Advent, Advent, ein Lichtlein brennt! (von EffEss)
Ich fliege. Ich fliege an der Hand meiner Mutter. Es ist dunkel und kalt. Schneeflocken tanzen im Lichterschein und zerschmelzen auf meiner herausgestreckten Zunge. Immer im gleichen Abstand erleuchtet eine Straßenlaterne den feuchten Asphalt. Ab und an sehe ich eine schillernde Benzinpfütze in Regenbogenfarben. Der zusammengeschobene Schnee am Straßenrand ist schmutzig und hat gelbe Flecken. Keinen Schnee essen, davon wird man krank.
Hausnummer dreißig, einunddreißig. Wir fliegen weiter. Meine Mutter hat Stress. Ich kann ihn riechen. Sie muss zum Dienst und ich wollte nicht aufstehen. Jetzt fliegen wir schneller. Mutter ist das Rentier und ich der Schlitten. Der kalte Wind saust um meine Ohren und meine Beine baumeln fast waagerecht über der Straße. Klack, klack. Die Schuhe meiner Mutter beschallen das Plattenbauviertel. Hausnummer vierzig. Ihr Dienst beginnt um sieben. Sie darf nicht zu spät kommen – denn – die Tante ist weg. Also Mamas Schwester. Weg, nicht mehr da. Nicht mehr hier. Für immer. Sie wohnt jetzt dort, wo immer die Sonne lacht. Dort wo Sahnetörtchen an den Bäumen wachsen und die Flüsse aus Himbeersirup bestehen. Lecker, da will ich auch hin. Aber so einfach geht das nicht. Es ist gefährlich.
Papa ist ein weiches Ei. Dem ist alles zu viel. Sagt Mama, die muss es ja wissen. Meinen Papa habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Der amüsiert sich. Worüber, weiß ich nicht. Ich habe auch eine große Schwester, aber die ist auch nicht mehr da. Die muss immer im Bett liegen. In einem Haus mit spitzem Dach und rotem Kreuz, zusammen mit anderen Kindern.
Ich drücke meinem Teddy die weiche Schnauze. Er passt gut unter meine Jacke und wärmt mir mein Herz. Heute will ich ihm mal die Welt zeigen. Er glaubt mir nämlich nicht. Ich bin ein großes Mädchen. Heulen hilft nicht. Ich muss meinen Dienst antreten in der Kindererziehungsmühle und genau wie alle anderen den Fünfjahresplan erfüllen. Trocken werden, allein anziehen, Muster legen, mit der Schere schneiden, gehorsam sein. Frau Müller trägt alles in Listen ein. Das muss sie, sonst bekommt sie Ärger. Teddy und ich bekommen auch Ärger. Er muss draußen bleiben. Für Puppen und Teddys von zu Hause ist hier kein Platz, wo kämen wir denn sonst hin. Hier geht es um innere Angelegenheiten. Teddy ist kein Spitzel. Ich schwöre. Er ist mein Freund. Mama ist genervt. Jetzt muss sie ihn mit auf Arbeit nehmen. Hoffentlich quatscht der nicht.
Heute soll es eine Überraschung geben. Da bin ich mal gespannt. Vorher singen wir aber alle gemeinsam das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube. Wir basteln mit Buntpapier ein Geschenk für unsere werktätigen Mütter. Ich kann schon schön die Schere halten. Also finde ich. Die Erzieherin hält eine rote Figur hoch. Das soll es mal werden. Der lispelnde Michael mit dem durchsichtigen Gesicht meint, das ist der Wannamann. Der grobe Matthias mit den dicken Fäusten lacht ihn aus und haut ihm eine runter. Frau Müller hat nichts gesehen. Der wird mal wie sein Vater, meint meine Mutter. Der ärgert im Betrieb auch alle Kollegen und trägt alles in Listen ein. Leise Tränen laufen über Michaels Gesicht. Er vermisst seine Mama. Eifrig schneide ich drauf los. Mir ist egal, wie das Ding heißt. Ich glaube an gar nichts. Mit Pinzettengriff rupfe ich schwarzes Buntpapier in kleine Stücke. Das sind die Mantelknöpfe. Jeden Knopf schlecke ich an und klebe ihn mit der gummierten Klebefläche unter seinen Vorgänger. Eine gehorsame Ruhe schwebt im Raum. Der Hausmeister kommt mit einem Sack auf dem Rücken. Im Gesicht trägt er ein schiefes Gesicht aus Plaste an dem ein schmutziger weißer Bart klebt. Der grobe Matthias fängt an zu schreien. Alle anderen sind still. Wie eine Welle geht seine Angst um und erfasst nach und nach alle Kinder. Alle schreien im Chor. Der Weihnachtschor. Matthias der Tonangeber. Ich bin mir nicht sicher, was ich jetzt machen soll. Es ist wohl besser, ich schreie mit.