Aénor Leben geben

Fortsetzung Teil 2
…Welcher König würde sich das entgehen lassen?«

Nachdenklich betrachtet Aènor ihre Mutter, die jetzt neben ihr auf der Gartenbank Platz genommen hat und das Köpfchen ihrer schlafenden Enkelin liebkost.
Amauberge ist immer noch wunderschön. Die rot geflammten Haare, die großen hellblauen Augen, der leicht spöttische, immer zum Lächeln aufgelegte Mund.

Die Gelegenheit ist günstig. Und sie will es schon so lange wissen. »Maman?« Leise, zögerlich kommt ihr das Wort über die Lippen. Amauberge wirft ihr einen fragenden Blick zu und hebt eine Augenbraue. Im Gegensatz zu ihrer Tochter ist sie für das höfische Leben geboren. Die Augen und Ohren immer empfangsbereit, jeden Unterton aufnehmend, jede Bewegung bemerkend, entgeht ihr so schnell nichts, was am Hof ihres Geliebten passiert. Sie ist immer konzentriert und jederzeit bereit, geschickt auf alles zu reagieren.
Jetzt aber legt sie zart zwei Finger unter Aénors Kinn, zwingt sie so, den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu schauen. »Was bedrückt dich, mein Kind? Ist etwas nicht in Ordnung mit dir? Geht es dir nicht gut?« Aénor atmet tief durch und nimmt ihren ganzen Mut zusammen.
»Ja. Nein. Also. Ich meine… Maman. Warum hast du uns damals verlassen? Warum hast du mich allein gelassen? Warum hast du mich nicht mitgenommen? Ich…« Weiter kommt sie nicht, die Stimme versagt ihr und sie schlägt die Lider nieder.
»Ach Aénor.« Amauberge streicht ihr übers Haar, dreht sich ein wenig und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Steine des Turms. Ihres Turms, den Maubergeon, den sie hier bewohnt. Sie legt den Kopf ein wenig schief und geht in Gedanken zurück zu diesem Tag. Damals, vor acht Jahren. Und dann erzählt sie. Erzählt ihrer Tochter, was wirklich geschehen war.

»Ich war an diesem Tag fest entschlossen, euch alle zu verlassen. Deinen Vater, Aimery, den angesehenen Vicomte de Châtelleraut. So ehrenhaft, so langweilig. Er hat mich immer Dangerosa genannt. Dangerosa. Als ob ich eine Gefahr sei. Offenbar war ihm schon ein kleines bisschen Temperament und Lebenslust zuviel.
Und euch wunderbare Kinder. Ihr wart gesund und bei euren Ammen und Erziehern sehr gut aufgehoben. Doch ich durfte euch die meiste Zeit nicht sehen. Das gehöre sich nicht für eine Dame von Stand.«
Amauberge schnaubt verächtlich. »Stell dir das vor, ma petite. Was kann besser sein für Kinder, als bei ihrer Mutter zu sein. Sag mir das.«
»Mit den Jahren fühlte ich mich immer mehr gefangen. Ich bekam kaum noch Luft. Ich war jung, ich liebte Musik, ich wollte tanzen, ich wollte leben. Und ich wollte Liebe!
Eines Tages kam dein Onkel Pierre von Poitiers herüber und brachte einen Brief für mich mit.
Er war damals Canonicus in Saint-Pierre de Poitiers und hatte dort oft am Hof zu tun. Auf meinen fragenden Blick hin zuckte er nur mit den Schultern und begab sich in die Halle zu deinem Vater.

Ich betrachtete den Brief, das kostbare Papier, die schöne Schrift, in der mein Name geschrieben war:
Amauberge de L’Isle Bouchard
Das war seltsam. Wer schrieb mich unter meinem Geburtsnamen an, hier im Hause meines Gemahls? War das Unwissenheit oder ein gewagter Affront? Mir wurde plötzlich ganz heiß und ich eilte in den Garten, um den Brief ungestört und ungesehen lesen zu können. Meine Augen flogen über die Zeilen, ich sog die Worte regelrecht auf, konnte kaum glauben, was da stand. Es war unfassbar, absolut ungehörig, und ich war hellauf begeistert.

ER, Guilhem lX., der Herzog von Aquitanien, der Lehnsherr deines Vaters und weit über die Grenzen hinaus bekannter Troubadour, verlangte nach mir.
Dieser berühmte Guilhem, der so mächtig war wie liebenswürdig, so lebenslustig wie skrupellos, so verführerisch wie unnachgiebig.
Sein Hof in Poitiers war der schillerndste und lebendigste in ganz Frankreich und bei einem der offiziellen Feste hatte ich wohl die Aufmerksamkeit und das Verlangen dieses Mannes auf mich gezogen. Als er mich wollte, ging ich zu ihm, ohne mich noch einmal umzusehen.«

Sie hält inne. Will ihre Tochter ansehen. Doch ihr Blick bleibt an der kleinen Aliénor hängen. Das Kind ist aufgewacht und und schaut mit neugierigen himmelblauen Augen zu seiner Großmutter. Amauberge ist fasziniert von diesem kleinen Mädchen. Ein Spiegelbild ihrer selbst. Die Augen, die Haare und sogar das Temperament. Wie zum Beweis beginnt die Kleine auf dem Schoß ihrer Mutter zu strampeln. Aénor lässt sie vorsichtig auf den Boden gleiten, wo sie sofort loskrabbelt.

»Hast du uns denn nie geliebt? Waren dir Musik und Tanz wirklich wichtiger als deine Kinder?«
Doch sie bekommt keine Antwort. Amauberge streckt sich und horcht. Die Geräusche haben sich verändert, sind laut und hektisch geworden. »Es ist der Herzog! Der Herzog ist zurück!« Sie rafft ihre Röcke und eilt davon.
Und Aénor ist wieder dieses Mädchen, das daran verzweifelte, seine Mutter keine 40 Meilen entfernt zu wissen. Und doch schien sie weiter weg als der Mond, der sich des Nachts so hell in der Vienne spiegelte.
Aénor seufzt. Es hat sich nichts daran geändert.

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