Schnee von gestern (von Cordula)
„730 g Schnee, bitte!“, keuchte Friederike mit hochrotem Kopf dem jungen Verkäufer entgegen. Beim Joggen bekam sie am allerbesten den Kopf frei und der Laden lag auf dem Rückweg nach Hause. „Soll für zwei Personen sein.“ Doch bei ihrem Gegenüber musste es sich um eine Aushilfe handeln, anders konnte sich Friederike den Mangel an kommerziellem Entgegenkommen nicht erklären. „Sie glauben doch wohl nicht, dass Sie den jetzt noch bekommen. Die Leute bestellen schon im September vor. Tss…“
„Bürschchen, nur weil ich altersmäßig deine Mutter sein könnte, kannst du noch lange nicht mit mir reden, wie du es mit deinen Erziehungsberechtigten tust. Ich hätte gerne 730 g Schnee und jetzt sieh zu, dass du einen Blick in euer Gefrierfach wirfst.“ Bürschchen sah überrascht drein und tat wie geheißen. Friederike sah sich um, sie war die Einzige im Lädchen ums Eck, wie sich der Shop sinnigerweise nannte. In den 16 Jahren, in denen sie in diesem Viertel wohnte, hatte sich hier nichts verändert … bis auf das Personal … Allerdings musste sie zugeben, dass sie nicht gerade vorausplanend gehandelt hatte, indem sie am 23. Dezember um 18 h noch Schnee für das bedeutsame Endjahresritual einkaufte.
„Hier sind noch 350 g, allerdings von gestern.“ Der Verkäufer wirkte jetzt doch bemüht. Er öffnete vor Friederike eine silbrige Tüte mit angeschmolzenem Schnee der Marke Morpheus. „Das reicht noch nicht mal für eine Person… aber okay, danke,“ meinte Friederike erleichtert, „Wieviel macht das?“ „350.“ Sie ersparte sich jeden Kommentar, wusste sie doch, dass die Preise kurz vor dem Weihnachtsfest in die Höhe schnellten. Friederike zahlte zügig per implantiertem Chip – wie praktisch, wenn auch die Transaktion ein wenig unter der Haut kribbelte. „Ich gebe Ihnen als Geschenk des Hauses noch die Zeitung mit, Frau Kowalski.“ Ihren Namen hatte er durch den Bezahlvorgang gleich mit auf dem Bildschirm. Friederike dankte und schnappte sich Zeitung und Schnee, jetzt schnell nach Hause, bevor die Flocken zu Matsch wurden. Sie warf einen Blick auf die Zeitung: von Gestern, wie passend. Schon komisch, dass es überhaupt noch Zeitungen gab - kaum gedruckt, schon veraltet.
Biep. Eine Geste, ein Kribbeln unter der Haut und die Wohnungstür öffnete sich. „Schatz, ich bin’s!“ kündigte Friederike sich ihrer Tochter an. Statt eine Antwort zu bekommen, sah sie nur ihren Kater Franz auf sie zuschleichen. „Hatschi!» machte dieser. Eine Katze mit Katzenhaarallergie, das gab es wohl nur einmal. Sie streichelte über sein schwarz-weißes Köpfchen, was Franz dazu animierte, mehr Zuwendung einzufordern. „Hatschi!“ Vielleicht sollte sie ihn doch noch zu einem Allergologen bringen, der letzte Termin war ja nicht sehr aufschlussreich gewesen. Die Behandlung, die der Tierarzt Franz verordnet hatte, konnte geradezu einen Elefanten umbringen.
„Jo, ich habe Schnee gekauft, jetzt kann Weihnachten kommen.“ Immer noch keine Antwort. Friederike begab sich zu der Tür mit der Aufschrift Krisengebiet. Klopf klopf – klopf klopf klopf. Ihr hochgeheimes Zeichen, das besagte, dass man in Frieden kam und keine lästigen Hausarbeiten einforderte.
„Hmhm“ ertönte es hinter der Tür. Friederike übersetzte gedanklich mit „Herein“. Das Zimmer sah, naja, von dem Zimmer sah man nicht mehr viel, sondern es sah eher, nein, sogar ganz und gar wie ein asiatischer Tempel aus.
„Bestellen wir gleich was vom Koreaner, Johanna-Maus?“ „Hm, sollte eine verantwortungsbewusste Mutter nicht Bio für ihren Nachwuchs kochen, statt sechs Mal die Woche was Fettiges mit Kohlenhydraten zu bestellen?“ Frederike wollte gerade erwidern, dass der Koreaner Bio-Öl verwendete, doch da meinte ihre Tochter schon einlenkend: „Scherz, Mams. Koreaner ist cool.“ „Gut, dann können wir beim Essen den morgigen Tag vorbereiten. Leider… konnte ich nur 350 g Schnee bekommen, also müssen wir gut auswählen.“ Johanna starrte sie entgeistert an. „Nicht dein Ernst. Den krieg dann aber ich! Obwohl, bei dem Mist, den du verzapfst, brauchst du ihn dringender. Mann ey, du bist echt … du bist so … von Gestern!“ Wie recht sie doch hatte. Das Ritual des 24. Dezembers diente dazu, sich all seiner Probleme zu entledigen und so am 25. Guten Mutes ins neue Jahr zu starten. Nur totale Versager, konnten sich den Schnee nicht leisten oder bekamen den komplizierten Ablauf nicht auf die Reihe. Die Regeln waren strikt: Um sicher zu sein, ein komplettes Reset zu bekommen und keine beschwerenden Altlasten einzubehalten, die zukünftige Pläne zunichtemachen könnten, brauchte es 1 g Schnee pro Jahrestag. Zwei Personen, ein Jahr … mit 350 g ging die Rechnung nicht auf.
„Ach Jo! Wir reden gleich drüber, ja?“ Damit schloss Friederike die Tür hinter sich. Das kriegten sie schon hin, in der Dusche würde sie damit anfangen, ihre Rückblicke zu sortieren, um die derbsten Dämonen der Vergangenheit in Schach zu halten.
Auf dem Weg ins Bad, nahm sie die Schneekugel vom Regal. Die Schneekugel, in die im Anschluss an das Weihnachtsritual das störende Gedankengut eingeschlossen wurde. Fast hätte sie es vergessen, eben kurz den Koreaner anrufen. Wo war noch gleich ihr Handy? Auf dem Küchentisch? Und da sah sie die silbrige Tüte. Sofort war ihr klar, dass es zu spät war. Es war aus. Der verbleibende Schneematsch würde keine Wirkung haben. Friederike tauchte ihre Hand in das kühle Nass, zumindest war die Kälte gut gegen ihre aufkommende Migräne.
Mit der Schneekugel in der Hand setzte sie sich in die bordeaux-rote Sofaecke. Aufmerksam betrachtete sie die an sich hübsche Miniatur-Winterlandschaft - durchzogen von braunen Schlieren.
Friederikes Magen zog sich zusammen, doch plötzlich spürte sie ein warmes Leuchten in ihrer Brust. Tja, dann machte es wohl mehr Sinn, gleich reinen Tisch zu machen.
Mit aller Kraft schleuderte sie die Schneekugel auf den Boden. Sie zersprang in unzählige glitzernde Scherben, ein schwefeliger Geruch stieg auf. Johanna eilte besorgt aus ihrem Zimmer. „Hey, was ist passiert?“
Friederike stand auf und öffnete weit das Fenster. Dann nahm sie sich genüsslich ein Schokoladenlebkuchen vom Couchtisch. „Lass uns reden, Kleines. Über Gestern.“