Der Schlitten (von Cordula)
Der Schlitten war sabotiert worden, eindeutig.
Dabei hatte alles so gut angefangen, an jenem sonnigen Dezembertag.
Wie jeden Sonntag werkelte Moni mit ihrem Vater in der Garage. Es war der Tag, an dem sie von früh bis spät etwas reparierten, anstrichen, aufbauten oder demontierten. Heute war ihr Plan, den alten Holzschlitten, auf dem angeblich schon Monis Ururgroßvater gerodelt war, in Stand zu setzen.
Das splitterige Holz musste abgeschliffen und lackiert werden. Die rostigen Kufen, die zurzeit braune Streifen im frischen Schnee rund ums Haus hinterließen, wollten sie komplett ersetzen. Zuletzt würden sie ein neues, solides Zugbändchen vorne befestigen. Und dann konnte das jährliche Teufelsberg-Schlittenwettrennen kommen! Moni rechnete mit einer ernsthaften Chance auf den Hauptpreis: Zwei Karten für Holiday on Ice. Vielleicht konnte sie dort sogar ein Autogramm von Karina Schnitt, der berühmten Eiskunstläuferin, ergattern.
Doch zuerst an die Arbeit! Papa sagte immer, für ihre acht Jahre war sie eine echte „Daniela Düsentrieb“.
Im Team kamen sie gut voran und ihr Vater musste ihr nur einen einzigen Splitter aus dem Finger ziehen. Am Abend hatten sie es tatsächlich geschafft. Der Lack musste nur noch trocknen. „Schlag ein, Moni-Kind!“ Papa hielt ihr die offene Hand entgegen und Moni schlug begeistert ein: „Lisa, Emma und Gunnar, der alte Angeber, können sich auf was gefasst machen!“ Dem Schlittenrekord stand nichts mehr im Wege. Oder?
„Papa, meinst du der Schnee bleibt noch bis nächsten Samstag liegen?“ Ihr Vater beruhigte sie lächelnd: „Bis jetzt hatten wir noch an jedem 22. Dezember in dieser Gegend eine Eiseskälte. Sieh lieber zu, dass du deine Handschuhe wiederfindest.“
Die Woche hatte kein Ende nehmen wollen, doch endlich war der Tag gekommen. Das war ja schlimmer als auf Geschenke warten. Moni hatte ein paar Mal ihren Schlitten, den sie Feuerstern getauft hatte, getestet und war sehr zufrieden. Jetzt hieß es, ihren Konkurrenten gegenüber, die Nerven zu bewahren und beim Teufelsbergrodeln alles zu geben.
Samstag, 15 Uhr. Das ganze Dorf schien am Hügel versammelt zu sein. Moni saß konzentriert auf ihrem sorgsam restaurierten Gefährt. Vor Aufregung hatte sie nichts essen können, aber war es nicht auch ganz gut, für den Zweck leicht zu sein? Es war knapp unter 0 Grad, zum Glück hatte sie ihre Handschuhe gefunden!
„Auf die Plätze … fertig … los!“ Papa schob mit aller Kraft von hinten an, um ihr zu Beginn den richtigen Schwung zu geben. In Erwartung der reißenden Fahrt hielt Moni sich gut fest, bereit, alle Rekorde zu brechen. Sie nahm Fahrt auf. Schon spürte sie den Wind um ihre Ohren, denn eine Mütze hätte ihr nur die Sicht versperrt. Aber – was war denn das? Gunnar war ihr voraus! Und Lisa und Emma waren noch auf gleicher Höhe, doch da – auch sie rodelten ihr davon!
Ein paar Sekunden später kam sie … als Sechste an. Papa kam kurz darauf auch an die Zielgerade. Moni stampfte wütend in den Schnee, so dass die Flocken flogen. „Das kann doch nicht sein! Der Schlitten muss sabotiert worden sein!“ Papa zog den Schlitten hoch und betrachtete ihn gründlich von allen Seiten. „Moni, er ist einwandfrei.“ „Aber du hast doch gesehen, wie mir Gunnar und die anderen davon gefahren sind! Keine Chance!“ „Ja, die sind ganz schön davongeflitzt. Aber ich habe auch ihre Schlitten gesehen. Ultraleichte Plastikteile, die massenweise billig in Fabriken hergestellt wird. Mit einem Klick kann sie jeder im Internet bestellen. Dein Schlitten dagegen – er erzählt eine Geschichte. Und nicht nur irgendeine, die Geschichte deiner Familie. Außerdem habe ich mit dir für all das einen einzigartigen Sonntag verbracht.“ Moni sah immer noch grimmig drein. Doch dann schaute sie ihren Papa versöhnlich an und meinte seufzend: „Gehen wir eben nächstes Jahr zu Holiday on Ice.“ „Also, wenn es darum geht …“ Papa grinste verschmitzt. „Habe ich dir noch gar nicht diesen Brief gezeigt?“
Moni machte große Augen. Auf blau-weißem Papier stand da in sorgfältiger Schreibschrift:
Liebe Moni,
ich habe gehört, dass du eine 1a-Schlittenfahrerin und vor allem -reparateurin bist. Das erinnert mich daran, dass meine Begeisterung für Eis und Schnee mit dem Rodeln angefangen hat. Wenn du magst, erzähle ich dir die ganze Geschichte nächsten Samstag nach der Show in meiner Loge, wo du auch die ganze Truppe kennenlernen kannst. Bis hoffentlich bald, deine Karina Schnitt.
Moni jubelte. „Unglaublich, sie lädt mich ein! Und, hey, ich glaube, ich weiß auch warum: Sie mag nämlich Geschichten genauso sehr wie wir.“