soll sich auf keinen Fall in MEINE Figuren hineinversetzen.

Es ist so, dass andere Autoren z. B. einen Massenmörder als liebenden Familienvater darstellen können und „Verständnis“ für seine menschenverachtenden Aktionen aufzubringen scheinen (R. Merle „Der Tod ist mein Beruf“). Ich allerdings bringe das nicht. Ich will gar nicht in solche Fußstapfen treten, weil mich das psychisch zu lange, zu intensiv beschäftigen würde. Meine heile Seele ist mir heilig, mein hoffnungsvoller Zukunftsblick. So mache ich mit Herzblut meinen „Job“, ohne mir selbst eine emotionale Überbelastungsanzeige auf den Schreibtisch legen zu müssen.

Dass aus einer anfangs unsympathischen Figur ein Sympathieträger werden kann (und umgekehrt), ist klar. Bei denen gehe ich natürlich völlig anders vor. Mit denen möchte ich die Selbstreflexion des Lesers anschubsen. Mir macht es beim Schreiben Freude, die Ecken und Kanten der einzelnen Figuren darzustellen, fast, bis sie von dem einen oder anderen Leser geliebt werden :wink: Da schreit mein inneres Schreibteufelchen: Hurra! Nieder mit dem Perfektionismus! Es lebe der Fehler, der vorantreibt!

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[quote=„Yoro, post:5, topic:25465“]
Ich möchte, dass bei meinen Figuren nachvollziehbar ist, warum sie etwas tun, im weiteren Sinn auch, warum sie so sind wie sie sind

Leah: Ja, da pflichte ich dir unbedingt bei. Da sind wir auch noch bei der thematischen Fragestellung von Elisabeth.

Das Folgende, glaube ich, weicht von ihrer Grundidee ab. Sie wollte m. E. wissen, wie oder inwieweit wir es als Schreiber(innen) schaffen, uns in die Negativfiguren hineinzuversetzen. Es ging ihr wohl nicht um die Schreibtechnik. Oder? Vielleicht bin ich gerade auf dem Holzweg.
Und da hat jeder sein eigenes Rezept, dass er/sie als kleine Anregung für Schreibanfänger ausplaudert.
Habt weiterhin enthusiastische Schreibfreude - alles, was der Seele gut tut, sie entlastet und anderen über Nachempfinden auf die Beine hilft oder noch mehr stärkt.

[quote=„Yoro, post:5, topic:25465“]
Yoro:
Auch beim schlimmsten Übeltäter finde ich es viel interessanter zu lesen, warum er z.B. zum Serienfrauenmörder geworden ist ,*
Mensch Yoro, du hast mich eben auf einen Gedankengang geschoben, der bei mir längst verschüttet war. Fühl dich einfach dankbar umarmt, auch wenn du keine Ahnung hast, welche Muse du gerade bei mir geweckt hast. :hugs:

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[quote=„Elisabeth, post:1, topic:25465“]
Nähert ihr euch solchen Figuren über Recherche?

Ja, ganz viel Recherche. Eigene Erfahrungen können womöglich zu eingefahren sein.

  • Einäugigkeit / Tunnelblick …

Wer z. B. das Thema Jugendkriminalität im Auge hat, kann sich an die Präventionsteams ihres Polizeipräsidenten wenden (Es reicht ein angemeldetes Gespräch in der Wache um die Ecke :)) Unglaublich, wieviel aktualisierte Bücher zu diesem Thema es gibt. Ein Einstunden-Gespräch mit einer / einem Präventionsbeauftragten könnte ganze Bücher füllen. Es gehen dem Otto-Normal-Verbraucher viele Lichter auf. Diese Thematik zu recherchieren ging für mich schnell. Viel schwerer ist es, in Altersheimen Auskunft zu bekommen. Da müsste man schon auf Arbeitnehmer in zwei oder drei Einrichtungen mindestens!!! zurückgreifen und sich selbst überzeugen können. (Zu Corona-Zeiten unmöglich.)

Ja, „Welser“ sind für mich (ich meine nur mich!, und nicht euch, all ihr lieben Kollegen, die ihr ohne Recherchen auskommen könnt) eine Menge Recherchearbeit. Bei Kurzgeschichten (die in Deutschland wenig und nur in Anthologien gefragt zu sein scheinen,) recherchiere ich nie. Das ist auch aufgrund des Genres nicht nötig, hat man da doch nur Alltagswissen, offene Augen und Empathie einzubringen.
MEINE „Bücher“, also Erzählungen, Novellen, Romane, kommen nicht ohne viel, viel Recherche aus, da ich authentisch bleiben will. Meine Erfahrung ist, dass die Recherchen viel länger dauerten, als das Schreiben an sich.

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Ich habe das mal gemacht und mit den Bewohnern gesprochen, nicht mit den Beschäftigten. Hab gefragt, ob sie sich wohlfühlen usw. Schon allein der Eindruck, ob es in dem Heim lebhaft war oder still wie in einer Gruft war sehr hilfreich. Das war jedoch vor Corona.

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Wäre nicht gerade das die wahre Herausforderung? :wink:

Gruß,
misc

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Ich versuche schon, mich in meine Figuren hineinzuversetzen, denn es gibt ja immer Gründe, warum sie so sind, wie sie sind.
Wenn eine Figur z.B. Menschen hasst, suche ich nach etwas, das ich in meinem Leben hasse, und versuche, dieses Gefühl auf die Situation meiner Figur zu übertragen.

Wir werden sehen, ob das klappt.

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Interessant, danke!

Würdest du es schaffen, deinen Lesern eine Innenperspektive des Schlapphuts zu geben? Also zum Beispiel ein Kapitel aus seiner Perspektive zu erzählen, mit vollem Einblick in seine Gedanken und Gefühle, in seiner eigenen Tonart?

Zweifelsohne. Aber es gibt Herausforderungen, denen kann, möchte oder sollte ich mich nicht stellen. :grin:

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Natürlich entscheidet jeder Autor selbst, ob überhaupt und wenn, wie tief er in einen seiner Charaktere eintauchen möchte. Je wesensfremder dieser Charakter dem eigenen Ich ist, desto schwieriger dürfte das sein. Beispiele dafür, dass es dennoch möglich und überzeugend umsetzbar ist, gibt es aber. Die Figur des Hannibal Lecter von Tom Harris etwa, oder Annie Wilkes in Kings „SIE“. Allerdings sind das auch recht extreme Beispiele (hinsichtlich der Figuren und Deiner Fragestellung).

Nehmen wir ein anderes Szenario:

Schmücken wir das ein wenig aus: Die alte Dame ist mittlerweile verstorben (was ich ihr natürlich nicht wünsche!), ihre Geschichte hat sie nur Dir erzählt. Eine richtig gute Geschichte, eine, die unbedingt geschrieben werden sollte. Jedoch niemand kennt sie - nur Du. Bleibt sie unerzählt, weil Du fürchtest, ihr nicht die richtige Stimme geben zu können, oder nimmst Du die Herausforderung an?

Vielleicht sollte man Deine Fragestellung auf zwei Ebenen betrachten. Die eine wäre, ob man eine Figur schreiben kann, die den eigenen Werten, moralischen, religiösen oder sonstigen Überzeugungen völlig entgegensteht. Bis zu einer gewissen Grenze: ja. Über diese Grenze hinaus (die jeder für sich selbst definieren muss): nein. Man muss sich schließlich nicht alles antun, was schreibbar ist.
Die andere wäre - sofern die Figur nicht durch dieses erste Raster gefallen ist - ob man sich zutraut, das richtig hinzubekommen. Der Figur, wie in Deinem Beispiel, die „authentische Stimme“ zu geben. Sie überzeugend darzustellen. Auch dies ist eine sehr persönliche und individuelle Entscheidung, die, wie auch immer ausfallend, zu respektieren ist. Auch, wenn dadurch eventuell der Welt die eine oder andere tolle Geschichte verloren geht.

Gruß,
misc

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Und, liebe Elisabeth, danke für deine Gedankenanschübe. Die sind wunderbar. Im von dir angeregten Austausch kommen manchmal Blitzideen auf, die sich wohlig an meinen aktuellen Plot anschmiegen, dass es flott weitergeht. Nochmals liebsten Dank.
Leah

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Ja, das könnte ich.

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Macht es das nicht sogar leichter, sich in sie hineinzuversetzen? :laughing: Darüber spreche ich in der nächsten Sitzung mit meinem Psychotherapeuten …

Hoffentlich wird das nicht zu teuer.

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Dann kann ich dir guten Gewissens empfehlen, kein Buch von mir zu lesen. Normale Leute sind aus. Über die will ich nichts lesen und über die kann ich nichts schreiben.
Also, normal sind sie schon, aber im Sinne von, sie sind keine Superhelden und -heldinnen, oder alle wunderschön und einzigartig, es sind Leute wie du und ich, die in Situationen kommen, wo normales Handeln niemanden mehr weiterbringt. Es gibt kaum was Schlimmeres, als Alltäglichkeiten lesen zu müssen. Völlig durchgeknallt klingt da schon besser. Ich jedenfalls hab noch jedes Buch von Irving verschlungen.

Sicher? Wir reden hier von hundertfünfzig Jahren moderner Serienmördergeschichte. Kann man in so jemanden eintauchen? Oder ist das angebliche Eintauchen nicht nur eine Reflexion des bis daher Gelesenen und Gesehenen? Haben wir unser Wissen über sie nicht aus hunderten von Büchern und Filmen vor uns? Und wissen wir, ob die alle recherchiert sind oder voneinander abgeschrieben haben? Wir erklären unsere Figuren und ihre Taten durch ihr angebliches Vorleben. Doch unsere Gehirne sind gesund. Im Gegensatz zum Serienmörder. Kann man so etwas erklären? Rechtfertigen? Anscheinend. Wenn einer leichte Verfehlungen macht, dann ist er einfach ein Arsch. Da fragt niemand nach, warum und wieso. Wenn einer Frauen umbringt hingegen schon. Vielleicht ist er auch nur ein Arsch? Kann man wirklich ergründen, warum er dazu wurde? Oder arbeiten die Krimi- und Thrillerautoren in dem Fall nicht zwangsläufig so ähnlich wie eine KI, indem sie dieselben Argumente wieder und wieder und wieder bringen? Wir erklären uns zu Tode (ich nehme mich nicht aus) und müssen letztlich doch zugeben, dass wir raten oder schätzen. Jedenfalls so lange wir nicht selbst reihenweise Leute umbringen.

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