Zweiundachtzig

82

Zweiundachtzig! Ich bin im Jahr 1940 zur Welt gekommen. Heute werde ich 82 Jahre alt. Es ist still geworden. Nach 82 Jahren.
Nichts und niemand kommt an die Tür. Höchstens ein kleiner Plausch mit den Nachbarn. Aber nur von Tür zu Tür. Nicht einen Schritt näher. Nicht einen Schritt in die Wohnung der Leute. Nicht einen Schritt. Warum auch. Das Nötigste, lässt sich auf einer Entfernung von 2 Meter und 50 Zentimetern sagen. Es sind nur diese Floskeln. Nichts Wichtiges. „Ich habe dann mal eine Frage!“ Das war‘s schon. Nichts Wichtiges. Nur so Phrasen die Hin und Her segeln. Wie die Blasen über Donald Duck oder den Neffen. Manchmal, da komme ich vom Einkaufen und habe eine Zeitung in der Hand. Dann begegne ich einem Nachbarn und ich zeige ihm die Zeitung und stelle eine Frage. Es gibt so viele Themen, die ich nicht mehr verstehe. Dann habe ich etwas zu sagen, und einige Fragen. Dann bohre ich weiter. Doch die Unruhe in den Bewegungen des Nachbarn signalisieren, dass der Andere meine Fragen gar nicht hören will. Eigentlich interessiert ihn nichts von dem was ich Frage. Ich lass es sein und sage: „Einen schönen Tag noch!“ Dann schließen sich die Türen. Vorsichtig schließen sich die Türen. Eben nicht zu laut oder zuschlagen. Das ist unfein. Ich bin 82 Jahre alt. Da wird man ruhiger. Erschreckend ist das. Dieses ruhiger werden. Tatsächlich ist mir nach laut sein und schreien. Doch selbst der Versuch einer lauteren Stimme überschlägt sich. Dann ist es stiller als am Anfang. Grabesruhe. Ein besorgter Gedanke.
Ich habe meine Schnitzereien. Figuren. Ich liebe meine Figuren. Die sind von mir erschaffen. Es ist lange her. Fünfzig Jahre. Ich habe vor fünfzig Jahren gelebt. Da habe ich geschnitzt und gemalt. Bilder, die ich verwahrt habe. Die Schnitzereien. Das ist alles. Nur das. Die Figuren, die ich geschnitzt habe, stehen mir zur Verfügung. Jederzeit.
Wenn ich es will, hole ich sie aus meinem Schrank im Wohnzimmer und betrachte meine Figuren. Es sind alles Sachen von der Küste. Hauptsächlich Menschen und Leuchttürme. Ich liebe diese bunten Türme. Ich konnte sie schnitzen. Musste nicht drechseln. Eine Maschine konnte ich mir nicht leisten. War stolz. Die Schnitzmesser habe ich noch. Ich war geschickt. Seit Kindheit war ich geschickt darin, Figuren zu schnitzen. Und Leuchttürme zu schnitzen. Das ging mir leicht von der Hand. Auch das Malen war irgendwie für mich gemacht. Die Leuchttürme waren alle rund. Sie hatten kaum Ecken und Kanten. Ich malte sie alle weiß und rot an. Alles Küste.
Ich hatte lange kein Holz mehr in meinen Händen. Nichts schrie mich an. Es war eine langweilige Welt geworden. Holzschnitzmesser. Die Klinge etwa sechs Zentimeter lang. Ich konnte es beherrschen. Ich hatte als Kind die ersten Erfahrungen.
Ich bekam zu meinem Geburtstag von den Nachbarn aus der Wohnung gegenüber jedes Jahr ein kleines Geschenk. Das war eine Freude für mich. Das war eine Aufmerksamkeit für mich. Das machte mich glücklich. Für eine kurze Zeit. Dann konnte man alles wieder in eine Ecke stellen. In die legendäre Ecke. In jeder Wohnung gibt es Ecken. Das ist so. In meiner Wohnung, gegenüber meiner Nachbarn, befand ich mich in der Ecke. Hingestellt. Abgestellt. Es war nicht leicht mit mir. Das wusste ich. Wenn mir jemand gegenüberstand, dann konnte ich nicht anders. Dann rutschten mir immer die falschen Wörter raus. Alles mit Krankheiten und so. Aber mit 82 ist das normal oder?
Die Balkontür war geöffnet und es breitete sich der Geruch nach Essen aus. Dieser widerliche Gestank nach eingekochtem und aufgekochtem Gemüse mit einem überwiegenden Anteil an Zwiebel und Knoblauch und Lauch und Ähnlichem, was sich mir den Magen umdrehen lässt. Brechreiz und daran anschließende Appetitlosigkeit. Die Tür zu schließen hätte keinen Sinn. Der Geruch hält sich in der Wohnung.
Es war Juni und es war ansprechend warm. Es musste nicht wärmer werden.
Mein Blutdruck war zu niedrig. Ich musste mich vorsehen. Morgens. Der Schwindel. Am Kleiderschrank festhalten. Nach dem Aufstehen. Bloß nicht hinfallen. Wer hilft mir auf die Beine?
Auf dem Tisch lagen meine Schnitzmesser. Ich setzte mich dazu. An den Tisch setzte ich mich und fummelte an einem Stück Holz. Eichenholz. Hartes Holz. Nichts für Anfänger. Ich sah mich nicht als Anfänger. Ich hatte die Erfahrung in meinem Schrank stehen. Olivenholz. Ich hatte noch einige Stücke. Schärfe war das Wichtigste. Ich schärfte das Set.
Im Schrank standen die Menschen, die mir im Leben etwas bedeuteten. Die Menschen waren aus Olivenholz. Die Leute, die mir nicht nur auf dem Flur ihre Beachtung schenkten. Die Leute, die mir einen Gefallen taten oder mich an ihren Tisch baten. Ich skizzierte sie und schnitzte sie bei Gelegenheit. Olivenholz eignet sich hervorragend zur Schnitzerei. Es war weicher.
Ja, ich habe Angst. Wenn man 82 Jahre alt ist, dann liegen 82 Jahre hinter einem. Dann lohnt der Blick nach vorne nicht. Die Angst ist innerlich. Die Angst sitzt in einem und wartet darauf, dass sie sich spürbar machen kann. „Du bist alt!“, sagt die Angst dann und man beginnt zu grübeln. Die Angst drückt und drückt. Da wird einem die Luft knapp.
Doch hin und wieder kann man aufschnaufen. Dann fühlt man sich so anders. Als wenn es Unendliche morgen gäbe. Die Gedanken sind dann wesentlich jünger als 82 Jahre. Vom Gefühl her sind sie zeitlos. Aber nur in diesem Augenblick. Nur dann. So selten eben. Dann möchte man etwas erschaffen. Das so groß ist. So unnachahmlich groß.
Die Nachbarin weinte immer öfter. Die beiden hatten es nicht so mit der Liebe. Nicht mit dem Lachen. Eher mit dem Weinen und den Schmerzen.
Ich muss schnitzen. Zunächst entfalte ich die Vorlage der Frau von nebenan. Es soll eine echte Schnitzerei werden. Groß. Menschlich. Holz. Ich habe das Holz und mein Messerset. In die Jahre gekommen, aber es schnitzt, was ich schnitzen will.
Wie vorteilhaft ist es, eine natürliche Vorlage zu haben? Eine Frau! Sie muss sich nicht bewegen! Nur liegen. Regungslos und anspruchslos! Den tiefen Schnitt am Hals würde ich ausfüllen. Sie hatte einen zarten Hals. Einen weißen Hals. Eine Aufgabe, ihn zu verschönern. Der Kopf lag jetzt ruhig! Ich konnte anfangen!

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Ein Text, bei dem das Gesamte mehr ergibt als die einzelnen Teile, der berührt und zum Nachdenken anregt, der zwischen den Zeilen viel mehr erzählt, als er es auf den ersten Blick tut. Irgendwie verrückt und doch in sich stimmig, auf eine erschreckende Weise nachvollziehbar.
Zumindest kommt es so bei mir an, ich kanns hier leider nicht besser ausdrücken.
Ich kann auch nicht sagen, dass er mir wirklich gefällt, aber ich finde ihn auf eine stille, subtile Art extrem beeindruckend.
Meine Mutter ist ebenfalls ein 1940er Jahrgang, sie schnitzt nicht, sie malt. Sie wird nicht so enden wie hier, doch auch über ihr liegt die Decke des Alters, macht sich immer stärker bemerkbar, doch sie scheint ihre Strategie gefunden zu haben. Ich frage mich oft, wie es sich anfühlt, ohne es wirklich wissen zu wollen, und ich frage mich, ob es mir auch gelingen wird.

Danke für diesen Text.

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Meisterhaft dargestellt. Der Stil berührt meine Seele. Und dann bin ich beim letzten Absatz völlig irritiert „Den tiefen Schnitt am Hals würde ich ausfüllen … Der Kopf lag jetzt ruhig! Ich konnte anfangen!“ In meinem Kopfkino liegt da die Leiche der Nachbarin als Modell. Oder missverstehe ich das? Krass. Beeindruckend. Vielen Dank

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Liebe Leah, der letzte Abschnitt soll der Phantasie alle Möglichkeiten erlauben. Vielen Dank, für deine liebe Kritik!

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Lieber HWV 82,
ich lese mir zum wiederholten Mal deine so unglaublich ans Herz gehende (inhaltlich wie stilistisch) Geschichte durch. Virtuos ist sie, du malst mit Worten die Realität. Ich würde gern mit dir Anfang nächsten Jahres ein gemeinsames Projekt andenken. Könntest du dir vorstellen, mit mir zusammenzuarbeiten oder schreibst du lieber allein?
Ganz herzliche Grüße aus Berlin
Leah

Liebe Leah, ich habe so ein Projekt nie versucht. Es wäre eine Herausforderung. Ich würde mich gerne weiterhin mit Dir austauschen und ein derartiges Projekt verfolgen!
Liebe Grüße aus Hamburg
HWV

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Lieber HWV,
das ist für mich eine erfreuliche Nachricht. Danke.
Normalerweise bin ich auch ein Alleinschreiber. Dann verunglückten meine beiden lieben Testleser, weshalb ich einiges von mir hier mit der Bitte um Anmerkungen und Tipps von der Community reinstellte. Dabei bin ich auf 2 wundervolle Kritiker gestoßen, die jeweils andere Aspekte bei der Korrektur im Auge hatten. Wie das vor sich ging, könntest du nachlesen. (Ich war so naiv und hatte keine Ahnung, dass andere unseren Gedankenaustausch mitlesen können. Das tat eine völlige Neueinsteigerin mit brillanten Ideen, die ich mit ins Boot holte. Jetzt schreiben wir an einer gesellschaftskritischen Erzählung mit einer ungeheuren Geschwindigkeit und hohen Qualität, weil wir vier uns gegenseitig beflügeln, dass wir noch vor Weihnachten damit fertig sein können. Ich habe selten soviel Spaß gehabt. Wer hätte das gedacht. Wie wir zur Handlungsentwicklung kommen und uns gegenseitig inspirieren, kannst du verfolgen.
Sollte dir so etwas zusagen, würde mich das sehr freuen. Ansonsten bin ich glücklich über unseren gemeinsamen Austausch.
Hab eine ruhige Nacht
Leah

Lieber hwv,
Deine Geschichte ist berührend und steht doch so sehr im Widerspruch zu meiner Herleitung, wie sich Sokrates im Gespräch mit Adeimantos (einem Bruder Platons) in „Politeia“ (der Staat) äußerte. In meinem Buch („Der Bronzerücken“) ging ich darauf ein. Sokrates meinte wohl sinngemäß, dass die geistig-seelischen Freuden in dem Maße zunehmen, wie die körperlichen Freuden abnehmen. Nun entstammte Platon (als Verfasser) der Aristokratie. Vielleicht liegt es daran…
Ich wünsche Dir und Leah eine wunderbare Zusammenarbeit!
Gruß, Udo

Lieber HWV, ich kann Dir nachfühlen, was Du schreibst Ich bin 86 und lebe auch ganz allein. Ein grüß Gott im Treppenhaus, ein hallo, an der Kasse des Supermarktes. Ansonsten eine Tour mit meinem Auto in die Berge. Alle paar Monate, ein Treffen mit meinen Kindern. Um nicht an meiner Einsamkeit zu ersticken, schreibe ich Bücher und mache Gedichte, Daneben rate ich Hefte weise, Meister Sudokus. und der laufenden Fernseher suggeriert mir, dass da Jemand ist und ich nicht allein bin.
Das nach einem erfüllten, turbulenten Leben.
Alles Gute Lyrikfan11

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Respekt, Lyrikfan11, dass Sie sich zeigen. (Das „DU“ möchte ich mir erst genehmigen lassen…)
Gruß, Udo
(Autor von „Der Bronzerücken - eine biografisch-philosophische Reise“; Im Buch stelle ich die These auf, dass wir als Gesellschaft weniger Therapeuten bräuchten, wenn der innere Reichtum der Alten abgefragt - also genutzt - werden würde.)

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Lieber Lyrikfan11, ein 82 jähriger Nachbar hat mich zu dieser kleinen Geschichte inspiriert. Er lebt alleine. Hat sich abgeschottet. Früher hatte er gemalt. Landschaftsbilder. Ein Künstler. Er hat sich in seiner Einsamkeit eingerichtet. Kinder hat er keine. War nie verheiratet. Wir laden ihn hin und wieder ein. Als Dank dafür hat er uns einige seiner Bilder vermacht. Er bestand darauf. Seine Erzählungen, aus einer Zeit, die mir und meiner Frau fremd ist, sind ein unerschöpflicher Pool an Inspiration für kleine Geschichten. Er erzählt gerne und ich nehme gerne auf! So ergänzen wir uns. Ich denke, es wäre wichtig, dass älter und jünger (ich habe die sechzig schon einige Jahre hinter mir) einen Punkt finden, an dem sie sich verknüpfen können. Ich kann mir vorstellen, dass Du uns vieles aus Deinem turbulenten Leben mitteilen kannst. Lass uns teilhaben an diesen Erinnerungen. Ich freue mich auf Deine Erzählungen.

Alles Gute und liebe Grüße hwv

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Danke lieber Bronzerücken, natürlich darfst Du mich Duzen. Ich habe viel verschiedenes gemacht, als Künstlerin in Choristin, unter Künstlern ist es ohnehin Brauch, dass man sich Duzt.

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Lieber hwv, danke für Deine Zeilen, Ja ich hatte ein turbulentes Leben und war auch mit meinem Mann, Vorderasiatischer Archäologe, in Syrien, wo ich für die Crew, 21 leute, auf 2 Camping Kochern kochte.
War erfolgreich als Wachskünstlerin und Kursleiterin,
Verrätst Du mir, wie man hier ein Foto hochladen kann?
Die Trauer um meinen Mann, als er starb, brachte mich zum Schreiben, nun schreibe ich gerade mein 6. Buch… einen Thriller.
Dir auch alles Gute und liebe Grüße, Lyrikfan11

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In der Antwortmaske sieht man einen Pfeil der nach oben zeigt. Damit kannst Du aus Deinen gespeicherten Bildern selbige hochladen!! Liebe Grüße hwv

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Ganz lieben Dank.
Viele Wünsche gehen von mir an dich.
Leah