WT "Wie man keine Prinzessin wird"

Ein Handelsgut sollte niemals Hände haben und es sollte nicht sprechen können. Kartoffeln waren in Ordnung. Steine, auch die bunten, bereits geschliffenen, konnten gerne den Besitz für zehn Pferde wechseln. Handel war prinzipiell nicht verurteilenswert, es war nur stets die Frage, womit gehandelt wurde.

Es gab eine Grauzone: der Handel mit Informationen beispielsweise. War eine Beobachtung einen Laib Brot wert? Vermutlich. Wissen über strategische Taktiken hingegen ließ sich nur schlecht in Teig aufwiegen – da konnte Gold ganz praktisch sein. Aber was war, wenn man um ein Land verhandelte? Was, wenn man es nicht im Rahmen eines mehr oder weniger durchdachten Krieges annektieren wollte, sondern auf weniger unübersichtliche Alternativen zurückgriff. Wie beispielsweise einen Handel.

Das Reich der Fernen, auch Fernland genannt, lag wirklich günstig auf der kontinentalen Platte. Etwa die Hälfte des Reiches endete an der Küste des Obenmeeres und in seiner Gesamtheit zog sich über zwei Klimazonen, so groß war es. Im weitesten Sinne war Fernland wie ein sehr hässlicher Pilz geformt, dessen Hut etwas schief stand und hier und da angefressen war. Auf der einen Seite neigte er sich seinem sehr breiten, birnenartig geformten Stiel entgegen, auf der anderen Seite hatte sich möglicherweise einst eine etwas übergewichtige Kröte angelehnt, sodass der Hut hier mehrere peinliche Dellen und Kluften aufwies. Die westliche Seite dieses Pilzes endete in malerischen Stränden mit schwerem, kiesigen Sand und begann Steilküsten, die in zerklüfteten Felsen in einer stets tobenden See wurzelten und so sehr zum Selbstmord einluden, dass sich ein florierender Tourismus mit Übernachtung-per-Vorauszahlung in den Ortschaften der Region entwickelt hatte.

Im Osten erstreckte sich Fernland bis weit auf den Kontinent, war reich an gesunden und ertragreichen Böden, durchsetzt von Seen und Flüssen und schottete sich gegen das ausländische Gesindel mit weiten, sehr unordentlichen Urwäldern ab, durch die es nur wenige Passagen gab. Die wurden natürlich von den Fernen penibel gepflegt, weswegen sie eine saftige Maut von ausländischen Reisenden nahmen, deren Gefährte offensichtlich viel schädlicher für die Straßen waren als die des eigenen Volkes. Entlang der Grenzstationen gab es deshalb nicht wenige inländische Fuhrunternehmen, die Waren von Jenseits gegen eine kleine Gebühr übernahmen und dann, meistens, an ihren Zielort diesseits brachten.

Für stetes Ungemach sorgte der Süden. Hier herrschte ein angenehm warmes Klima, hier wuchsen die besten Früchte und entstanden die beliebtesten Weine. Dies- und jenseits der Grenze. Aber leider eben vor allem jenseits der Grenze. Das Gelände war hier nicht durch Wälder unzugänglich verwachsen, sondern war leicht hügelig mit festem Boden und völlig unüberschaubar. Selbst eine Patrouille mit einhundert Augen hätte nicht die unzähligen Fuhrwerke entdecken können, die querfeldein zwischen dichtem Gebüsch und Felsformationen, entlang von seicht fließenden Bächen und hinter Schilffeldern ihren Weg nach Fernland fanden und so freien Handel betrieben. Die Straßen im Süden waren so ungenutzt, dass sie einmal im Monat abgestaubt wurden.

Im Süden von Fernwald lag Tziochrien. Das Reich der Tziren war annähernd gleich groß wie das der Fernen und war, so peinlich das auch war, wie eine Aubergine geformt, deren Stiel sich dort immerwährend und belästigend am Fuß des fernschen Pilzes rieb. Tziochrien war eine Halbinsel, deren Dimension den Begriff ‚Insel‘ so übertrieb, dass Fachleute lieber ein tuberkulöses Husten vortäuschten, als ihn zu nutzen. Das Land war umgeben von Meeren, dem Obermeer und der kylitischen Meerenge, und konnte von Palmenstränden bis hin zu Schneegebieten alles bieten. Denn Tziochrien beherbergte auch ein kapitales Gebirge, das sich von seiner Mitte bis weit in die östlich angrenzenden Reiche zog. Wegen seiner geografischen Lage und den angeberischen klimatischen Bedingungen blieben die Tziren größtenteils unter sich. Sie pflegten Überseehandel mit den Reichen des angrenzenden südlichen Kontinents, aber sie scherten sich wenig um Austausch mit Pilzen. Außer natürlich, man konnte Handel betreiben. Und die Fernen liebten einen guten Wein. Sehr sogar.

Fernland wurde von einem König regiert. Adelsfamilien verwalteten die Gebiete und profilierten sich mit dem, was ihr Land zu bieten hatte. Auf mehreren Schlössern im Land kamen diese blaublütigen Verwaltungsangestellten zusammen und belobhuddelten sowohl sich selbst als auch ihren König und taten ihr Bestes, um Waren gegen Gunst zu tauschen. Wer konnte, brachte seine Brut in der Nähe des Königs unter, denn der hatte viele Kinder. Königskinder waren die späteren Schlossherrinnen und -herren im ganzen Land und die brauchten natürlich sowohl Ehepartner als auch einen Haufen in Luxus watendes Gefolge. Fernen sahen sich generell als edle Wesen. Sie lebten mit kulturellem Anspruch, gaben sich der Kunst in all ihren Spielarten hin und studierten schon in frühen Jahren ihr Verhandlungsgeschick und ihre Eloquenz. Patriotismus durchströmte alle Fernen und es war selbstverständlich, dass es jenseits der Grenzen des Landes außer Wildnis und Höhlenaffen wenig Spannendes zu sehen gab.

In Tziochrien gab es ebenfalls einen König. Seine Frau war in jungen Jahren bei einem beunruhigend unzufälligen Ereignis eine sehr lange, sehr steinerne Treppe hinabgestürzt und hatte das zum Entsetzen fast aller nicht überlebt. Dem König war ein Sohn geblieben und er selbst hatte nach diesem Vorfall auf weitere Ehefrauen verzichtet. Klans kontrollierten das Land, loyal zu ihrem König, aber wild und stets auf Wanderschaft in ihren Gefilden. Sie zogen von Ort zu Ort, blieben nie lange, aber immer so kurz, dass sie allen Ortsbewohnern den letzten Nerv raubten. Klans mussten mit durchgefüttert werden und sie hatten das Anrecht auf Obdach – und damit war kein Stall gemeint. Glücklicherweise hatte jedes Klan-Gebiet so viele Ortschaften und Siedlungen inne, dass es auszuhalten war. Die Tziren galten, jedenfalls bei den Fernen, als raues Volk, fast barbarisch einfach, kaum über das Stadium des um den Körper gewickelten Bärenfelles hinaus. In Fernland munkelte man, dass sie sich untereinander über Grunzlaute unterhielten und immer erst zuschlugen, bevor sie nachfragten. Tziren waren riesig, muskulös, haarig, schwielenbewehrt an Händen, Füssen und an anderen Körperteilen. Besonders Klanmitglieder waren anscheinend gute zwei Fuß größer als die Normalbevölkerung. Das wussten die Fernen vor allem vom Hörensagen, denn sie selbst hatten ja nur mit dem handelnden, einfachen Tziren-Volk zu tun. Und das am Liebsten im Dunkeln, wenn möglich durch ein Paravent abgeschirmt.

Von Außen betrachtet könnte man fast glauben, dass sich die Fernen und die Tziren absichtlich auseinanderentwickelt hatten. Aber wer wollte schon glauben, dass sich zwei Völker derart planvoll verhalten konnten.

(Ich dachte, ich stelle hier auch mal etwas ein, damit ich mich selbst wohler dabei fühle, wenn ich anderen ein Feedback gebe. Natürlich fange ich auf keinen Fall ein neues Projekt an, weil. Schuld ist darüber hinaus dieses Forum, die motivierenden Leute darin, das Universum, aber auf keinen Fall ich selbst. Ich hoffe, es gefällt… irgendwem… etwas… :slight_smile: )

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Sprachlich sagt mir Dein humorvoller Text sehr zu und ich würde gerne weiterlesen. Natürlich müsste ich wissen, an welcher Stelle eines Romanes (?) steht er. Als kompletter Block, gleich zu Beginn als Einstieg in die Geschichte, fühlte ich mich von so vielen Informationen etwas überfahren und ich bin kein Fan von Knotenzungen-Namen. Fantasy ist prima, aber ich will mir Namen merken und sie spuckfrei vorlesen können. :sweat_smile:

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Mit diesem Prolog würdest Du mich auf jeden Fall einfangen. Der Schreibstil gefällt mir sehr gut und im Gegensatz zu vielen anderen Lesern finde ich einige Informationen zum Einstieg, erst recht, wenn sie unterhaltsam präsentiert werden, sehr hilfreich. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich leider, dass „show, don’t tell“ bei vielen zu einem unverrückbaren Credo geworden ist.

Nachtrag: Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich Deinen Text tatsächlich als „Prolog“ betrachten würde. Dafür ist er vermutlich etwas zu lang. Aber als Einstieg finde ich ihn Klasse.

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Sehr gut! Originell, liest sich witzig und macht neugierig, wie die eigentliche Geschichte nach diesem Prolog losgeht!

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Witzig.
Ein Schelm, wer Parallelen zu … irgendetwas … sieht.

Als Prolog vielleicht tatsächlich etwas zu lang, aber nicht viel, und mich würde die Geschichte, die (k)ein Projekt ist/wird, interessieren.

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Also! Ich will doch hoffen, dass das sehr deutlich wird. Ich habe mir ja praktisch nur noch die Fußnoten verkniffen. :wink:

Und danke. <3

Sollte ich dieses Nicht-Projekt je nie vorantreiben, dann wirst du feststellen, dass das beabsichtigt ist. ^^ Es greift idealerweise die Vorbehalte gegen das Ausland auf und entspringt der Wahrnehmung, die Deutsche (aka Gummihälse) hin und wieder von der Schweiz und ihrer Sprache (aka ‚Chuchichäschtli‘) haben.

Diese Masse an Informationen hast du erstaunlich unterhaltsam vermitteln können, das ist eine echte Leistung, Hut ab.

Schonmal ein genial guter erster Satz, irgendwie fängt er mich sofort ein. Also weiter gelesen.
Auch dein Schreibstil gefällt mir sehr, flüssig, humorvoll, genau mein Fall. Trotzdem ist mir dieser Prolog zu Info-lastig, da ist einfach zu viel hineingequetscht. Immerhin habe ich noch nie einenso unterhaltsamen Infodump gelesen.

Den etwas entschärfen, dann hast du ein vielversprechendes Nicht-Projekt.

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Witzig, launig, gut. Leicht zu lesen, macht neugierig auf die (dann folgende?) Geschichte. Fantasy irgendwo zwischen Terry Pratchett und Walter Moers :wink: – Allerdings, ja, insgesamt ist das zuviel für einen Einstieg. Vielleicht kannst Du es aufteilen und auf verschiedene Kapitel verteilen.

Der gelungene erste Satz für sich genommen bietet bereits jede Menge Anknüpfungspunkte für eine Geschichte, bei der es um Menschenhandel geht – aus der Sicht eines Sklavenhändlers …

Also: weitermachen, weitermachen, weitermachen!

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He, weitermachen!
Das liest sich cool, witzig, macht ehrlich Spaß und macht neugierig.
Okay, lange Sätze, aber das passt, und evtl. a bisserl kürzen .?.
Mir gefällt es ziemlich gut :sunglasses::v:

Natürlich schreibe ich diese Geschichte auf keinen Fall weiter. Es ist konstruktive Prokrastination zur Weihnachtszeit, die hier passiert. Schuld sind außerdem die vielen motivierenden Kommentare (Danke :cherry_blossom: ) und das sehr schwere Essen der Festtage. Definitiv bin aber nicht ich schuld an diesem Nicht-Projekt. Von dem auch auf keinen Fall schon mehr Kapitel existieren. Verdammt. (Leider kann ich die Absätze hier nicht so schön darstellen. Ja, ich hätte ein pdf generieren können, habe ich aber nicht.)

Kapitel 2 - Phädra

„Bei allen Göttern! Doch nicht mit der Schale, Phädra!“

Wie ein geschickt geführter Degen blockierte die Gabel von Gisela die Reise einer Garnele in Phädras Mund.

„Hast du etwa nicht aufgepasst, als ich dir gezeigt habe, wie man eine Garnele mit Messer und Gabel von der Schale befreit?“, jaulte die Erzieherin auf: „Du kannst doch nicht diese ekelerregende Hülle mitessen – wer weiß, was die alles berührt hat!“

„Das Vieh ist so groß wie meine kleine Fingerkuppe. Und sie ist gekocht. Und… ich verhungere während des Schälens, wenn das so weitergeht“, schnaubte die junge Frau.

Demonstrativ legte sie die Gabel mit der winzigen Meeresfrucht auf dem Teller ab und verschränkte ihre Arme vor dem Körper. Dann schüttelte sie frustriert ihr Haupt, auf dem sich langes goldblondes Haar in kunstvollen Flechtungen auftürmte und von Haarkämmen aus Gold und mit Edelsteinen besetzt gehalten wurde. Phädra funkelte Gisela mit ihren dunkelblauen Augen, die ihre Wirkung bei der Dame mit der blassen, papiernen Haut und den langen, strähnig-langweilig braunen Haaren nie entfalten konnten. Gisela nahm sie nicht ernst. Erst recht hatte sie keine Angst vor ihr, auch wenn Phädra mit ihren einundzwanzig Jahren inzwischen seit einem Jahr volljährig war.

„Deine Aufgabe ist es, auch unter den widrigsten Bedingungen das Reich der Fernen zu repräsentieren“, erklärte Gisela wichtigtuerisch.

„Mit einer Baby-Garnele?“

Giselas Augen wurden zu schmalen Schlitzen: „Faulheit fängt mit kleinen Rissen an der Oberfläche an und von dort verbreitet sie sich wie Eiter in einer Wunde. Heute ist es die Garnele, morgen grunzt du in ein Fell gehüllt vor einer Höhle einen Mann an!“

Phädra wollte widersprechen. In ihr kratzten Widerworte wie grober Sand an dünner Haut. Aber sie wusste auch, dass sie damit nichts bewirken würde, außer dass sie noch länger und noch mehr Hunger haben würde. Denn die alte Erzieherin würde sie hier nicht entlassen, auch wenn es Stunden dauern würde, bis sie diesen Teller fehlerfrei bearbeitet hatte. Neben den winzigen Garnelen glotzten sie noch Brün-Pastetchen an. Rund und außen mit einer knusprigen Kruste, die nur dafür erfunden worden war, junge Frauen mit kleinen Gabeln und glatten Tellern in den Wahnsinn zu treiben. Lange Mind-Bohnen vervollständigten das Bild. Diese Falle hatte Phädra schon erkannt: Mind-Bohnen durften nur mit der Gabel geteilt werden, wer ein Messer zur Hilfe nahm, verriet sich als Banause. Diese verfluchten Stangen wurden allerdings von einer zähen, langen Faser zusammengehalten und es gab genau eine Seite, von der aus man sie teilen und dann mit einem geschickten Stich mit der Gabel von ihrem Anker befreien konnte. Aß man die Faser mit, bestand ein großes Risiko, dass sie sich mit ihren unzähligen Widerhaken in der Speiseröhre festsetzte und zu einem tagelangen, zwanghaften Husten führte, bis die Bohne so stark zugeschleimt und verrottet war, dass sie sich abschlucken oder erbrechen ließ. Warum dieses Gemüse als Delikatesse galt, würde vermutlich für immer ein Geheimnis bleiben, denn es schmeckte nach nichts mit einem Hauch Vanille, sofern eine Schote den Bohnen im Kochtopf Gesellschaft geleistet hatte.

Die Wut, die Phädra empfand, ließ ihre Augen brennen. Die darauf folgende Verzweiflung, die nur Sekunden Gelegenheit hatte, auf sich aufmerksam zu machen, wich der Resignation, die den Alltag der Benimmschülerin bestimmte. Es war eine Sache, dem Adel anzugehören. Es war eine ganz andere Art von Desaster, wenn man als Frau auf die repräsentative Rolle vorbereitet wurde, in die man geboren worden war, ohne dass irgendwer gefragt hätte, ob das so in Ordnung war.

„Du bist die schwierigste und starrsinnigste Schülerin, die ich je hatte.“ Gisela hatte Phädra in den letzten Sekunden genau beobachtet und provozierte jetzt weiter. Irgendein Herausstellungsmerkmal musste man ja haben.

Unter ihren Freundinnen war nicht eine, die sich über die täglichen, endlosen Benimmkurse und Repräsentanz-Belehrungen beschwerte. Sie alle verließen mit leuchtenden Augen und aufgeregten Hüpfern den Schlossgarten, wenn die Mittagspause durch das Klingen der Glocke beendet wurde. Phädra von Fernwalde aber hasste es. Es war eine offensichtliche Zeitverschwendung. Jeden Abend, den sie mit ihren Eltern und der feinen Gesellschaft auf Festen und Bällen verbrachte, machte das deutlich: Von den Erwachsenen hielt sich nicht einmal die Hälfte an ein Viertel dessen, was sie jeden Tag durchexerzieren musste.

„Würdest du dich jetzt bitte wieder ordentlich hinsetzen? Du bist kein Lumpensack! Rücken gerade, Schultern zurück – und bekomm dein Gesicht in den Griff. Du lächelst, selbst wenn vor deinen Augen einem Kätzchen das Fell über die Ohren gez…“

„Es reicht, Gisela.“

„… gezogen wird, weil es nicht nur wohlerzogene Menschen gibt, sondern auch Grobiane und Bauern, die das für einen angenehmen Zeitvertreib halten!“, empörte sich Gisela laut. Nicht über das Kätzchen, sondern über Phädras neuerlichen Widerspruch.

„Iss!“

Einen Moment brauchte die junge Adlige, um das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen. Dann lächelte sie. Es sah, wie immer, beängstigend natürlich und interessiert aus. Ihre wohlgeformten, vollen Lippen entspannten sich und ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Das Lächeln war kein panisches Grinsen und auch kein aggressives Zähnefletschen. Es war nicht zu breit, nicht zu hoch, nicht zu verzerrt. Wurde ein Gegenüber das erste Mal mit Phädras Lächeln konfrontiert, war es, als wäre man nach langer Zeit nach Hause zurückgekehrt. Als hätte man die netteste Kleinigkeit gesagt oder hätte etwas getan, worauf die Nation stolz sein konnte. Erst nach der zweiten oder dritten Begegnung mit diesem Lächeln konnte sich ein ungutes Gefühl breitmachen und den Verdacht nahelegen, dass etwas nicht stimmte. Denn dann fiel auf, wie immer gleich dieses Lächeln war. Wenn es eine Sache gab, die Phädra beherrschte, dann war es das Lächeln. Selbst wenn man ihr in solchen Momenten einen Amboss ins Gesicht gerammt hätte, hätte es den Schädel zertrümmert, aber das Lächeln wäre geblieben. Davon war sie überzeugt.

Am Nachmittag betrat Phädra endlich wieder ihre Gemächer. Nachdem sie sich versichert hatte, dass sich niemand in den Räumen befand, begann sie hastig, die Haarkämme zu entfernen und die geflochtenen Zöpfe wenigstens so weit am Haaransatz zu lösen, dass sie ihr nicht mehr die Haut vom Kopf zu reißen schienen. Mit der anderen Hand brach sie Stücke des Brotes ab, das hier immer bereitlag und beendete damit nach endlosen Stunden die Qualen des nagenden Hungergefühls. Sie beobachtete sich im Spiegel, schwang die Hüften langsam, die nach dem langen geraden Sitzen schmerzten, und wippte mit den Beinen, um die Waden- und Oberschenkelmuskulatur zu beanspruchen.

Phädra warf die Arme in die Höhe und begann, sie kreisend zu bewegen, um ihre Schultern zu entspannen. Und dann drehte sie sich hüpfend mit – einfach weil sie Spaß daran hatte und weil sie das Bedürfnis, sich frei zu bewegen, nicht mehr unterdrücken wollte. Als die Tür zu ihren Zimmern aufflog, hielt sie deswegen zu spät an und geriet ins Straucheln, nachdem ihr Gleichgewichtssinn eine erstaunlich lange Leitung bewies und noch weiter tanzen wollte.

„Du kannst die arme Gisela nicht immer so ärgern, Phädra! Wenn wir nach dir dran sind, lässt sie ihre ganze schlechte Laune an uns aus!“

Sechs verschwommene Köpfe schrumpften vor Phädras Augen wieder zu dreien: Minnie, Elsa und Gwen standen im Türrahmen und betrachteten die taumelnde Freundin skeptisch, die sich an der Rückenlehne eines Sessels festkrallte wie eine Ertrinkende.

Eliminilie von Rotratigen zu Grauenfels, Elisabeth-Anne von Tharnion und Gwendolyn von Bergen-Seequell waren drei der insgesamt zehn jungen adligen Frauen, die jetzt – im heiratsfähigen Alter – auf Schloss Bergen ihre abschließende Ausbildung erhielten. Sie alle würden in den kommenden Wochen einem Mann zugesprochen werden. Die Verhandlungen führten entweder die Eltern allein oder die Königsfamilie mischte sich bei den vielversprechendsten Anwärterinnen ein. Über geschlossene Ehen wurden Bündnisse gefestigt, Kooperationen besiegelt und Grabenkämpfe geführt. Was auf den ersten Blick veraltet und rückständig aussah, war selbstverständlich nur ein traditioneller Aspekt. Der Hochzeit folgte eine einmonatige Phase, die Cupiten, in der die Eheleute, die sich üblicherweise vollkommen unbekannt waren, einander kennenlernen konnten. Nicht selten hatten sowohl die Frau als auch der Mann vorher wenigstens ein Gemälde ihrer Angetrauten gesehen, mussten sich darüberhinaus aber auf die Erzählungen der Eltern verlassen, sofern die sich auf solche Nichtigkeiten einließen. Nach den Cupiten taten beide Ehepartner, wonach ihnen beliebte. Praktisch alle größeren Anwesen des Adels waren Doppelhäuser und es grenzte schon fast ans Lasterhafte, wenn es eine Verbindungstür gab, die implizierte, dass sich das Ehepaar tatsächlich füreinander interessierten oder sie gar miteinander redeten. Es war vollkommen unwichtig, wer mit wem Kinder zeugte, sofern diese Kinder entstanden. Adel entstand zwar durch Geburt, wurde aber vor allem durch die entsprechende Erziehung manifestiert. Weswegen manchmal, ganz selten natürlich, auch in benachbarten Dörfern Neugeborene die Familie wechselten, wenn es allen beteiligten Parteien genehm war. Allein der Umzug, der mit der Eheschließung einherging, war hin und wieder ein leidlicher Faktor. Nicht selten aber auch ein Grund für mehrere ausgiebige Feiern.

Die drei Frauen machten es sich in Sesseln bequem, die zur Verfügung standen und versuchten, Phädra mit möglichst vorwurfsvollen Blicken zu bestrafen. Mit Erfolg. Es war nicht Phädras Ziel, den anderen das Leben ebenfalls schwer zu machen, und so ließ sich die junge Frau in zusammengesackter Pose der Schuld in dem Sessel nieder, der zuvor ihr Gleichgewichtsanker gewesen war.

Aber wenn es eine Sache gab, die sie nie an Minnie, Elsa und Gwen – und letztendlich all den anderen Frauen – verstanden hatte, dann war es, warum sie alle so zufrieden waren. Sie beschwerten sich, wenn ihr Haar nicht so saß, wie es der neuste Schrei verlangte. Sie jammerten, wenn ihre Kleider einen Fleck hatten oder, mochten es die Götter verhindern, gar einen Riss. Sie konnten sich stundenlang über ihre Körper unterhalten und welcher Muskel wo eine unweibliche Betonung der Statur hervorrief. Aber sie alle, ganz anders als Phädra, wollten nie die Bibliothek aufsuchen und Bücher lesen. Sie wollten nichts über die Natur, bunte Insekten oder singende Vögel erfahren. Sie interessierten sich nicht für die politische Lage, woher der Reichtum kam, in dem sie schwelgten, oder worüber sich ihre Väter in den Abendstunden lange und konzentriert unterhielten. Niemand außer Phädra schien die Gesellschaften zu beobachten, in denen sie sich bewegten, das Miteinander oder eisige Schweigen zwischen Einzelnen, welche unterschiedlichen Sitten es gab oder welche Sprachen sich hinter gut kaschierten Akzenten verbargen. Sie wollten nicht in die Häuser der Landwirte schauen und herausfinden, worüber sich Schmiede unterhielten, wie man ein Pferd zähmte oder wer überhaupt diese Stoffe machte, die sie tagtäglich trugen. Und vor allem schienen sie zu keinem Zeitpunkt zu hinterfragen, was ihnen Gisela und all die anderen Erzieherinnen beibrachten. Baby-Garnelen schälen! Wer kommt denn auf so etwas?

Am folgenden Tag reisten, wie alle drei Monate, die Eltern – oder eben die zwei adligen Personen, die verheiratet worden waren, jetzt ein Doppelanwesen bewohnten und ihren repräsentativen Aufgaben nachkamen – der Mädchen an. Vier Male im Jahr wurde überprüft, dass die Brut sich angemessen entwickelte. Doch jetzt ging die Zeit der Reisen und Besuche zu Ende. In den kommenden Tagen und Wochen erfuhren die jungen Frauen, mit wem sie verheiratet wurden. Dass die Ausbildung zur Adligen an unterschiedlichen Schlössern stattfand und sich immer wieder andere Mädchen an einem Ort zusammenfanden, gab den Eltern außerdem die Gelegenheit, ihre übrigen Nachkommen zu verplanen. Mal mit einer der Anwesenden, mal ergab sich ein wahres Schnäppchen, wenn Sympathie vorhanden war und die strategische Ausrichtung miteinander harmonierte.

Phädra von Fernwalde war die Erstgeborene von insgesamt fünf Kindern. Ihr Vater war der liebenswerte und unaufgeregte Graf Rudolf von Eisenhain. Ihre Mutter, Penelope von Fernwalde war die Schwester der Königin Pina, deren acht Kinder teils bereits über das Königreich verteilt oder schon vor ihrer Geburt entsprechend verplant waren. Um das Königreich angemessen verwalten zu können, hätte Pina über dreissig Kinder gebären müssen und dafür war die Königin einfach zu spät, nämlich erst mit sechszehn, verheiratet worden. Sie und ihr Mann, König Radomir von Wonnenburg-Lohain, hatten deswegen schon vor einigen Jahren angekündigt, bei Phädras Gattenwahl ein Mitspracherecht zu haben, denn immerhin war sie als ihre Nichte nach ihrer Mutter und den eigenen Kindern die Erbin des Throns von Fernland. Auch wenn Phädra das wusste, hatte es keine Rolle in ihrem Leben gespielt. Einerseits war es sehr unwahrscheinlich, dass neun Personen das Zeitliche segneten, bevor Phädra an der Reihe wäre – Fernland war ein höfliches Land und Attentate unter Adligen waren eher unüblich. Darüber hinaus aber pflegten Pina und Penelope als Schwestern keine enge Beziehung. In Grußkarten zum Neujahrsfest gemessen konnte man feststellen, dass diese auch das eine oder andere Jahr vergessen werden konnten, ohne dass es einen Einfluss auf die nicht existente Dynamik der Geschwister gehabt hätte. Der König und die Königin waren üblicherweise mit Wichtigerem beschäftigt und das nahm das Paar von Fernwalde achselzuckend zur Kenntnis.

Als sich an diesem Anreisemorgen allerdings zu den Schlosswachen die königliche Garde gesellte und das Schlosspersonal nicht mehr geschäftig, sondern panisch durch die Gänge eilte, war Phädra und ihren Freundinnen schnell klar, was das bedeutete: die Königin und der König würden ebenfalls eintreffen.

„Oh, Phädra, sie reisen bestimmt wegen dir an – wie aufregend!“, flötete Elsa. Gwen nickte langsam und zustimmend.

Minnie hüpfte kurz: „Vielleicht bedeutet das, dass du nicht nur einen Mann, sondern sogar einen hübschen Mann bekommst. Vielleicht sogar einen… Prinzen! Das wäre ganz hinreißend!“

Phädra seufzte. Sie hielt es für wahrscheinlicher, dass das etwas ganz anderes bedeutete.

„Ich gehe davon aus, dass das meinen Wunsch, in der Nähe meiner Eltern und Geschwister verheiratet zu werden, eher unwahrscheinlich macht. Wenn der König und die Königin mitreden wollen, dann geht es sicher um ein Gebiet, das nicht für meine Eltern wichtig ist, sondern für die beiden.“

„Hältst du das nicht für etwas kompliziert gedacht?“, fragte Minnie mit großen Augen, die auf die anderen beiden ansteckend wirkten. Jetzt sahen sie alle aus wie Kälber, die zum ersten Mal den Stall verließen.

„Nein. Schon dieses ganze Geheirate ist an sich unlogisch und bei meinem Glück hat mein geplanter Ehemann Warzen im Gesicht und lebt irgendwo im Nordosten, wo es durchgehend regnet und windig ist. Ich bin so froh, wenn dieser ganze Zirkus weiterzieht und ich endlich machen kann, was ich möchte.“ Phädra hatte fröhlich klingen wollen, aber ihre eigenen Worte hatten ihr angst gemacht. Sie machten ihr bewusst, dass ihr eine ungewisse Zukunft bevorstand, die sie nicht beeinflussen konnte.

„Ich habe ja gehört, dass man da oben, in Nordfern, Kinder mit dem eigenen Ehemann machen muss“, quiekte Minnie angewidert. Gwen und Elsa schlugen erschrocken die Hände vor dem Mund zusammen. Phädra stöhnte.

Am Abend wurden alle Mädchen in den Festsaal gerufen. Irritiert musste Phädra feststellen, dass sie alle nicht wie üblich bei ihren Eltern sitzen würden, sondern eine zweite Tischreihe gegenüber der Tafel aufgebaut war, an der alle Eltern schon saßen oder noch an ihren Stühlen standen. Die Stühle in der Mitte der aneinandergereihten Festtische waren größer und höher. Dort saß, in all ihrem Prunk, von dem Phädra schon vom Anblick Kopfschmerzen und Beklemmungen bekam, das Königspaar. Wie sie es alle gelernt hatten, verbeugten sie sich tief in Richtung der Königin und des Königs und verharrten, bis ein dumpfer Schlag sie erlöste – der König hatte sein Zepter auf den Boden gestoßen.

Bedienstete wiesen die Mädchen ihren Plätzen zu. Das ist eine Fleischbeschau, erkannte Phädra empört. An ihrem Platz angelangt blickte sie sich vorsichtig nach ihren Eltern um. Bei offiziellen Ereignissen musste Penelope eigentlich neben ihrer Schwester, der Königin sitzen. Die Plätze dort waren noch frei und Phädra erkannte wild gestikulierende Silhouetten hinter dem Thron der Königin. Erst jetzt erkannte sie, dass sich die Königin mit jemandem unterhielt, auch wenn ihr Blick nach vorne gerichtet war und über die jungen Frauen schweifte.

Auf das Läuten einer Glocke wurde der erste Gang serviert: eine klare Brühe, in der runde Klöße trieben. Es ist nicht nur eine Fleischbeschau, es ist auch noch eine Prüfung, verdammt. Phädra konzentrierte sich. Der Kloß war so groß, dass er nicht in den Mund passte, ohne dass man ebendiesen unsittlich weit aufriss. Der Kloß war so rund und schwamm so dynamisch, dass die Herausforderung darin bestand, ihn mit dem Löffel gekonnt an der Seitenwand der Schale zu fixieren und zu halbieren. Dabei durfte man natürlich nicht konzentriert aussehen, sondern es musste wirken, als könnte man auch blind und ohne Daumen diese Suppe würdevoll löffeln. Phädras Lächeln betonierte sich in ihr Gesicht.

Phädra zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sich der Hauptgang als winzige Baby-Garnelen mit Brün-Pastetchen und Mind-Bohnen herausstellte. Allerdings befand sich auf dem Teller noch eine etwa handtellergroße Scheibe frittiertes Brot, die sich bei einem vorsichtigen Test als hart und knusprig herausstellte. Zu dem Essen war eine Art suppige Soße oder soßige Suppe bereitgestellt worden, die rotbräunlich aussah und auf der schillernd große, goldene Fettaugen schwammen. Phädra konnte nicht zu ihren Nachbarinnen hinüberblicken, um herauszufinden, wie die mit dem Unessbaren umgingen. Also entschied sie sich, sich noch einmal aufzurichten und ein gewinnendes Lächeln in Richtung ihrer Eltern und damit auch des Königspaares zu schicken, nur um beim wieder Herabschauen dann die Lage zu sondieren. Noch während sie mit ihrem Blick Penelope und Rudolf suchte, flog in ihrem Augenwinkel ein Stück Brot über den Tisch und wurde von einem kleinen Aufschrei begleitet. Mit Gabel und Messer war dieses Brot also nicht zu schneiden. Es passte auch nicht ungeteilt in den Mund. Folgerichtig blieb dem Anschein nach nur die Option, es in die mitgelieferte Suppe zu tunken, in der Hoffnung, dass es Feuchtigkeit aufnehmen und dann weicher werden würde. Aber, dachte Phädra, die die Falle erkannte, bei all dem Fett, das da in der Schale schwimmt, kann das Brot nichts aufnehmen. Und ich müsste es mit der Hand tunken – und dann fällt Gisela irgendwo in ihrer Kammer in Ohnmacht.

Ihr Blick traf auf den von Königin Pina, die sie unverhohlen beobachtete. Ihre Mutter Penelope lächelte, aber die weißen Ränder entlang ihrer Lippen verrieten ihre Anspannung. Während Phädra ihren Blick wieder auf ihren Teller senkte, sah sie, dass links von ihr mehrere Mädchen das Brot gegriffen hatten und in die Suppensoße tunkten. Ich mag mich irren, aber dieses Brot ist in diesem Festsaal gegenüber des Königspaares einfach nicht essbar, beschloss sie. Phädra war alle Möglichkeiten durchgegangen, die ihr eingefallen waren. Verzicht war das Einzige, was blieb. Sie teilte ein Pastetchen und viertelte es anschließend, einfach nur, um Gisela zu trotzen. Dann schälte sie in aller Ruhe drei Baby-Garnelen, während sie sich fragte, ob Gisela ihnen allen dieses Essen vorgesetzt hatte, um sie insgeheim vorzubereiten. Sie kannte ganz sicher die Speisepläne und war vermutlich auch über die Ankunft des Königspaares informiert worden. Sechs Baby-Garnelen später riss ein ersticktes Röcheln Phädra aus ihren Gedanken. Oh nein. Die arme Alexandria – sie hatte wohl eine Faser übersehen. Ihre Hochzeit würde sich damit definitiv verschieben, denn in den kommenden Tagen war sie unpässlich bis ekelerregend, aber sicher nicht dazu in der Lage, irgendwem ein Ja-Wort zu geben.

Als sich Phädra lange genug mit dem Essen gelangweilt hatte, legte sie ihr Besteck entsprechend ab und ließ damit den Teller abräumen. Kurz betrachtete sie die gegenübersitzenden Eltern. Einige von ihnen wirkten stolz, andere gleichgültig – und ein paar panisch oder wütend. Bekannten Gesichtern schenkte sie ihr Phädra-Lächeln. Hätte sie dieses Festmahl absichtlich sabotieren sollen? Hätte sie die Mind-Bohne im Ganzen schlucken sollen? Vom Brot aus der Hand direkt abbeißen? Irgendetwas tun, was dazu geführt hätte, dass sie nicht ausgewählt wurde? Aber das geschah nie – es ging hier nicht darum, etwas verhindern oder erreichen zu können. Zumindest nicht für sich selbst. Hier ging es darum, wie viel Eltern für ihre Töchter verlangen konnten. War die Erziehung gut genug für einen Erstgeborenen? Konnte man da vielleicht noch drei Prozent mehr von den jährlichen Getreideabgaben rausholen? Oder gar fünf? Musste es vielleicht gar nicht der kleine Landadelige sein, sondern konnte man sich an die Fürstenhäuser wenden und sich in die Riege des Hochadels einheiraten? Wenn die Tochter nicht nur wohlerzogen, sondern auch noch schön war, standen die Chancen gar nicht so schlecht. Es war dann vielleicht nicht die offizielle Primärehe, aber wer es bis in eines der Schlösser geschafft hatte und für die Königskinder Nachwuchs produzierte, konnte auch die eigene Familie mit absichern. Phädra atmete aus. Hauptsache, es wurde nicht der Nordosten.

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Köstliches Nicht-Projekt, mach nur weiter so :joy:

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Ich möchte doch sehr gerne wissen, wie es Phädra so im Nordosten geht. Dein Nicht-Projekt ist ein ausgesprochen unterhaltsames Nicht-Projekt.

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Gefällt mir weiterhin ziemlich gut.
Ein paar Winzigkeiten vielleicht, aber es war ja wahrscheinlich noch kein Lektorat im Spiel .?.
Daumen hoch, auf jeden Fall :+1:

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Ich habe am 24. angefangen zu schreiben - was eigentlich extrem verboten war. Spätestens im nächsten Kapitel wird ggf. klar, was passiert ist. ^^ Das Lektorat beschränkt sich auf Pap und mich und ich habe auch schon gesehen, dass der Prolog voller Wortwiederholungen ist, die mich nerven. Aber ich habe noch nicht mal diese Pap-Tools genutzt bisher. Ich schreibe einfach gerade und nutze das Forum als Ausrede.

Es ist nur eine kleine Geschichte, denke ich. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.

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Wie dem auch sei. Es macht mir jedenfalls Spaß es zu lesen, obgleich es nicht mal mein Genre ist. Und klar, schreib einfach drauf los. Dafür finde ich es schon ziemlich gut. Ich persönlich versuche meist von Beginn an möglichst gut zu schreiben und finde hinterher oft massig Zeugs … Argl … Aber ich bin auch sehr empfindlich und darüberhinaus eine kleine Streberin.
Was den Umfang angeht … Hast du die ganze Story im Kopf oder kommt das Stück für Stück?

@Antist
Ja, ha ha, das mit dem Überblick ist da so eine Sache, bzw. viele Sachen :stuck_out_tongue_winking_eye:
Hast halt ein echt fettes Teil begonnen.
Was hilft mir bei so etwas? Mich reinträumen! Wie ein Schauspieler in alle Rollen schlüpfen … Hin zu allen Schauplätzen.
Im Idealfall so, dass verhältnismäßig wenige Notizen ausreichen.
Good luck :fairy::sparkles:

Sie kommt Stück für Stück und wird mit jedem Kapitel zu einem schlimmeren Kreuzworträtsel. Dann muss ich irgendwann Papyrus-Tools nutzen, um den Überblick nicht zu verlieren: Charakterkarten, Orte, wichtige Szenen, Timeline. Irgendwann spielen die Elemente zusammen und die Story ergibt sich aus den Stücken. Hoffe ich. Ich habe zu wenig Erfahrung, um da eine resolutere Antwort zu geben.

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3. Strategien und ihre Probleme

Der Abend war nach der Fleischbeschau, wie es Phädra weiterhin nannte, ereignislos verlaufen. Alexandria war auf die Krankenstation gebracht worden, Josephine hatte wegen des Debakels des flüchtenden Brotes einen hysterischen Weinkrampf erlitten und das Fest früh verlassen. Alle anderen waren nach ihrer Aufwartung bei dem König und der Königin in ihre Gemächer geschickt worden. Mit ihren Eltern hatte Phädra den ganzen Abend nicht mehr gesprochen. Als sie endlich bei dem Königspaar angelangt war, waren die benachbarten Plätze bereits wieder verlassen gewesen. Das war zwar nicht üblich für ihre Eltern, aber in Anbetracht der Situation auch nichts, was wirklich beunruhigend war. Phädras Bruder Panos war gerade einmal vierzehn Monate jünger und sicher wurden auch hier schon Vorbereitungen für eine Ehe getroffen. Der Viehmarkt der Eitelkeiten war in vollem Gange.

Am Vormittag des darauffolgenden Tages klopfte es an die Tür zu Phädras Gemächern. Penelope und Rudolf sahen etwas blass und müde aus, als sie eintraten. Der weiße Rand um die Lippen ihrer Mutter war immer noch oder schon wieder deutlich zu erkennen. Wirklich beunruhigt war Phädra aber über die tiefe Falte, die sich zwischen den Augenbrauen ihres Vaters gebildet hatte. Die beiden hatten den üblich distanzierten Kontakt zueinander, aber Rudolf hatte sich schon fast ungewöhnlich engagiert um die Erziehung seiner Kinder bemüht. Im Ort wurde sogar getuschelt, dass Phädra und ihre Geschwister tatsächlich seine Kinder wären, so auffällig war sein Verhalten.

Jetzt atmete ihr Vater tief durch und setzte an, etwas zu sagen. Sein Blick ruhte kurz auf Phädras Gesicht, dann schloss er die Augen und richtete seine ganze Konzentration auf die Fliesen im Empfangsbereich der Gemächer, wo sie sich alle drei auf den Sesseln niedergelassen hatten.

„Phädra, du weißt, dass deine Tante und der König angekündigt hatten, dass sie bei der Wahl deines Gatten Mitspracherecht verlangen“, begann er und Phädra nickte, auch wenn er das bei seiner Flieseninspektion nicht sehen konnte.

Penelope wand sich in ihrem Sessel.
„Wir haben gestern lange mit den beiden verhandelt und sind zu einer Einigung gekommen“, fuhr er fort. Die Mutter schnaubte verächtlich.

„Einigung! Als hätten wir eine Wahl!“

„Lass es gut sein, Penelope – dadurch wird es nicht leichter“, gab er ruhig an Penelope zurück.

Phädras Magengrube zog sich schmerzhaft zusammen, als eine Panikwelle über ihr brach. Sie wurde in den Nordosten verheiratet und musste mit einem alten, faulzahnigen und warzengesichtigen Widerling Kinder zeugen. Das war es doch, oder? Konnte sie fliehen? Was tat man eigentlich, wenn man diese Ehe nicht wollte? Wieso hatte sie sich nie darüber Gedanken gemacht?

Ihr Vater räusperte sich und setzte neu an: „Also, es ist so, dass du heiraten wirst.“
Ach.

„Es ist ein Prinz und er ist sechsundzwanzig Jahre alt.“

Ein Prinz? Das klang jetzt nicht so dramatisch. Phädras Hirn geriet ins Stolpern, als es versuchte, Panik und Prinzen unter einen Hut zu bekommen. Kurz ging sie ihr Wissen über die Geografie Fernlands durch. Im Nordosten gab es keine Schlösser. Prinzen hielten sich dort nicht auf. Prinzen lebten nicht dort, wo es immer regnete und windig war. Prinzen waren die Söhne ihrer Tante und damit ihre Cousins. Und ganz sicher musste sie mit ihm deswegen auch keine Kin…

„… in Tziochrien.“

„Entschuldigung?“, war das Einzige, was Phädra hervorbrachte. Ihr Vater hatte sich sicherlich nur verschluckt. Es war ein röchelndes Husten gewesen, das sie gehört hatte, richtig? Ihr Gehirn stolperte jetzt über seine eigenen Windungen. Die Gedanken in ihrem Kopf rauschten so laut, dass sie die nächsten Worte, die ihre Mutter sprach, kaum verstand.

„Das Königshaus hat beschlossen, die Beziehungen zu Tziochrien zu festigen. Seit Monaten tauschen sich Diplomaten beider Länder aus und nun sollen die Verhandlungen besiegelt werden. Natürlich warst du die erste Wahl als direkte Nichte der Königin, aber es ging auch darum, wer uns im… im Ausland am würdigsten repräsentiert - und nach gestern warst du eine der wenigen, die in Frage kam oder mit anderen Worten: das Brot liegen ließ. Eine zweite befindet sich gerade in der verdammten Krankenstation und erstickt halb an einer Bohne. Und die dritte ist… Ottilie.“

Ottilie zu Horborg-Rhoden war eine wundervolle Persönlichkeit. Sie war freundlich, eine sehr gute Zuhörerin, aufmerksame Beobachterin und ihr fehlten die Schneidezähne sowie ein Nasenloch, nachdem sie als Kind herausgefunden hatte, das ein wilder Eber nicht mit ihr im Wald Beeren pflücken gehen möchte. Ottilie hatte bei der Fleischbeschau das Brot liegen gelassen, weil sie gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, davon abzubeißen. Nur kurz konnte sich Phädra mit diesem Gedanken ablenken.

„Tziochrien?“
„Liebstes Kind, es soll dort viele wundervolle Landschaften geben“, versuchte es der Vater.
„Einem Tziren-Prinzen?“
„Die Diplomaten lassen ausrichten, dass er, sofern er sich gezeigt hat, keine auffälligen oder gefährlichen Verhaltensweisen an den Tag gelegt hat.“

„Keine gefährlichen?“, zischte Phädra. Ihr Herz begann zu rasen, während sich all das Wissen, die Gerüchte und Mythen um die Tziren und ihre Klans in ihr Bewusstsein drängte und wie Schulkinder mit gereckten Ärmchen und fuchtelnden Händchen um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten. Tziren sind Barbaren. Sie leben in Höhlen. Sie jagen mit Knüppeln. Ihre Frauen dürfen die Behausungen nie verlassen. Sie sprechen nicht, sie grunzen.

War das die Rache für den Ärger, den sie den anderen Mädchen mit Gisela eingebrockt hatte? War Minnies Äußerung, dass das Königspaar angereist war, um Phädra mit einem Prinzen zu verkuppeln, in Wirklichkeit ein fieser, lange geplanter und perfide durchgeführter Fluch gewesen? Waren ihre Freundinnen gar keine Freundinnen, sondern Racheengel mit großen, glänzenden Kalbsaugen? Und überhaupt! Wie prinzig konnte ein Tziren-Prinz schon sein?

„Sie grunzen!“, schrie Phädra: „Tziren grunzen!“
Dann sprang sie auf und ihr Sessel kippte erschrocken um.

„Na, na, Kind. So ist es nicht. Im Süden unterhalten sich unsere Leute auch mit den tziochrischen Händlern und auch die Diplomaten versicherten, dass sie nicht nur sprechen, sondern auch unsere Sprache beherrschen.“

Phädras Vater erhob sich und richtete ihren Sessel wieder auf.
„Aber warum denn ich? Alexandria ist doch bald wieder auf den Beinen. Oder wir machen ein zweites Festmahl. Ich kann nicht nach Tziochrien! Ihr könnt mich nicht zu Wilden schicken!“

Penelope seufzte.

„Das bleibt unter uns. Diese ganze Ehe-Geschichte ist nur ein Teil eines wesentlich komplexeren Planes für die Zukunft. Deine Ehe wird so schnell vorbei sein, dass du nicht mal die Augenfarbe des Prinzen herausfindest. Du wirst uns da vertrauen müssen. Also eigentlich dem König und der Königin. Sieh es vielleicht mehr als ein Abenteuer. Einen Ausflug unter bestmöglichen Bedingungen. Und Tziren heiraten immer in den Beginn des neuen Jahres, also um Mitternacht am 31. Dezember. Damit lassen sie ihr altes Leben mit dem alten Jahr zurück. Aber ehe du dich versiehst, bist du…"

„Penelope“, schritt Rudolf ein.

„Ja, also, bist du, äh, hast du genau wie hier die freie Wahl. In Ordnung?“
Phädras Mutter ruderte zurück. Sie war möglicherweise die mit Abstand schlechteste Lügnerin, die je durch das Reich der Fernen gewandelt war. Sie war so schlecht, dass man vor Auffälligkeit vermuten musste, dass die Lüge nur vorgetäuscht war und Penelope die Wahrheit sprach.

„Habt ihr… ein Bild?“, fragte Phädra matt.
„Er hat sich geweigert, eines erstellen zu lassen. Es tut uns leid.“

Na wundervoll. Es war klar, das konnte nur eines bedeuten: Der Prinz war hässlich. Oder alt. Oder beides.

„Wie heißt er?“
„Rafael vom… Finsterwald.“

Eigentlich klang das recht verwegen, fand Phädra. Auf eine attraktive Art und Weise. Dieser kleine Funke Optimismus erlosch so schnell, wie er aufgeglommen war.

„In der Nacht vor Neujahr? Aber… aber das ist in zwei Wochen! Das ist… das ist… ist… in zwei Wochen!“
Phädras Atmung spielte verrückt. Sie klang wie ein hechelndes Mastkarnickel, das vor einem Jagdhund floh. Ihr Gesicht wurde kalt. Dann ihre Fingerspitzen. Speichel lief flutartig in ihrem Mund zusammen und ihre Lippen wurden taub.

„Phädra! Reiß dich zus… oh… Rudolf, schick bitte nach einem Bediensteten, der dieses kleine… Malheur entfernt.“

Phädra hatte sich vor den Füßen ihrer Mutter erbrochen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben hatte sie sich übergeben. Das erste Mal blieb davon emotional unberührt, denn in einer Mutprobe hatte ihr jüngerer Bruder ihr unterstellt, sie würde die riesige und haarige Techt-Spinne nicht essen, die ein Bediensteter zwar erschlagen, aber dann seit inzwischen drei Tagen nicht entsorgt hatte. Diese arme Spinne war definitiv zwei Tode gestorben und Phädra würde den Geschmack von verwesender Spinne nie wieder vergessen, vermutete sie. Jetzt und hier hatte sie aus ganz anderen Gründen ihren Mageninhalt wieder hergegeben. Dahin war es, das gute Frühstück und der leckere schwarze Tee. Und anders als bei der Spinne war die Übelkeit auch weiterhin omnipräsent. Ihr war schwindelig und Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Gedanken rasten so schnell, dass sie nicht einen zu fassen bekam. Oder sie dachte gar nicht. Sie war sich nicht vollständig sicher.

„Kind, wir versprechen dir, dass es sich bei dieser Heirat um ein rein politisches Ereignis handelt. Du bekommst den Prinzen vielleicht eine halbe Stunde oder Stunde zu sehen. Dann geht ihr eurer eigenen Wege. Zwar ist die Kultur der Tziren anders, aber das ist alles bereits organisiert. Du musst dir wirklich überhaupt keine Sorgen machen.“
Penelope klang fast wie eine etwas rostige Gebetsmühle. Mit Sand im Getriebe.

„In den kommenden zwei Wochen bereitest du dich auf die Zeremonie vor. Du könntest es auch von dieser Seite betrachten: Du wirst gerade einmal einen halben Monat damit verschwenden, dich in die Kultur Tziochriens einzuarbeiten, danach kannst du das alles wieder vergessen und ein königliches Leben nach deinem Geschmack und Willen führen.“

In den darauffolgenden Stunden hatte Phädra sich die Worte ihrer Eltern durch den Kopf gehen lassen. War sie ehrlich, dann musste sie zugeben, dass sie sich an dem Gesagten festklammerte wie eine Klette am Schweif eines Pferdes. Hinter vorgehaltener Hand hatte ihr Vater ihr noch versichert, dass er nicht die vollständigen Pläne des Königspaares verraten konnte, aber dass seine Tochter gerade darin besondere Zuversicht schöpfen konnte. Sie war nur ein Teil einer größeren Strategie. Und sie hatte den Vorteil, eine Verwandte der Königin zu sein – die würde man ja wohl kaum in den Schlossanger schubsen.

Zwei Wochen. Bereits morgen würde die Schneiderin kommen und Maß für die notwendigen neuen Kleider nehmen. Alles würde genau so ablaufen, als gäbe es keine weiteren Pläne, sondern nur eine Hochzeit zwischen zwei Ländern, die sich seit eh und je suspekt waren.

Es klopfte zaghaft, dann öffnete sich die Tür zu den Gemächern einen Spalt.
Minnie flüsterte: „Bist du… in Ordnung?“

Die Neuigkeiten hatten also schon die Runde gemacht.

„Kommt rein.“
Minnie, Elsa und Gwen schlichen mehr, als dass sie liefen. Etwas betreten stand Elsa vor dem feuchten Fleck am Fuße des Sessels, der einst ein Frühstück gewesen war. Kurz tippelte sie hin und her, dann zog sie den recht schweren Stuhl so weit nach vorne, dass er über dem Fleck stand, bevor sie sich setzte. Gwen hatte es gesehen und versucht, sich so zwischen Phädra und Elsa zu stellen, dass diese hochpeinliche Episode durch ihren schmalen Körper verdeckt wurde. Sie versuchte, Phädras Blick einzufangen.

„Wir wissen überhaupt nicht, was wir sagen sollen, Phädra…“
Erneut herrschte betretenes Schweigen.

„Wie heißt er und wie sieht er aus?“, platzte es aus Minnie. Direkt danach rauschte eine Röte über ihre Wangen und sie fächelte sich mit der Hand Luft zu.

„Rafael und ich weiß es nicht. Er wollte kein Bild von sich anfertigen lassen“, gab Phädra tonlos zurück.
„Ohohje“, murmelte Gwen.
„Ist er ein… Barbar?“, quiekte Minnie, die immer noch fächelte, ohne dass es irgendeine Auswirkung auf ihre fleckige Gesichtsfarbe hatte.
„Mutter hat mir versichert, dass die Diplomaten, die ihn gesehen haben, gesagt haben, dass er keiner ist.“
„Ooohje.“

Stumm saßen die vier auf ihren Sesseln. Dann brach es aus Gwen heraus:
„Du musst dir einen Fluchtplan machen, Phädra! Wir finden bestimmt einen Weg, dich irgendwo so lange zu verstecken, bis dieser Höhlenmensch dich vergessen hat – das kann ja nicht allzu lange dauern, oder?“

Es entbrannte eine wilde Diskussion über die üblichen Vorgehensweisen, wenn man floh, wie man in einem Wald überlebte, wie man Brote aus Bucheckern backen konnte, um sich zu ernähren, welche Schuhe sich am besten eigneten, wenn man länger laufen musste. Unklar war, wie man seine Notdurft außerhalb eines Klosetts verrichten konnte, wie man schlief, wenn man sich doch unmöglich auf den Boden legen konnte und welche anderen Möglichkeiten der Verteidigung es gegen Barbaren gab, außer lauthals zu schreien.

Eine Bedienstete brachte Tee und Kekse.
„Wie weit ist das denn überhaupt weg? Einen Tag?“, fragte Elsa.
„Es braucht drei Tage bis zu meinem Heimatort, der südlich liegt. Die Grenze ist dann noch einen weiteren Tag entfernt“, murmelte Gwen.

„Das sind ja schon vier Tage!“, hauchte Phädra, der plötzlich klar wurde, dass sie nicht noch zwei Wochen Zeit hatte, um sich mit ihrer Situation abzufinden. Es war höchstens eine Woche, abhängig davon, wie lang die Reise innerhalb von Tziochrien noch dauerte. Während sie sich in die Armlehnen ihres Sessels krallte, konzentrierte sie sich mit geschlossenen Augen auf ihre Atmung. Die Kekse wollte sie gerne bei sich behalten. Hektisches Getuschel legte nahe, dass Gwen und Elsa, die ihr gegenüber saßen, überlegten, ihrerseits eine taktische Flucht anzutreten.

Es wird alles gut. Es wird keinen Monat dauern, dann bin ich wieder hier und diese ganze Sache ist durchgestanden. Die Gebetsmühlen setzten sich knirschen in Gang. Phädra öffnete die Augen.

„Ich glaube, ich wäre jetzt gerne alleine. Danke, dass ihr mich besucht habt, ihr Lieben. Euer Beistand ist mir wichtig und stützt mich.“
Die drei jungen Frauen nickten. Keine von ihnen hatte auch nur ein Wort darüber verloren, ob sie schon wussten, wer ihre Ehepartner sein würden. Entweder wussten sie es noch nicht, oder ihnen war klar, dass sie damit im schlimmsten Fall Salz in klaffende Wunden rieben.

In der Nacht lag Phädra hellwach in ihrem Bett. Es hatte keinen Sinn, sie konnte nicht schlafen. Also beschloss sie, etwas zu tun, was sie seit Monaten nicht mehr getan hatte: Sie würde die Bibliothek aufsuchen. Das war verboten und sie hatte schon mächtig Ärger dafür bekommen, aber wer würde schon einer angehenden Barbarenprinzessin den letzten Wunsch verwehren? Und sie wünschte sich nachzusehen, ob die Bibliothek irgendwelche Literatur über die Tziren vorzuweisen hatte.

In ihren Morgenmantel gehüllt schlich sie sich in den großen Saal, in dem Staub diesen ganz eigenen Geruch hatte. Er erinnerte an eine Mischung aus getrocknetem Pferdemist und Sand, mit einer Prise fauliger Tierhaut. Der Saal war immer beleuchtet, was es ihr in der Vergangenheit schwer gemacht hatte, sich unbemerkt mit Wissen zu versorgen, auch wenn nachts nur selten Wachen nachsahen, ob sich Eindringlinge über die Bücher hermachten.

Phädras erster Weg führte zur Sektion über Kulturen. Hohelieder der Fernen. Traditionelle Gewänder. Mehrere Benimm-Almanache. Drei Bücher über Schuhwerk. Unzählige Gedichtbände fernscher Meister. Als Nächstes suchte sie die Geografie-Sektion auf. Alle Bücher waren offensichtlich nach den Himmelsrichtungen sortiert: Der Norden, Osten, Süden und Westen Fernlands. Im letzten Regal auf Fußtritthöhe fand sich ein Büchlein, das aussah, als wäre es maximal durch drei Hände gegangen, so neu und ohne Knicke war es: „Kleine Inseln entlang der Nordküste“. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, wollte sich bei Wind und Regen auch noch auf einer unbewohnten Insel aufhalten, die im Übrigen aber ebenfalls zum Reich der Fernen gehörte. Suchend blickte Phädra sich um. Sie kannte alle Sektionen gut, zumindest hatte sie das geglaubt. Jetzt war sie ratlos, denn ihr wollte partout nicht in den Sinn kommen, ob und wo sie je ein Buch über Tziochrien gesehen hatte. Sie konnte spüren, wie der Frust in ihr zu brodeln begann und sich wie eine Pranke um ihr Herz legte. Ihre Haut brannte unangenehm, als sie einen letzten Versuch unternahm und die Sektion ‚Sonstiges‘ aufsuchte. Dieser Bereich lag in der dunkelsten Ecke auf der linken Seite des Saales und umfasste zwei Regalreihen. Natürlich die untersten. Hier fand man Werke wie die peinlichste Sonett-Sammlung, die je von einem Fernen verfasst wurde: „Kraul mich, graul mich“ von Hildegard von Jochstein-Vogelfrei. Außerdem drei Bildbände mit außerordentlich schlecht umgesetzten Porträts. Man hatte alles versucht und jede Adelsfamilie gebeten, nach bekannten Gesichtern zu schauen, aber entweder waren in diesen Bändern keine Fern-Familien dargestellt oder es waren überhaupt keine Porträts. Dafür sprach, dass hin und wieder einzelnen Abgebildeten ein Ohr oder ein Auge fehlte.

Vor dem Regal hockend hatte Phädra ihren Kopf auf die Seite gelegt und entzifferte die Titel auf den Buchrücken. Nichts. Ein Band war unbeschriftet und so zog sie ihn hervor. „Wissenswertes über das Land der Tziren“. Phädras Herz tat mehrere aufgeregte Sprünge, auch wenn dieser Band kaum mehr als zwanzig Seiten hatte.

„Das Lant im Sühden des großartigen Reiches der Fernen ist warm und wilt. Hir leben die Tziren in Hölen und verstendigen sich mit Lauten, die an das wilte Schwain erinnern.“

Phädra wand sich kurz, während sie sich auf die vielen, fast absichtlich wirkenden Schreibfehler einstellte. Dann las sie weiter. Zwölf der zwanzig Seiten waren mit Zeichnungen belegt – von der Geografie der Halbinsel, hust, über Landschaftsmalereien mit und ohne Gebirge bis hin zu wenig kunstvollen Darstellungen von Wesen, die an Menschen erinnerten und vor Höhleneingängen mit gekrümmten Rücken und langen Armen Stöcke und Keulen in die Luft reckten.

„Die Tziren brodutziren einen sehr guten Wein und auch ir Gebäk ist schmaghafd.“

Für die Herstellung von Wein brauchte es gut gepflegte Reben und einen komplexen Vorgang, damit aus Trauben tatsächlich etwas Genießbares wurde. Ähnlich verhielt es sich mit dem Backen, grübelte Phädra. Wie sollte ein Volk, das grunzend Keulen schwang, so etwas bewerkstelligen. Bei Festen wurden häufig tzirische Weinen gereicht und es galt als gute Sitte, diese Weine in Krüge umzufüllen. Das Problem war, so hatte Phädra einst aus einer Unterhaltung zwischen zwei Mägden entnommen, dass die Flaschen, in denen die Weine geliefert wurden, mit wunderschönen, farbenfrohen und kunstvoll beschrifteten Etiketten versehen waren. Das war derart aufwühlend, dass es dem Adel der Fernen nicht geziemte, diesen Anblick ertragen zu müssen.

Mit einer Keule malt man solche Etiketten nicht, dachte Phädra. Lustlos blätterte sie zwischen den Seiten des unterirdisch schlecht geschriebenen Bandes. Nichts von dem, was sie gelesen hatte, war ihr neu. Eher hatte sie den Verdacht, dass alles, was sie je über Tziochrien gehört hatte, Nacherzählungen genau dieses Werkes waren. Der Autor war Jochen zu Fröhenbergen – der Name sagte ihr rein gar nichts.

In den kommenden Tagen geschah alarmierend wenig. Die Schneiderin hatte bei Phädra Maß genommen. Ein Schuster hatte das ebenfalls getan, nur an ihren Füssen. Sie wurde wohl mit einem Paar Reiseschuhe ausgestattet, denn die meist langen Spitzen der fernschen Adelsschuhe, so wie sie seit zwei Jahren im Trend lagen, hatten sich auf Kutschreisen als problematisch erwiesen, wenn mehrere Personen reisten. Nach einem Todesfall, der mit einem Adelsschuh und einem Schlagloch zusammenhing, waren Reiseschuhe nun eine unausgesprochene Pflicht.

Elsa, Gwen und Minnie besuchten Phädra in ihren Gemächern, waren aber selbst weit mehr eingespannt, als man das von Phädra behaupten konnte. Gwen würde den Sohn des Nachbardistrikts ihrer Heimat heiraten. Die Gutshäuser der Eltern lagen drei Dörfer voneinander entfernt und mit einem halbstündigen Ritt zu erreichen. Gwen und ihr baldiger Ehemann kannten sich von verschiedenen Festivitäten und waren sich herzlich egal. Elsa hatte es noch besser getroffen: Sie heiratete einen Greis, dessen letzte Ehefrau sich zeit ihres Lebens die Besorgung von Nachkommen gespart hatte. Das Königspaar hatte angeordnet, dass diese alte Blutlinie nicht daran scheitern sollte, dass Graf Benzke von Warrenhausen kinderlos blieb. Zwar befanden sich die Ländereien von Warren etwas weiter von ihrem Elternhaus entfernt, dafür trumpften sie mit einem Strand-bestückten Küstenabschnitt und einem weitläufigen und sehr fruchtbaren Flussdelta. Die große und beliebte Metropole Warringen zog die Jungen und Reichen an und Elsa würde keine Mühe haben, aus einem reichhaltigen Sortiment potenzieller Väter für die Nachkommenschaft des Grafen zu sorgen.

Minnies Vermählung stand noch aus. Die Verhandlungen liefen zäh, weil sich der angedachte Ehemann unglücklicherweise in eine andere junge Adlige verliebt hatte, wie er behauptete. Deren Eltern wiederum waren nicht bereit, sie als Konkubine freizugeben, denn diese Position ließ sich sehr viel schwerer in Verhandlungen nutzen. Für Minnie würde das entweder bedeuten, dass sie den Bruder des Auserwählten heiraten würde, der derzeit allerdings erst acht Jahre alt war, oder es musste ein ganz neuer Kandidat gefunden werden – und dann würden alle Verhandlungen von vorne beginnen.

Alle jungen Frauen, die jetzt heirateten, waren mit allerlei Vorbereitungen beschäftigt. Zu gerne hätte Phädra sich den Unterhaltungen und Planungen angeschlossen, aber wann immer ihr eine Frage gestellt wurde, konnte sie nur die Schultern hochziehen und den Kopf schütteln. Wo würde sie wohnen? Waren die Eltern des Ehemannes in der Nähe? Wie war die Auswahl an Männern im Allgemeinen? Gab es regional begrenzte Modetrends? Wer war die beste Haarflechterin vor Ort? Nichts davon war über Tziochrien bekannt. Auch wenn Phädra immer wieder das Aufwallen der Panik spürte, schaffte sie es, nach außen ruhig zu wirken. Immer wieder führte sie sich dann die Pläne des Königspaares vor Augen und beruhigte sich damit, dass alle diese Details für sie so oder so nicht relevant waren, weil sie in höchstens drei Wochen wieder in der Heimat sein würde. Und wer die beste Haarflechterin in Fernwalde war, wusste sie natürlich. Nachdem ihr verboten worden war, über diese Pläne zu berichten und jetzt naheliegende, ausgefeilte Lügengeflechte bei ihrer Rückkehr enttarnt werden würden, zog sie es vor, komplett zu schweigen. Glücklicherweise war das auch die nachvollziehbarste Reaktion, denn alle wussten, dass sie nichts über die Tziren und ihr Reich wussten.

Zehn Tage vor dem 31. Dezember erschien ein Bediensteter und teilte Phädra mit, dass die Abreise am übernächsten Morgen bei Morgengrauen angedacht war. Kurz darauf lieferte der Schuster zwei Paare Reiseschuhe. Entschuldigend murmelte er, dass er sich so unsicher war, wie lange Reiseschuhe in der Wildnis Tziochriens überhaupt halten würden und hatte sich deswegen für ein stärkeres Leder und ein Ersatzpaar entschieden. Phädra fühlte sich nicht bereit. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Reise unternommen, die acht Tage gedauert hatte. Was tat man, wenn man acht Tage in einer kleinen, schaukelnden Kiste saß? Zumindest nicht lesen. Das hatte sie bereits in ihrer Kindheit gelernt - und dass die Kutsche noch Stunden, nachdem ihr schon vom Halten des Bilderbuches speiübel geworden war, nach Erbrochenem gerochen hatte, weswegen sämtliche ihrer jüngeren Geschwister es ihr nachgetan hatten und die Verzweiflungsschreie ihrer Mutter über Meilen zu hören gewesen sein mussten, ja, das alles hatte es nicht besser gemacht. Singen war ebenfalls keine gute Idee, auch wenn es förmlich das Einzige war, was Phädra selbst tun konnte, während sie krampfhaft aus dem Fenster gen Horizont starrte, um die Übelkeit zu verhindern, die fahrende Kutschen bei ihr auslösten. Auf inländischen Reisen hatte sie öfter eine Vorleserin mitgenommen, allerdings würde sie niemandem zumuten, mit ihr nach Tziochrien zu reisen.

Wenn ich in drei Wochen, vielleicht vier, wieder zurückkehre, werde ich wieder so lange unterwegs sein, dachte sie. Es würden also doch mindestens fünf, vielleicht sogar sechs Wochen werden, bis sie die Heimat wiedersah. Verflixt.

Insgesamt betrachtet hatte die Fleischbeschau zugegen des Königspaares und ihr offensichtlich unterdurchschnittlich ausgeprägtes strategisches Denken sie möglicherweise dem schlechtesten Handel abschließen lassen, den Phädra je abgeschlossen hatte: Die Verweigerung einer verdammten frittierten Brotscheibe hatte ihr einen Prinzen eingebrockt. Das war so miserabel, dass es vermutlich in die Annalen der Adligen Fernwaldes eingehen würde. Glückwunsch, liebe Phädra, Glückwunsch.

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… lese ich gerne nachher.
Aber hier zeige ich dir schon mal: Wie man keine Prinzessin wird - das weiß ich nämlich genau :wink:
Guck:

sorry, das Bild ist zu groß … Ist das erste Bild, welches ich hier einstelle - muss ich noch üben.

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