Tannenbaum (von Momo71)
Wusstet ihr, dass Tannenbäume reden können? Ja, wirklich! Wenn man ganz leise ist, kann man sie manchmal hören und was da geplaudert wird, ist mitunter sehr interessant. Letztes Jahr erst hat mir eine kleine, ganz besondere Tanne ihre Geschichte erzählt. Ganz ehrlich, ich sehr erstaunt und auch ein wenig erschrocken, dass sie sich mir anvertraut hat:
Weißt Du, sagte sie völlig unverhofft zu mir, Du scheinst mir ein recht vernünftiger Mensch zu sein und darum möchte ich Dir eine kleine Geschichte erzählen – meine Geschichte. Wir Bäume sind nicht so stumm, wie ihr Menschen immer denkt, sondern gegenüber Unsereins recht mitteilsam. Vor allem Weihnachtsbäume sind sehr gesprächig und manchmal versteht man auf den Verkaufsplätzen vor lauter Geplapper sein eigenes Wort nicht mehr! Jeder versucht, die Andere zu übertrumpfen und sich nach vorne zu drängen. Die kleineren Bäumchen und vor allem die mit der ein oder anderen Macke werden nach hinten gedrängt und stehen irgendwann ganz stumm und verloren in der Ecke. In so einer Ecke stand auch ich und niemals hätte ich gedacht den Weihnachtstag wirklich als Weihnachtsbaum erleben zu dürfen!
Da war zum Beispiel die große, prächtige Nordmanntanne, die so von sich selbst überzeugt war, als gäbe es außer Ihr keine Nadelbäume.
„Ich bin die größte und schönste Tanne hier auf diesem Platz! Ich werde bestimmt als Erstes verkauft! Ich gehöre in ein riesiges, großes, reiches Haus, mit vielen feinen Leuten, die mich und meinen Schmuck – der selbstverständlich der Schönste und Teuerste ist! - bewundern!“
Sprach‘s wurde auch schon von einem sehr fein gekleideten Paar inspiziert. Die standen erstmal lange vor dem Baum, drehten und wendeten ihn, prüften die Nadeln, den Wuchs und waren offenbar noch unschlüssig. Die Nordmanntanne schmiss sich noch mehr in Position, streckte alle Äste von sich, um noch größer und schöner zu erscheinen – und wurde gekauft. Später habe ich erfahren, dass sie wirklich in einem reichen Haus gelandet ist, dort einsam im Eingangsbereich rumstand und so sehr behängt war, dass ihr fast die Zweige abbrachen.
Dann gab es da noch die hochnäsige Fichte. Sie ist immer sehr schnell beleidigt und sticht dann gerne mit ihren Nadeln auf alle ein, die ihr zu nahe kommen.
„Ich bin viel schöner und ich rieche viel besser als die blöde Nordmanntanne! Ich gehöre in ein riesiges, großes, reiches Haus, mit vielen feinen Leuten, die mich und meinen Schmuck – der natürlich dann der Schönste und Teuerste ist! – bewundern und sich an meinem Duft erfreuen!“ „Du?“ rief die Nordmanntanne, als sie fest eingewickelt an ihr vorbeigetragen wurde „Du bist doch so schnell eingeschnappt, dass Du beim kleinsten Misston alle Nadeln abwirfst! Das will sich doch keiner freiwillig antun!“ Lachte hämisch und war weg.
Die Fichte aber hatte Glück und wurde kurz darauf von einem jungen Pärchen gekauft. Allerdings war das – soweit ich gehört habe - nicht ganz der Platz, den sie sich gewünscht hatte. Ihre Käufer waren starke Raucher, die die Wohnung so verqualmten, dass der Duft der Fichte nicht mehr zu riechen war. Sie hat sich wohl sehr darüber geärgert und sehr schnell das Nadeln angefangen…. So ging der Verkauf immer weiter, bis schließlich nur noch ich übrig war: eine kleine Nordmanntanne mit schiefem Wuchs und krummen Ästen.
Das Bäumchen sah so traurig aus, als es das sagte, dass ich es am liebsten in den Arm genommen hätte, aber das war mir dann doch zu stachelig. So hab ich nur meine Hand ganz vorsichtig auf einen Zweig gelegt und weiter zugehört.
Der Verkäufer wollte mich schon zu Feuerholz kleinschlagen, als doch noch jemand vorbeikam auf der Suche nach einem Bäumchen. Eine nette, junge Frau mit einem Kind an der Hand, die den Verkäufer fragte, ob er nicht für Sie und die Ihren einen Baum hätte. Allerdings hätte sie kein Geld. Der Verkäufer hat sich die Karte, die sie ihm gezeigt hat lange angesehen, dann auf mich gezeigt und gemeint „Das ist mein letzter Baum. Er ist nicht schön, krumm und schief und eigentlich taugt er nur noch als Feuerholz…. Aber, wenn ihr ihn wollt, dann schenk ich ihn euch….?“ Sie wollten und er ging los ,um mich einzupacken. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Jedenfalls schien es mir besser, als als Feuerholz zu enden. Doch da sagte der Mann zu mir – ohne zu wissen, dass ich ihn verstand – „Du kommst an einen ganz besonderen Ort. Ich hoffe, du weißt diese Ehre zu schätzen. Ich jedenfalls gebe Dich sehr gerne den Beiden mit. Vielleicht wirst Du bald verstehen, warum ich nichts für Dich verlange“ Dabei hatte er ein sonderbares Lächeln im Gesicht und übergab mich den Beiden. Nach einem längeren Fußmarsch, bei dem die Zwei ganz schön an mir zu schleppen hatten, erreichten wir schließlich unser Ziel. Ein großes Haus mit vielen hell erleuchteten Fenstern und einer Menge Lärm. Ich hatte wirklich Angst, was da auf mich zukommt und dann ging die Tür auf….
Ein Horde Kinder kam laut jubelnd aus dem Haus gestürmt und hat uns willkommen geheißen. Ich war erstaunt, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Familie der Frau so groß war. Dafür war sie eigentlich noch zu jung. Sie war jedoch gar nicht die Mutter der Kinder – zumindest nicht wirklich, denn ich war in einem Waisenhaus gelandet und die junge Frau war eine der Betreuerinnen. Darum war auch nicht so viel Geld da! Jetzt verstand ich allmählich, was der Verkäufer gemeint hatte – und war sehr gespannt, was noch passieren würde.
Am Weihnachtsmorgen wurde ich aufgestellt und ich gab mir alle Mühe einigermaßen gerade zu sein, aber die Kinder lachten nur und meinten, dass gerade das ungerade perfekt wäre – sie wären schließlich auch nicht „gerade“, weil sie keine richtige Familie hatten und daher würde das perfekt passen. Und soll ich Dir was sagen? Sie haben mich dann mit ganz viel selbst gebasteltem Weihnachtsschmuck geschmückt und das gefällt mir viel besser als all der gekaufte Glitter. Erst da habe ich ganz verstanden, was der Verkäufer meinte: Hier war ich willkommen und durfte sein, was ich war – ein glücklicher kleiner Tannenbaum, der sehr stolz darauf ist, hier Weihnachtsbaum sein zu dürfen!
Ich war am zweiten Weihnachtsfeiertag in diesem Haus und muss ehrlich sagen: Nie habe ich einen schöneren und glücklicheren Baum gesehen!
… und seit ich um das Geheimnis weiß, höre ich den Bäumen zu – die Geschichten, die sie zu erzählen haben, sind das Zuhören wert.