Strohstern (von Alex Sassland)
»Vorhin, an der Milchtankstelle am Oranienhof, da habe ich gaaanz viele Strohsterne gesehen!« Mareike hüpfte auf und ab. »Und da waren auch gaaanz viele Slickepinne, du weißt schon, diese rot-weißen Zuckerstangen, die aussehen wie ein Gehstock! Die hingen da an einem Tannenbaum.«
»Ja sicher, die wachsen ja auch auf Bäumen«, meinte ihr Bruder Nick verächtlich. Er war schon sieben und fiel auf solchen Blödsinn nicht mehr herein. Obwohl … so ein Strohstern hatte etwas Heimeliges. Und einen rot-weißen, klebrig-süßen Slickepin, so wie im Sommer in Schweden, den würde er auch nicht verachten.
»Kommt, Kinder, wir müssen noch bei Oma vorbei und ihr den Stollen bringen.«
»Herein, herein!« Oma schloss ihre Tochter Sonja und die beiden Enkel in die Arme. »Das ist ja lieb von euch, dass ihr mir immer ein Stück Stollen mitbringt.«
Mareike hielt es nicht mehr aus und plapperte drauflos, von Strohsternen und Slickepinnen. Nick verdrehte die Augen. Manchmal war seine kleine Schwester einfach peinlich.
»Ach ja. Heute ist ja der dritte Advent, da gastiert der ›Lebendige Adventskalender‹ an der Milchtankstelle am Oranienhof. Und du hast Strohsterne gesehen? Und Zuckerstangen? Wie nostalgisch.« Mareike streckte ihrem Bruder die Zunge heraus. »Früher, da gab es noch nicht so viel Plastikschmuck, da haben wir die Strohsterne selbst gebastelt. Und rot-weiße Zuckerstangen, die gab es nur auf dem Jahrmarkt, oder eben zu Weihnachten. Habe ich euch schon einmal die Geschichte von meinem großen Strohstern erzählt?« Sonja lächelte versonnen, sie kannte die Geschichte, aber die Kinder hatten sie noch nicht gehört. Mareike und Nick saßen jetzt nebeneinander auf dem Sofa, mit einem dampfenden Becher Tee und einem Plätzchen in der Hand, und sahen ihre Großmutter erwartungsvoll an.
»Es ist schon viele, viele Jahre her, da war ich nur etwas älter als ihr. Der Winter war richtig kalt, es lag viel Schnee und der Wind heulte um die Häuser. Wir wohnten damals in einem kleinen Haus am Rande des Dorfes und es zog heftig durch die alten Fenster. Es gab noch nicht viel, der Krieg war noch nicht lange vorbei und wir freuten uns wie die Schneekönige über die großen Care-Pakete, die uns aus Amerika erreichten. Meistens waren ja Lebensmittel darin, haltbare, in Konservendosen, und Nudeln oder Reis. Aber auch Schokolade. Und Zigaretten.« Sonja verzog das Gesicht. Igitt, Zigaretten. Oma hatte ihren Gesichtsausdruck bemerkt und lachte verschmitzt. »Manchmal gab es Arbeitshandschuhe oder Socken. Und in einem Paket, das kam im Dezember kurz vor Weihnachten, da war ein Strohstern drin. Er lag unten in dem Karton, ein bisschen platt gedrückt von den Lebensmitteltüten und den Konservendosen. Er war ziemlich groß.« Oma formte mit beiden Händen eine Art Kugel mit bestimmt zwanzig Zentimeter Durchmesser. »Ungefähr so. Wir nahmen ihn aus dem Karton und zupften ihn etwas auseinander, dann sah er wieder aus wie neu. Er war mit braunem Zwirn gebunden und hatte ein langes rotes Band zum Aufhängen. Ganz unten im Karton fanden wir noch eine Karte, auf der stand gedruckt ›Merry Christmas and a happy new Year‹ und darunter handschriftlich ›Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr‹ und eine Reihe von Namen. Die klangen gar nicht so amerikanisch, es müssen liebe Menschen mit deutschen Wurzeln gewesen sein: Hanna, Hans, Susi und Peter. Das weiß ich noch wie heute.« Oma kramte ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und tupfte sich die Augen.
»Und dann kam mein Vater zur Tür herein und mit ihm ein kalter Windstoß. Der erfasste den Strohstern und wirbelte ihn durch das Wohnzimmer! Er segelte durch den ganzen Raum. Ich kann euch sagen, das war eine Aufregung! Unser schöner Strohstern! Wir haben alles abgesucht, aber wir haben ihn nicht gefunden. Er war einfach weg. Ich habe geheult wie ein Schlosshund.«
»Aber ihr habt den Stern dann doch noch wieder gefunden? Er konnte doch nicht aus dem Zimmer geflogen sein.« Mareike war ganz vorne auf die Sofakante gerutscht.
»An dem Tag nicht mehr, obwohl wir mehrmals das ganze Zimmer abgesucht hatten. Dachten wir jedenfalls. Erst am Tag vor Heiligabend, da holte meine Mutter die große Suppenterrine vom Wohnzimmerschrank, die brauchten wir nur zu den Feiertagen, wenn die ganze Familie zum Essen da war. Die Suppenschüssel war in einem großen Karton verpackt. Und oben auf dem Karton fand sie den Strohstern. Wie haben wir uns gefreut!« Oma war aufgestanden und zu dem großen Wohnzimmerschrank gegangen. Sie öffnete die unterste Schublade. »Dann haben wir den Strohstern an unseren Tannenzweig gehängt. Für einen ganzen Weihnachtsbaum hatten wir kein Geld, aber der Förster hatte ein paar Zweige geschnitten, die man so mitnehmen durfte. Die dufteten ganz intensiv nach Wald und Harz. In dem Jahr war das der einzige Weihnachtsschmuck, den wir hatten.« Sie nahm eine Schachtel aus der Schublade und öffnete sie vorsichtig. Darin, liebevoll in Seidenpapier eingeschlagen, lag ein Strohstern, mit braunem Zwirn gebunden und mit einem verblichenen roten Band. Nach so vielen Jahren sah er nicht mehr ganz frisch aus, das Stroh war braun geworden und ein paar der Spitzen abgebrochen.
»Das ist jetzt mehr als fünfundsiebzig Jahre her. Und seither liebe ich Strohsterne und habe immer welche als Weihnachtsschmuck gehabt.« Mareike nickte eifrig.
»Da hingen ganz viele an dem Tannenbaum an der Milchtankstelle und auch ganz viele Zuckerstangen.« Sie streckte ihrem Bruder nochmal die Zunge heraus. »Und ich weiß schon, dass die da nicht wachsen!« Sie sah ihre Mutter fragend an. »Können wir da nicht nochmal hingehen nachher?« Sonja guckte kurz auf die Uhr.
»Na, dann müssen wir aber gleich losgehen, sonst kommen wir zu spät!« Die Kinder sprangen sofort auf und liefen in den Flur, um ihre Jacken und Mützen anzuziehen.
»Vielen Dank, dass du uns die Geschichte vom Strohstern erzählt hast, Oma. Ich werde mal fragen, ob ich einen der Sterne haben kann, dann habe ich einen eigenen!« Nick verzog das Gesicht, typisch Mädchen.
»Ich hätte lieber eine von den rot-weißen Zuckerstangen, das ist was Reelles, die kann man wenigstens vernaschen«, verkündete er energisch.
Sonja und Oma lachten fröhlich und verabschiedeten sich.