Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon in diesem Raum sassen. Der Strom war ausgefallen und das eigentlich sonst taghell erleuchtete Vernehmungszimmer bis auf eine winzige Funzel über ihnen dunkel. Man hörte das Summen des Notstromaggregats und Stimmen drangen von draußen leise herein. Irgendjemand hatte, wofür auch immer, einen Timer auf seinem Handy eingestellt, denn in regelmäßigen Abständen erklang leise das Piepen des Alarms. Oder war es ein akustisches Signal, dass es keine Verbindung zum Netz aufbauen konnte? Jedenfalls nervte es sie gewaltig und sie wunderte sich, dass es noch niemand ausgeschaltet hatte. Sie konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. Sie war Polizistin und Ihr gegenüber saß der Hauptverdächtige.
Vor ihm, auf dem sonst leeren Tisch, ein Umschlag mit den Bildern des Opfers. Er hatte ihn nicht angerührt und sie musste ihn nicht öffnen, um die Bilder erneut zu sehen. Dutzende Stiche in den Oberkörper, überall Blut.
Durch die schwache Notbeleuchtung konnte sie den Mann kaum erkennen, eine Silhouette gegen die Wand hinter ihm. Sein Gesicht kaum mehr als ein Schatten. Sie kannte ihn. Irgendetwas in ihrem Kopf sagte Ihr, dass er ihr nicht unbekannt war. Aber sie konnte den Gedanken nicht greifen, ihn keinem Ihrer alten Fälle zuordnen. Wieder und wieder hatte sie ihn mit den Geschehnissen konfrontiert: die kleine Wohnung über dem Lebensmittelladen, die aufgebrochene Tür, die leblose Frau auf dem Boden in ihrem Blut.
„Wer sind Sie? Warum waren sie am Tatort?“
Schweigen war bisher die einzige Antwort gewesen, die sie bekam. Doch nun verzog er die Lippen mit einem Mal zu einem schmalen Grinsen.
„Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Nicht einmal meine Identität.“
Nur zu gut wusste sie, dass er recht hatte. Durch den Stromausfall konnten sie nicht auf die Datenbank zurückgreifen. Auch die Telefone schwiegen. Bis auf das nervige Handy vor der Tür.
„Sobald der Strom wieder da ist, können wir ihre Fingerabdrücke überprüfen und ihre Identität feststellen. Das ist nur eine Frage der Zeit, und Zeit, die haben wir hier gerade zur Genüge.“
„Wenn Sie das sagen.“
Seine Ruhe zerrte an ihren Nerven.
„Also, nochmal: Wer sind sie und was hatten sie dort zu suchen?“ fragte sie erneut.
„Ich wollte nur einen Brief abholen, das habe ich ihnen schon gesagt. Mehr nicht!“
„Und dabei haben Sie das Opfer vorgefunden und die Polizei gerufen?
„Richtig!“
Seine überhebliche, aalglatte und selbstgefällige Art widerte sie an.
„Ach so, und dabei haben sie sich dann zufällig im Blut des Opfers gewälzt? Ihre gesamte Kleidung ist davon bedeckt, also lügen sie mich nicht weiter an!“
Das Licht flackerte plötzlich auf. Für eine Sekunde sah sie sein Gesicht und erstarrte. Draußen riefen aufgeregte Stimmen durcheinander. Irgendetwas musste passiert sein. Das Piepen wurde lauter.
„Ich kenne Sie…“ Überlegte sie laut.
„Nein, tun sie nicht. Sie wissen nichts über mich.“
War das Unsicherheit in seiner Stimme? Kam Sie endlich weiter?
„Doch, ich bin mir so sicher.“
Wieder flackerte das Licht. Sein Gesicht war erneut für ein paar Sekunden in Licht getaucht.
„Jetzt weiß ich, woher ich sie kenne!“ entfuhr es ihr schockiert und sie sprang auf. Er tat es ihr gleich und versuchte, sie zu packen.
Das Licht ging wieder an. Nach dem langen Dämmerlicht war es so grell, dass sie die Augen schließen musste. Er durfte sie nicht zu fassen bekommen, sie musste die Tür vor ihm erreichen. Sie riss trotz der Helligkeit die Augen wieder auf, packte die Türklinke, riss die Tür auf und blickte in das Gesicht einer Unbekannten.
„Heilige Scheiße, sie kommt zu sich! Ruft sofort den Arzt!“
Der Herzmonitor piepte im Einklang mit ihrem Herz.
Wie hatte er ihr das nur antun können? Sie hatte ihn doch geliebt.