Adventskalender - 01.12.2024

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt! (von EffEss)

Ich fliege. Ich fliege an der Hand meiner Mutter. Es ist dunkel und kalt. Schneeflocken tanzen im Lichterschein und zerschmelzen auf meiner herausgestreckten Zunge. Immer im gleichen Abstand erleuchtet eine Straßenlaterne den feuchten Asphalt. Ab und an sehe ich eine schillernde Benzinpfütze in Regenbogenfarben. Der zusammengeschobene Schnee am Straßenrand ist schmutzig und hat gelbe Flecken. Keinen Schnee essen, davon wird man krank.

Hausnummer dreißig, einunddreißig. Wir fliegen weiter. Meine Mutter hat Stress. Ich kann ihn riechen. Sie muss zum Dienst und ich wollte nicht aufstehen. Jetzt fliegen wir schneller. Mutter ist das Rentier und ich der Schlitten. Der kalte Wind saust um meine Ohren und meine Beine baumeln fast waagerecht über der Straße. Klack, klack. Die Schuhe meiner Mutter beschallen das Plattenbauviertel. Hausnummer vierzig. Ihr Dienst beginnt um sieben. Sie darf nicht zu spät kommen – denn – die Tante ist weg. Also Mamas Schwester. Weg, nicht mehr da. Nicht mehr hier. Für immer. Sie wohnt jetzt dort, wo immer die Sonne lacht. Dort wo Sahnetörtchen an den Bäumen wachsen und die Flüsse aus Himbeersirup bestehen. Lecker, da will ich auch hin. Aber so einfach geht das nicht. Es ist gefährlich.

Papa ist ein weiches Ei. Dem ist alles zu viel. Sagt Mama, die muss es ja wissen. Meinen Papa habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Der amüsiert sich. Worüber, weiß ich nicht. Ich habe auch eine große Schwester, aber die ist auch nicht mehr da. Die muss immer im Bett liegen. In einem Haus mit spitzem Dach und rotem Kreuz, zusammen mit anderen Kindern.

Ich drücke meinem Teddy die weiche Schnauze. Er passt gut unter meine Jacke und wärmt mir mein Herz. Heute will ich ihm mal die Welt zeigen. Er glaubt mir nämlich nicht. Ich bin ein großes Mädchen. Heulen hilft nicht. Ich muss meinen Dienst antreten in der Kindererziehungsmühle und genau wie alle anderen den Fünfjahresplan erfüllen. Trocken werden, allein anziehen, Muster legen, mit der Schere schneiden, gehorsam sein. Frau Müller trägt alles in Listen ein. Das muss sie, sonst bekommt sie Ärger. Teddy und ich bekommen auch Ärger. Er muss draußen bleiben. Für Puppen und Teddys von zu Hause ist hier kein Platz, wo kämen wir denn sonst hin. Hier geht es um innere Angelegenheiten. Teddy ist kein Spitzel. Ich schwöre. Er ist mein Freund. Mama ist genervt. Jetzt muss sie ihn mit auf Arbeit nehmen. Hoffentlich quatscht der nicht.

Heute soll es eine Überraschung geben. Da bin ich mal gespannt. Vorher singen wir aber alle gemeinsam das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube. Wir basteln mit Buntpapier ein Geschenk für unsere werktätigen Mütter. Ich kann schon schön die Schere halten. Also finde ich. Die Erzieherin hält eine rote Figur hoch. Das soll es mal werden. Der lispelnde Michael mit dem durchsichtigen Gesicht meint, das ist der Wannamann. Der grobe Matthias mit den dicken Fäusten lacht ihn aus und haut ihm eine runter. Frau Müller hat nichts gesehen. Der wird mal wie sein Vater, meint meine Mutter. Der ärgert im Betrieb auch alle Kollegen und trägt alles in Listen ein. Leise Tränen laufen über Michaels Gesicht. Er vermisst seine Mama. Eifrig schneide ich drauf los. Mir ist egal, wie das Ding heißt. Ich glaube an gar nichts. Mit Pinzettengriff rupfe ich schwarzes Buntpapier in kleine Stücke. Das sind die Mantelknöpfe. Jeden Knopf schlecke ich an und klebe ihn mit der gummierten Klebefläche unter seinen Vorgänger. Eine gehorsame Ruhe schwebt im Raum. Der Hausmeister kommt mit einem Sack auf dem Rücken. Im Gesicht trägt er ein schiefes Gesicht aus Plaste an dem ein schmutziger weißer Bart klebt. Der grobe Matthias fängt an zu schreien. Alle anderen sind still. Wie eine Welle geht seine Angst um und erfasst nach und nach alle Kinder. Alle schreien im Chor. Der Weihnachtschor. Matthias der Tonangeber. Ich bin mir nicht sicher, was ich jetzt machen soll. Es ist wohl besser, ich schreie mit.

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Boah, schon die ersten beiden Sätze machen mir Weihnachten! So toll. Danke @EffEss, Danke @SuperGirl!
Und allen einen schönen 1. Adventsonntag!

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Danke @EffEss für die Weihnachtsgeschichte, auch wenn es eher eine traurige ist.

Natürlich auch von meiner Seite ein Dank an @SuperGirl, dass du die Idee zu den Adventskalendergeschichten hattest und alles organisierst.

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Extrem stark! Ich weiß gar nicht, wo ich starten soll: sprachlich brilliante Umsetzung, tolle Perspektive, bildhaft bis zum Ende…
Wow!

Natürlich auch von mir einen herzlichen Dank an @SuperGirl für die Organisation und die Umsetzung der Idee.
Danke & allen einen schönen 1. Advent! :candle:

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:see_no_evil: Ich war mir nicht sicher, ob ich sie reinstellen soll. Ich war selbst ganz erschrocken, aber jetzt weiß ich, warum ich nie richtig in Weihnachtsstimmung komme. Das ist meine Familiengeschichte in Kurzform. :see_no_evil: Euch kann ich es ja sagen…:slightly_smiling_face:

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Danke, @SuperGirl ,für deine Idee und Umsetzung.

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Darf ich dich virtuell mal in den Arm nehmen und ganz fest drücken?

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Sehr schön anschaulich geschrieben – und berührend.
Besonders bewegt mich, dass mit dem Teddy Wärme und Trost vor der Tür bleiben müssen.
Nein, die Geschichte stimmt mich nicht heiter, denn sie erinnert mich in mancherlei Hinsicht an meine Kindheit.
Advent – Zeit der Besinnung – hier im besten Sinne getroffen.

Du machts mir ein großes Geschenk!

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Wow, das habe ich jetzt nicht erwartet. Ein grandioser Einstieg.
Man ist hin und hergerissen zwischen Vergnügen (weil so toll geschrieben) und Traurigkeit (weil es einen am Herzen packt).
Danke für die tolle Geschichte. :mending_heart:

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:heart: :heart: :heart: Für dich. Fühle dich gedrückt…Sehr schön geschrieben

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Auf jeden Fall. Fühle Dich gedrückt. Das mag ich auch an diesem Forum.

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Ganz lieb von euch. :hugs: Ich bin froh, dass ich mich entschlossen habe, bei Supergirls Adventskalender mitzumachen. Anfangs wollte ich nicht, weil mir nichts dazu einfiel. Schreiben hat eine heilende Wirkung, also für mich und mir ist es beim Lesen wie Schuppen von den Augen gefallen. Auf ein paar Sätze zusammengeschrumpt, habe ich alles verstanden. Nach über 50 Jahren. Und, ich habe meiner Mutter verzeihen können. :mending_heart:

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Das ist schön. Dann hat sich der Adventskalender schon gleich am ersten Tag gelohnt.

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@SuperGirl Vielen Dank für diesen Adventskalender und dass du den organisierst.

@EffEss Eine wirklich berührende und so toll geschriebene Geschichte. Dass du diese mit uns teilst, finde ich sehr mutig. Ich hatte beim Lesen ein Tränchen im Auge. Sei auch von mir virtuell umarmt.

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Ich möchte mich mal den Meinungen meiner Vorredner anschließen.
:evergreen_tree: Ja und einen schönen ersten Advent. :evergreen_tree:

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Eine unglaublich starke Geschichte, sehr berührend und beeindruckend. Fühl dich einfach mal umarmt, und danke, dass du sie mit uns teilst.

Der Weihnachtskalender ist wirklich eine super Idee, erst recht, wenn er so tolle Auswirkungen hat. Danke @Supergirl.

Und ich wünsche euch – uns – allen einen wunderschönen, ersten Advent!

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Auch wenn es schon ein bisschen spät dafür ist: euch noch einen schönen Restsonntag bzw. 1. Advent. Mich hat die Geschichte ebenfalls berührt. Von einer Kindheit mit gemischten Gefühlen kann ich mitsprechen. Bei mir waren es die bösen Jungs, die mich in der Grundschule geärgert haben. Ich hatte aber einen Plüschhasen, den ich heute noch habe. Den habe ich immer gedrückt, wenn es mir nicht gut ging. Später hat mein „Pikachu“ den Plüschhasen ersetzt, weil dieser im Bus verloren ging!

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Korrektur: Den Hasen habe ich noch. Aber sein rosaner „Zwilling“ ist im Bus liegen geblieben!

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Ein interessant trauriger Einblick in ein noch junges Seelenleben … Hat mich berührt. Danke für Deinen Beitrag!

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Das lässt tief in die hinterste Ecke der Seele blicken,
allerseits einen schönen 1. Advent.