Inspiriert durch einen Satz in einem meiner Beiträge habe ich dieses Kapitel geschrieben. Es ist lang, dafür entschuldige ich mich an dieser Stelle. Wer es wirklich komplett durchschafft - Danke für die Geduld. Bin mit meinem Stil immer ein wenig unschlüssig, daher freue ich mich über ein paar hilfreiche Feedbacks.
Halvar
Die Sonne verschmolz mit Mutter Erde. Die Ränder honiggelb blutete sie aus und sickerte in den Horizont. Wolken durchzogen den Himmel um sie herum in feurigen Farben. Der Anblick raubte ihm den Atem.
Hoch oben auf dem Beschützer, dem Berg seines Volkes, sah er die Sonne untergehen. Die Zelte seiner Leute leuchteten weit unter ihm im Abendrot mit den ersten Sternen um die Wette. Männer kehrten von Osten her zurück zu ihren Familien, die Schatten lang und das Gepäck schwer von reicher Jagdbeute. Von hier oben war alles winzig klein. Frauen und Kinder liefen zwischen den Heimstätten hin und her. Einige Hunde schlossen zum Trupp junger Männer auf, die den Vätern entgegeneilten, um ihnen mit der Last zu helfen. Sein eigenes Zelt stand dunkel am Rande der Siedlung, schmucklos, mit Rentierfellen gegen die Kälte gewappnet.
Dies war sein Stamm, seine Freunde, sein Leben. Er liebte jede einzelne Seele da unten. Die Kinder des Dorfes waren unter seiner Obhut auf die Welt gekommen und die Toten hatte er gemeinsam mit dem Stamm den Göttern übergeben. Diese Menschen standen unter seinem Schutz. Um sie zu schützen, musste er sie bald verlassen.
Alles in ihm rebellierte gegen diese Entscheidung, aber eine andere Möglichkeit hatte er in den letzten Monden nicht finden können. Dafür würden sie ihn verachten, die Frauen und Männer des Dorfes, die Jungen und Alten. Ein Schamane ließ sein Volk nicht im Stich. Ihr Heiler, ihr Tor zu den Toten und Ahnen. Der Sucher der Wahrheit und der Lügen. Er würde weggehen und sie blind, taub und ohne Stimme zurücklassen.
Eine Heimkehr war ausgeschlossen. Sein Volk war auf seinesgleichen angewiesen, sein Stamm ohne geistige Führung undenkbar. Einige wenige Wanderschamanen durchstreiften die Tundra und eher früher als später würde einer von ihnen seinen Platz einnehmen. Doch um sie zu retten, gab es keinen anderen Weg. So tat er, weswegen er gekommen war.
Er betrat die Jurte, entfachte ein kleines Feuer und fütterte es mit trockenem Steppengras, bis es hell loderte. Den Schneesperling legte er in einen Jutebeutel, die Schlingnatter und den Bitterling ebenso. Sorgsam erhitzte er einen Topf Wasser und kochte Chakrunablätter darin aus. Zuletzt nahm er Ema`s Knochenmehl.
Ema war vor 13 Tagen gestorben. Mehr als sechzig Sommer war sie Teil des Stammes gewesen, hatte vier Kinder großgezogen und zwei Männer überlebt. Die meisten Sommer ihres Lebens zerlegte sie die Jagdbeute. Sie verarbeitet die Felle und fertigte aus dem Geweih der Tiere Löffel und Messer, Kämme, Schmuck und feine Nadeln. Eines Tages kam Ema nicht mehr vom Fluss zurück. Männer brachen zur Suche auf. Sie wurde auf dem Waschfelsen gefunden, nach vorne gesunken, als wolle sie den Stein, auf dem Sie saß, in den Armen halten. Felle lagen um sie herum und warteten auf ihre fleißigen Hände. Doch ihre Seele war aufgebrochen in die neue Welt.
Sie nahmen Ema mit, reinigten sie, strichen den Leib mit Rentierfett ein und bahrten ihn im Dorfzentrum auf. Alle konnten 10 Tage Abschied nehmen und ihr für die Reise Glück wünschen. Es gab warmes Fladenbrot, ein wenig Fleisch und Tee. Dann trugen sie Ema auf den heiligen Berg. Es war leichter, den Ahnen gegenüberzutreten, wenn der Leib vergangen war. Nichts sollte die Seele an diese Welt binden.
Er hatte Ema gegen den Seelenpfahl gelehnt und ihr hundert kleine Schnitte beigefügt. An den Fußsohlen angefangen, die Beine entlang über dem Rumpf bis zu den Fingerspitzen. Der Geruch war schlimm, aber das Rentierfett hielt ihn in Schach. Dann war er beiseitegetreten und die Trommeln wurden geschlagen. Für die Geier.
Die tiefen Töne lockten sie an. In der Ferne entstand eine graue Wolke, die langsam näher schwebte. Immer dichter wurde sie und immer dunkler. Es waren mehr als dreißig Geier, die herab flogen und von vier Hütern in Schach gehalten wurden, als sie den heiligen Berg überfluteten.
Die Stille war vorüber. Der Berg wurde erfüllt vom Geschrei und Gezeter der großen, schwarzen Geier. Mit Drohgebärden legten sie fest, wer von ihnen zuerst fressen durfte, und die größten Tiere setzen sich durch. Als man sie gewähren ließ, dauerte ihr Werk nicht lange.
Die Hüter scheuchten sie auseinander. Von Ema war außer den bleichen Knochen nichts mehr da. Kein Tropfen Blut war auf dem Schiefer zu finden. Er schritt zu ihr und löste so respektvoll wie möglich den Schädel vom Skelett. Mit einem Stein brach er ihn auf und trat zurück. Und erneut erledigten die Geier ihr Werk. Nicht lange und sie ließen von Emas Überresten ab. Nach und nach flogen sie zurück in ihre Kolonie. Was blieb, waren Knochen, die man zerstieß. Das Knochenmehl wurde ihm, dem Schamanen, übergeben, denn es war mächtig und voller Wissen.
Und hier war er, streute das graue Mehl in kreisenden Bewegungen auf den Boden und sprach zu den Geistern. Ema musste ihre Reise in die neue Welt noch ein wenig aufschieben. Sie wurde ein letztes Mal gebraucht. Die Geister sollten es ihr mitteilen, ehe es zu spät war. Also sprach er eindringlich und leise auf sie ein, während er sich drehte und drehte und Emas Knochen die Erde unter ihm grau färbte, bis es nichts mehr zu streuen gab.
Der Tee hatte lange gezogen. Er nahm ihn von der Feuerstelle und fischte die Blätter heraus. Drei von ihnen nahm er in den Mund und kaute den bitteren Saft heraus, bevor er einige kleine Schlucke davon trank. Dann hieß es warten.
Irgendwann verstummten die Grillen. Der Wind hörte auf, an den Fellen zu zupfen und ließ ihn alleine. Etwas stand vor der Jurte und wartete auf Einlass.
Vorsichtig nahm er am Rand des Kreises Platz und legte den Jutebeutel in seinen Schoß. Der Chakrunasaft tat sein Werk und weichte die Grenzen seines Verstandes auf. Er sah die andere Welt, die wie eine zweite Haut über der seinen lag. Sie schimmerte in weichen Farben. Die Welt der Geister. Wie die Sonne in den Horizont, dachte er, blutet sie in meine hinein. Ich könnte meine Welt vergessen und in diese eintauchen, so schön ist sie. Aber er wurde gebraucht, und so konzentrierte er sich auf das, was vor ihm lag. Auf die Frage, die gestellt werden musste.
„Komm herein Ema, um der alten Zeiten willen. Lass uns reden, nur ein wenig. Ich habe Geschenke für dich. Sie werden dir auf deinem Weg helfen. Und Runia, deine Tochter, hat mir etwas mitgegeben.“
Der Chakrunasaft war stark. Es gab kein hier und dort mehr. Alles war ineinander verwoben. Die Farben fluteten über ihn hinweg und durch ihn hindurch. Die Zeltklappe wurde lautlos angehoben und eine kleine, undeutliche Gestalt betrat den Raum. Sie waberte und zitterte leicht in der Luft und verharrte im Kreis.
„Runia sagst du?“
„Sie leidet sehr. Aber sie versteht, dass wir alle diese Reise vor uns haben.“ Lächelnd sah er zu Ema. „Die Boten haben deinen Körper mit sich genommen. Ihre Kolonie wird durch dich aufblühen. Sie wird grün und voller Leben sein. Fruchtbar und reich an Vielfalt. Es war eine sehr schöne Zeremonie.“ Er nahm eine kleine Figur aus seiner Tasche und legte sie neben seine eigenen Geschenke. „Runia will, dass du dieses Abbild deiner Enkelin mit dir nimmst. Du hast sie in diesem Leben beschützt und sollst über ihre Seele wachen, wenn du auf die andere Seite gelangt bist. Sie lieben dich und werden dich ehren, bis ihr euch wiederseht.“
Er nahm die Geschenke und schob alles in den Kreis. „Nimm diese Gaben. Du wirst den Fluss der Zeit und die Tiefen dahinter damit überwinden.“
Emas Geist beugte sich vor und nahm die Geschenke aus der alten Welt entgegen. Er sah ihre Hand kurz im Kreis auftauchen, bevor alles daraus verschwand. Sie seufzte leise.
„Es gibt nichts zu sagen. Was dir wichtig erscheint, ist bedeutungslos. Eure Welt ist nicht mehr die meine“, flüsterte sie ihm zu.
„Die Welt mag nicht mehr die deine sein, sie ist es aber für Runja und Sara.“
Die kleine Gestalt blieb stumm, unschlüssig, vorsichtig.
„Ich erbitte nur eine Antwort. Hilf mir, die Dinge zu verstehen, für die mein Verstand und meine Sinne nicht ausreichen. Mag diese Seite keine Bedeutung mehr für deinesgleichen haben, für meinesgleichen ist sie alles.“ Langsam streckte er Ema seine Hände entgegen. Sie bewegten sich durch Schichten von Licht und Farbe. „Wir folgen dem vorgegebenen Weg, erfreuen uns am Glück und ertragen die Prüfungen, die uns erwarten. So war es, ist es und wird es immer sein. Doch die Ordnung ist in Gefahr. Die Zeichen sind da und ich weiß, dass du sie sehen kannst.“
Er rückte so nah wie möglich an den Aschekreis heran.
„Nimm meine Hände, zeige mir, was zu tun ist. Teile dein Wissen mit mir, damit ich unser Volk beschützen kann. Dein eigen Fleisch und Blut.“
Das Wabern und Zittern nahm zu. Er fühlte, wie sie mit einer Entscheidung rang.
„Was soll ich dir zeigen?“
„Es muss einen Ausweg geben. Etwas, das ihn aufhält. Das uns hilft, seine Pläne zu durchkreuzen. Was auch immer das ist, hilf mir, es zu sehen.“
Emas Geist bewegte sich ein Stück von ihm weg und die Farben im Kreis wurden blass und dünn. Sie lief lautlos umher, blieb dann vor ihm stehen und griff nach seinen Händen. Erleichtert atmete er aus und bunte Wirbel bildeten sich vor seinem Mund.
„Dann sieh hin, Halvar. Was auch immer da sein mag, nutze es weise.“
Sie nahm seine Hände und die Welt, die er kannte, war nicht mehr. Er viel nach vorne, fiel in tausend Lichter, ein riesiges Meer aus Farben, kräftiger als zuvor. Sie zog ihn hinab in einen Strudel aus Rot und Blau. Panik bemächtigte sich seiner. Das Licht stahl sich allmählich davon und Dunkelheit umgab ihn. Tiefer ging es, immer tiefer. Sein Herz schlug so stark in der Brust, dass es im ganzen Körper zu spüren war. Es pochte in den Fingerspitzen und den Knöcheln.
Irgendwann kamen sie zur Ruhe, hier im Nichts, schwebten in Dunkelheit und Stille.
„Hier ist unser Weg zu Ende“, sagte Ema. „Ich muss jetzt gehen, ein wenig weiter als du. Pass auf sie auf.“ Sie ließ ihn los. „Und nun sie hin.“
Halvar spürte, wie sie verschwand. Von einem Moment auf den anderen war sie weg. Und er allein in dieser endlosen Dunkelheit.
„Hier ist nichts. Das hatte ich nicht gesucht, Ema. Wo hast du mich hingebracht?“ Panik überkam ihn. „Ema? EMA!“
Etwas nahm ihn wahr. Er konnte deutlich fühlen, wie es auf ihn aufmerksam wurde. Rudimentär nur, ein stumpfer Verstand.
„Wer bist du?“ Die Worte tropften aus seinem Kopf wie dicker Saft.
Ohne Vorwarnung packte es ihn, betrachtete, suchte. Er wurde herumgewirbelt, zerrissen und wieder zusammengesetzt. Halvar schrie vor Schmerz und Angst. Doch dieses Etwas machte unbeeindruckt weiter. Es nahm keine Rücksicht, kein bisschen. Es drang in seinen Kopf ein wie ein Pflug, zerstörte, zerrieb, heilte und … pflanzte einen Samen.
Als Halvar aus der Trance erwachte, lag er erschöpft in der Jurte. Seine Seele fühlte sich wund an. Scham durchflutete ihn und Tränen liefen über sein Gesicht. Der Hals brannte vom Schreien. Er weinte lautlos, weinte und lachte in einem. Aufstehen ging nicht, darum krümmte er sich zusammen wie ein kleines Kind. Blieb an Ort und Stelle. Es gibt noch Hoffnung, dachte er, ein kleiner Funke, aber es gibt ihn. Dachte es und schlief ein.