Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte Cole, einen Aufschrei zu unterdrücken. Die Wunde an seinem Rücken brannte wie Feuer und erinnerte ihn jeden Tag an die jüngste Gemeinheit von Crimson. Wie konnte der es nur wagen, seinen jüngeren Bruder zu schlagen?
Am Donnerstag war es passiert. Cole erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Crimson hatte ihn als „Taugenichts“ beschimpft und sich zunächst in Rage geredet. Cole hatte versucht, ruhig zu bleiben und alle Beleidigungen seines Bruders zu erdulden. Viele neugierige Clanmitglieder hatten sich auf dem großen Platz vor dem Kristallbrunnen versammelt, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Doch niemand hatte eingegriffen, um die Auseinandersetzung zu schlichten.
Was danach geschehen war, würde Cole sein Leben lang nicht vergessen. Es war das erste Mal gewesen, dass Crimson die Hand gegen ihn erhoben hatte. Nicht mal Coles beste Freundin Chloé, die schon einige Streitereien der Brüder erfolglos zu schlichten versuchte, konnte verhindern, dass Crimson mehrmals auf ihn eingedroschen hatte. Cole hatte vor Wut gezittert. Er hatte nicht riskieren wollen, Crimson mit einem falschen Wort zu verärgern. So hatte er den Mund gehalten und die Brutalität seines Bruders über sich ergehen lassen.
Die Wunde am Rücken brannte noch immer. Warum musste es Crimson auch ständig übertreiben? Cole kannte die schnell aufbrausende Art seines Bruders mittlerweile zu genüge. Und obwohl die alte Heilerin Cora seine Blessuren versorgt hatte, kochte Cole innerlich vor Wut. Sein Puls raste schon bei dem Gedanken, welche neue Gemeinheit sich Crimson für ihn ausdenken würde. Es verging zurzeit kein Tag, an dem Cole nicht das Opfer seines großen Bruders wurde.
Am Montag waren die Brüder mit anderen Clanmitgliedern im Wald gewesen, um ihre Vorräte aufzufüllen. Cole hatte sich darauf konzentriert einen Hirsch mit Pfeil und Bogen zu erlegen. Es war Coles erste Prüfung gewesen, um als Erwachsener in seinem Clan anerkannt zu werden. Dazu musste er lediglich sein frisch erlegtes Wild den Clanältesten vorzeigen. Crimson wusste das natürlich, deshalb tat er alles in seiner Macht stehende, um dieses Ritual zu verhindern. Zuerst schubste er Cole, sodass sein Pfeil daneben traf. Dann schoss Crimson selbst einen Pfeil ab, der den Hirsch um Haaresbreite verfehlte. Das erschrockene Tier sprang daraufhin ins nächste Gebüsch und aus der Reichweite der Brüder. Cole war stinksauer gewesen, dass Crimson ihn bei seiner Jagd gestört hatte. Und das war erst der Beginn mehrerer Gemeinheiten gewesen, die sich der Ältere der beiden Brüder für den Jüngeren ausgedacht hatte.
Am Dienstag hatte Crimson begonnen, seinen Bruder zu stalken. Er war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, was Cole überhaupt nicht gefallen hatte. Er hatte alleine sein wollen, was er seinem Verfolger direkt ins Gesicht gesagt hatte. Doch Crimson hatte nur gelacht, er hatte sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen, für den Rest des Tages wie eine Klette an seinem Bruder zu hängen.
Am Mittwoch war Cole von seinem Bruder ohne ersichtlichen Grund beschimpft und beleidigt worden. Crimson bezeichnete ihn als „naives, dummes Opfer“. Weiterhin hagelten Worte wie „Weichei“ und „Feigling“ auf ihn ein.
Doch die Gewalt am Donnerstag stellte alle bisherigen Gemeinheiten seines Bruders in den Schatten. Cole verstand nicht, warum sich sein Bruder so gemein ihm gegenüber verhielt. Nicht mal sein Vater Chris, der Anführer des Kristallläufer-Clans, wusste Rat.
Dann kam Freitagmorgen. Als Cole erwachte, standen bereits mehrere Clanmitglieder um sein Bett herum. „Er war es eindeutig!“, rief eine aufgebrachte Stimme, die Cole seinem großen Bruder Crimson zuordnen konnte.
„Was macht dich da so sicher?“, hörte Cole seine beste Freundin Chloé sagen.
Crimson deutete auf einen Gegenstand, der unter Coles Kopfkissen herausragte. Es war das alte Jagdmesser von Chris, das erkannte Cole sofort. Blut klebte nun daran. Sofort sprang Cole aus dem Bett, bereit, sich der nächsten Ungerechtigkeit zu stellen.
„Wer hat hier was getan?“, rief er in die Runde.
„Euer Vater wurde ermordet in seinem Bett aufgefunden. Irgendjemand hat ihn erstochen. Und Crimson vermutet nun, dass du es warst, Cole. Ich kann mir das nicht vorstellen. Wo du doch keiner Menschenseele etwas antun könntest“, sprudelte es aus Chloé heraus.
„Die Beweise sprechen eine klare Sprache“, erwiderte Crimson. „Er muss sofort aus unserem Clan verbannt werden. Er stellt eine Gefahr für uns alle dar. Wir haben uns wohl in ihm getäuscht. Und dabei ist er noch nicht mal ein vollwertiger Erwachsener unseres Clans.“
Die letzten Worte spie Crimson seinem verhassten Bruder entgegen.
„Weil du mir keine Chance gegeben hast, mich zu beweisen“, zischte Cole verärgert zurück. Seine unterdrückte Wut, die sich seit Beginn der neuen Woche in ihm aufgestaut hatte, drohte nun wie ein dampfender Kessel überzukochen. Er zitterte und konnte sich gerade so zügeln, um nicht noch lauter zu werden.
„Ein Taugenichts wie du hat keine zweite Chance verdient. Vater ist tot und du bist Schuld. Wer sonst hätte es gewesen sein sollen? Siehst du hier noch jemanden mit einem Messer?“
Cole schluckte. Ein plötzlicher Gedanke jagte durch seinen Kopf. Sein großer Bruder, der plötzlich so viel Hass in sich trug, war die einzige Person, die in der Lage wäre, eine solche brutale Tat zu vollbringen. Zuzutrauen wäre es ihm, fügte er in Gedanken für sich fort. Chloé warf er einen hilfesuchenden Blick zu. Diese verstand sofort und sprang ihrem Freund bei.
„Cole war das nicht. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!“
„Dann pass besser auf, dass du dich nicht daran verbrennst!“, zischte Crimson.
Wohlwissend, dass im Falle eines Todes von Chris automatisch der älteste Sohn zum nächsten Clan-Anführer nachfolgen würde, erhärtete dies erst Recht Coles Verdacht, dass Crimson es auf das Erbe des gemeinsamen Vaters abgesehen haben könnte. Das würde auch den Hass auf den jüngeren Bruder erklären. Crimson wollte ihn loswerden, dämmerte es Cole. Damit er als alleiniger Erbe über den Clan der Kristallläufer herrschen konnte!
Ist es mir gelungen, meinem Beispiel-Prota (Cole) genügend Charaktertiefe zu geben?
Gruß
Super Girl