Der Lebkuchenhaus-Wettbewerb (von Koebes)
Wie jedes Jahr zum ersten Advent fand im örtlichen Baumarkt der kleinen Gemeinde Zwieblingen der Lebkuchenhaus-Wettbewerb statt. Julia Klingbeil, eine junge ehrgeizige Architektin, nahm zum ersten Mal teil. Schon eine halbe Stunde vor der Marktöffnung am Montagmorgen stand sie aufgeregt vor dem Eingang.
Eine Seitentür öffnete sich und der Marktleiter winkte ihr aufgeregt zu. Sie eilte zu ihm und ging mit einem unguten Gefühl durch die Tür.
Schon von weitem konnte sie das Unglück sehen. Ihr schönes Hexenhaus aus Lebkuchen war vollkommen zerstört. Irgendein Irrer musste am Wochenende hier gewütet haben.
Vor Enttäuschung und Wut kamen ihr die Tränen. „Wer macht denn so was?“
Herr Wobel, der Baumarktleiter, stand nur stumm neben ihr. Was sollte er jetzt machen? Normal öffnen oder den Wettbewerb absagen?
„Nun tun Sie doch was! Rufen Sie die Polizei!“
Polizeiobermeister Ottl war begeisterter Hobbybastler und hatte ebenfalls ein Exemplar eingereicht. Daher stand er bereits vor der Tür und wurde schnell gerufen.
„Treten Sie bitte alle zurück, damit ich mir den Tatort ansehen kann.“
Die Fassade von Julias Modell war eingestürzt, die Einzelteile des Daches lagen verstreut auf dem Gang. Kommissar Ottl stutzte.
„Was ist das?“
Er trat näher an die Überreste heran und holte etwas heraus. Langsam drehte er sich um. Julia wurde blass. In seinen Händen hielt er eine Lebkuchenfigur – erdolcht mit einem Stück Zuckerglas. Sollte das eine makabre Drohung sein?
Sie taumelte rückwärts und stieß dabei gegen Herrn Wobel. Der verlor den Halt und fiel rückwärts in das Bauwerk von Bäcker Herbert Winterscheid, einem fast zwei Meter großen Modell von Big Ben. Leider hatte er vergessen, den Turm auf der Platte, auf der dieser stand, zu fixieren.
Wie in Zeitlupe fiel Big Ben um und begrub das Modell von Hildegard Loose unter sich, eine Nachbildung des örtlichen Rathauses. Die Lebkuchenplatten lösten sich und flogen wie Schrapnelle durch den Aufbau der bis jetzt heilgebliebenen anderen beiden Bauwerke. Dabei durchschlugen sie die Buntglasscheiben des Kirchenmodells des Pfarrers. Herr Hempel hatte die Scheiben in mühevoller Kleinarbeit aus Zuckerguss hergestellt.
„Ich fürchte, der Wettbewerb fällt dieses Jahr aus.“ Julia war den Tränen nahe.
„Auf gar keinen Fall!“, ereiferte sich Polizeiobermeister Ottl.
„Na klar, Ihr Modell ist ja als einziges noch ganz. Haben Sie vergessen, dass jemand mein Leben bedroht hat?“
„Wieso?“
„Na, eine erdolchte Lebkuchenfigur ist doch wohl eindeutig.“
Wobel kletterte aus den klebrigen Trümmern. Auf seiner Stirn klebte ein Zimtstern. „Haben Sie denn Feinde?“
„Nein, aber der Konkurrenzkampf bei diesem Wettbewerb ist groß. Vielleicht wollte jemand mich zum Aufgeben zwingen.“
„Quatsch, ich kenne alle Teilnehmer persönlich. Mir fällt da keiner ein, der zu so was imstande wäre.“
„Ach nein? Nehmen Sie doch nur diesen dicken Bäcker. Seitdem der weiß, dass ich als Architektin am Wettbewerb teilnehme, dreht der mir ständig alte Brötchen an. Oder die alte Schrulle, Frau Loose. Die war früher mal meine Physiklehrerin und meinte, ich würde nie mein Studium packen. Und dann ist da noch dieser Pfaffe. Der mag mich nicht, weil ich aus der Kirche ausgetreten bin.“
„Aber der Baumarkt ist doch am Wochenende geschlossen. Hier war seit Samstagabend keiner mehr.“
Polizeiobermeister Ottl machte ein ernstes Gesicht. „Was ist denn mit Ihnen, Herr Wobel? Sie haben doch bestimmt einen Schlüssel.“
„Ja selbstverständlich. Das ist schließlich mein Baumarkt. Welches Motiv sollte ich denn haben?“
„Vielleicht hat Sie jemand bestochen, Einfluss auf die Siegchancen zu nehmen.“
„Aber der Sieger wird doch nicht von mir ausgewählt, das machen doch die Kunden.“
„Das hat sich jetzt ohnehin erledigt. Da mein Modell als einziges noch steht, habe ich gewonnen.“ Der Polizist stellte sich demonstrativ vor sein Werk: einem Modell einer Ritterburg.
Ein seltsames Geräusch kam plötzlich aus der Festung. Sie drehten sich um und konnten gerade noch sehen, wie eine Mauer umfiel. Kurz danach krachte ein Eckturm in sich zusammen. Ottls Gesichtsausdruck veränderte sich innerhalb einer Sekunde von einem blöden Grinsen zu purem Entsetzen.
Erschrocken sprangen alle auseinander und schauten verwirrt auf die in sich zusammensinkende Burg.
„Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Wir brauchen keine Polizei, sondern die Geisterjäger“. Baumarktleiter Wobel stand da mit weit aufgerissenen Augen.
Plötzlich bewegten sich die Reste von Big Ben und eine kleine Maus krabbelte darunter hervor. Das ganze Trümmerfeld war in Bewegung. Weitere Mäuse kamen zum Vorschein. Die kleinen Nager hatten fast das ganze Wochenende Zeit gehabt, die überwiegend aus Mehl, Zucker und Butter bestehenden Bauten anzuknabbern.
Es war reiner Zufall, dass ein Stück Zuckerglas auf Julias Lebkuchenfigur gefallen war und in dieser stecken blieb. Oder vielleicht doch nicht?