Eine Szene im Dezember (von michel)
Der Dezember ist mein Lieblingsmonat. Am vierundzwanzigsten feiern alle meinen Geburtstag. Also nicht alle, viele halt. Ich saß auf einer hölzernen Parkbank zwischen hingeschmierten Hakenkreuzen und anatomisch inkorrekten Penisbildern, aß Schokobons und schaute mir die Enten auf dem See an.
Eine Frau setzte sich zu mir, nahm eine kleine Tüte mit Kürbiskernen aus der Tasche und begann zu knuspern. Nach kurzer Zeit schielte sie allerdings permanent unsicher zu mir herüber.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich schließlich. Ich habe ganz klar ein Helfersyndrom.
»Also, das hören Sie bestimmt öfter, aber sie sehen wirklich aus, wie…« Sie zwirbelte mit einem Finger unsichtbare Locken in ihrem dünnen strähnigen Haar.
War ja klar. Bestimmt erzkatholisch. »Ja, Sie haben Recht. Ich bin´s.«
»Mark Forster.«
»Waaaas?« Ausgerechnet Mark Forster.
»Ja, was glaubten Sie denn?« Sie zog eine ihrer schmalen Augenbrauen hoch. »Kai Pflaume?«
»Nein. Aber doch nicht Mark Forster!« Das gab es wirklich noch nie. »Der Heiland, der Messias. Jesus, fucking Christ!«
Sie hielt den Kopf schief. »Sie sind Jesus Christus? Der Erlöser? Das Lamm Gottes?«
»MÄÄÄÄÄÄH«, machte ich. Ich kann diese Lamm-Sache nicht mehr hören. »Eher der Ursprung Davids, Sohn des Zimmermanns, das Licht der Welt, der wahre Weinstock!«
»Der wahre Weinstock? Wer sagt so etwas denn? Das hab‘ ich ja noch nie gehört…«
»Johannes 15,1. Ein echter Fanboy!«
Sie knackte ein paar Kürbiskerne und sammelte die Schalen sorgfältig in einem Taschentuch. Bringt zwar nix, global gesehen, war aber eine nette Geste, die mir gefiel. Dann drehte sich zu mir und verschränkte die Arme.
»Beweisen Sie es!«
Klar. Immer dasselbe. Was stellen die Leute sich eigentlich vor? Feuersäule oder brennender Busch mitten im Feierabendverkehr? Das ist ohnehin eher Papas Stil.
»Soll ich etwa den See in Wein verwandeln? Das in verschiedenen Varianten ist ein Klassiker. Ebenso Blinde sehend oder Lahme gehend machen.« Ich schaute mich nach geeigneten Kandidaten um, aber außer einer hinkenden Stockente war niemand in der Nähe. Das war demütigend.
»Gott ist unfehlbar, oder?«, sagte sie unvermittelt und kandidierte damit für den krassesten Themenwechsel seit Judas.
»Neeee. Quatsch.« Was sollte das denn jetzt schon wieder?
»Wie: Quatsch?«
»Unfehlbar. Sagen die Leute immer so leicht dahin. Keiner ist unfehlbar. Schau Dir nur mal Dein Kniegelenk an.«
Sie schob eine Handbreit den karierten Rock nach oben und in einer schwarzen Wollstrumpfhose steckten ein Paar spitze dünne Knie.
»Nicht besonders hübsch, oder?«, sagte sie dünn.
»Stimmt.« Ich kann nicht lügen. »Aber das meine ich nicht. Knie als solches sind das Gegenteil von Unfehlbarkeit. Pfusch am Bau. Zwei Gelenkflächen, die nicht einmal besonders gut aufeinanderpassen. Also Spachtelmasse dazwischen gepackt. Menisken sind quasi die Silikonfuge der Evolution. Jeden Ingenieur würde man das um die Ohren hauen und nochmal machen lassen.«
»Also sind die Menschen eine Fehlkonstruktion?«
»In den letzten Jahren mal Nachrichten geschaut? Na klar. Fehlkonstruktion. Eins von zehn Sternen. Prädikat: durchgefallen. Jeder Eisbär hat mehr Sozialkompetenz. Und das sind Einzelgänger.«
»Und jetzt? Sintflut? Kometeneinschlag? Die vier Apokalyptischen Reiter?«
»Boah. Du bist soooo eine Drama-Queen. Ja, läuft gerade nicht so bei euch. Aber deswegen drückt kein Engel den Panikbutton. Außerdem: FÜNF Reiter.« Johnny hatte den fünften Reiter in seiner Offenbarung weggelassen, weil er ihm zu unheimlich war. Ich sage nur: Tentakel, Kartoffelbrei und Achselhaar. Mach Dir selber ein Bild.
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Und der Beweis?«
Ich seufzte. »Hallo Annette Baumann. Nett Dich kennenzulernen. Du bist 1980 geboren. Dein Lieblingsstofftier war ein Tiger namens Pegasus. Und Du hast niemals jemandem erzählt, dass Du den Ehering Deiner Mutter versehentlich im Klo weggespült hast. Aber im Ernst: wer steckt einen Goldring in ein Stück Seife und spült es das Klo runter? Das ist echt schräg, selbst für eine Siebenjährige!« Vorher war sie blass gewesen. Jetzt wurde sie richtig bleich. Ich meine – Lazarus sah gesünder aus und der war vorher tot gewesen.
»Was…« Sie öffnete und schloss zweimal den Mund. »Wieso…« Dann schaute sie nur noch.
»Und ich kann Dir etwas versprechen: Weihnachten wird nicht so beschissen, wie Du denkst. Ja, Dennis ist weg. Aber andere sind da.« Ich machte mein James Stewart Gesicht, obwohl ich wusste, dass sie ‚It’s a Wonderful Life‘ nie gesehen hatte. »Kein Mensch, der Freunde hat ist ein Verlierer.« Sie schaute nur noch verwirrter. Johannes Paul haut sich immer weg, wenn ich das mache. Aber war ja vielleicht auch ein wenig viel auf einmal.
Ich stand auf und schüttelte ihr die Hand. »Mach es gut, Annette Beatrix Baumann. Es wird gleich dunkel. Aber mach Dir nicht zu viele Sorgen… es wird immer auch wieder hell.«
Dann ging ich fort. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um mir ihr Gesicht vorzustellen, als sie bemerkte, dass aus ihren Kürbiskernhülsen lauter winzige Weihnachtssterne wuchsen…