Odins Speer
Ein Wikinger-Kurzkrimi von Hardy Sauer
Die Nacht war so schwarz, wie der Teer, den Jörmund zum Abdichten seiner Boote verwendete. Mani, der Mondgott hegte irgendeinen Groll. Es wäre besser gewesen, sich niederzulegen, um die Götter nicht weiter zu erzürnen. Doch Vermundr, der Häuptling des Dorfes, hatte zum Gelage in sein Langhaus geladen. Ein Skalde aus dem fernen Kaupang sei heute mit einem Schiff eingetroffen und wäre sein Gast. Die Bootsbesatzung hatte ihr Nachtlager direkt am Ufer aufgeschlagen. Mehr wusste er nicht. Sicher würde er gleich die Einzelheiten von dem Skalden erfahren. Folkvar tapste durch das Dorf. Die einzige Lichtquelle, die ihm als Orientierung diente, schimmerte hinter Öyvinds Haus hervor. Er würde den Weg auch mit geschlossenen Augen finden. Und doch war es verblüffend, wie die Sinne verrückt spielen konnten, wenn die Füße ins Nichts, ins scheinbar Bodenlose traten.
Als er um Öyvinds Haus bog, sah Folkvar zwischen der Fackelbeleuchtung vor Vermundrs Eingang, Usbaka und Asmundr stehen. Sie disputieren leidenschaftlich.
„Ich schulde dir gar nichts, du…“, hörte er Asmundr gerade sagen, als dieser ihn bemerkte.
„Sei gegrüßt Asmundr. Sei gegrüßt Usbaka. Lasst euch nicht stören.“
„Sei gegrüßt.“, knurrte Usbaka, während ihn Asmundr nur ungeduldig anstarrte. Folkvar interessierte es nicht, worüber die beiden stritten. Er wollte erfahren, was der Dichter zu berichten wusste. Ohne ein weiteres Wort ging er an den beiden vorbei und öffnete die Tür. Ein Gemisch aus stickigem Qualm und gebratenem Fleisch strömte ihm entgegen. Beides tat sich schwer durch den kleinen Abzug im Dach in die Nacht hinaus zu entfliehen. Der Dunst saß so fest, wie der weiße Schleier, mit dem Nott, der Herrscher über die Nacht, jeden Morgen den Fjord zudeckte und trieb ihm zudem kleine Wassertropfen aus den Augen. Er schaute sich um. Die Männer des ganzen Dorfes waren der Einladung gefolgt. Natürlich. Niemand wollte die Geschichten des Skalden verpassen und noch viel weniger wollten sie auf den Honigwein verzichten. Die Männer hockten still auf den Holzbänken, die mit Fell bedeckt an den Wänden entlang standen. Sie alle lauschten einem Mann, den Folkvar nicht kannte. Zweifelsohne musste das der Skalde sein. Vermundr winkte ihn zu sich. Der Häuptling thronte, wie immer in seinem Stuhl aus edelem Pinienholz. Der Sitz hatte eine hohe Lehne und war mit einem weichen Bärenfell bespannt. Man erzählte sich im Dorf, dass Vermundr den zweimannsgroßen Bären ganz alleine erlegt habe. Er sei beim Holzmachen überrascht worden. Das gewaltige Tier hätte sich schon aufgerichtet, bereit dafür, um ihm seine Pranken ins Gesicht zu schlagen, als Odin selbst, seinen Speer Gungnir, Vermundr in die Hand gegeben haben soll.
Den Gungnir, den nun der Skalde ehrfürchtig vor sich in die Höhe hielt, während er zutrug, wie Odin dem Riesen Baugi den Met stahl. Eine Saga, die natürlich jeder schon viele Male gehört hatte. Sicher bestand Vermundr darauf, dass der Skalde sie zum Besten gab. Gunnar, einer der beiden Wachen, rückte zu Seite und Folkvar nahm rechts neben dem Häuptling platz, während der Skalde zu dessen Linken saß. Als der Dichter die Saga mit der Ankunft Odins in Asgard, wo er in der Gestalt eines Adlers den köstlichen Honigwein in die Schüsseln der Asen spie, abschloss, jubelten die Männer ausgelassen. Sif, Vermundrs Frau ging zur Feuerstelle und schöpfte mit einer Kelle den Honigwein aus dem großen Kessel in die Tonkrüge, die ihr die Männer gierig hinreichten. Brynhildr, Jörmunds Frau, half Sif dabei. Der Häuptling ließ sich heute nun wahrlich nicht lumpen. Das letzte Mal als Folkvar den warmen, wohltuenden Met genoss, lag schon zwei Winter und zwei Sommer zurück.
„Auf Odin, der Vermundr den Gungnir in die Hand gab und uns den Met brachte.“, stimmte der Skalde den Trinkspruch feierlich an. Die Männer hoben die Krüge.
„Skoll.“, riefen sie durch das Langhaus.
Das Gelage nahm seinen feuchtfröhlichen Gang. Der Met war süffig und mindestens so berauschend, wie der des Riesen Baugi. Hakon, so hieß der Skalde, berichtete ihm von dem Wikingerschiff. Sie fuhren an der Küste entlang und suchten noch nach guten Männern, die sich an einem Raubzug in England beteiligen wollten. Sein Dienst wäre es, in den Dörfern Ausschau zu halten und für die Gunst, der Wikinger zu buhlen. In Kaupang würde sich das Schiff dann später einer Flotte anschließen. Er erfuhr außerdem, dass Jörmund sich den Wikingern morgen anschließen wollte. Während der Skalde berichtete, trällerte Usbaka auf dessen Flöte herum, die er ihm törichterweise überlassen hatte. Eine handvoll Männer, tanzte freudetrunken um ihn herum. Gleich daneben saßen sich Asmundr und Öyvind gegenüber und spielten Hnefatafl. Folkvar bevorzugte Schach. Ein Händler hatte das Spiel aus dem Osten mitgebracht und ihn gelehrt. Leider konnte er bisher im Dorf niemanden dafür begeistern. Dabei erforderte Schach weitaus mehr taktisches Geschick, als Hnefatafl.
„Bist du hungrig?“
Brynhildr hob ihm einen Fleischspieß unter die Nase. Der köstliche Duft des Wildbrets stieg ihm bis in die Stirn. Wasser sammelte sich in seinem Mund.
„Wie zehn Wölfe. Danke dir.“ Er nahm ihr einen Spieß ab und genoss mit einem ersten Biss das würzige Fleisch. Brynhildr ging weiter zu Asmundr und Öyvind.
„Und ihr? Hungrig?“
„Immer.“, erwiderte Asmundr.
Sie reichte auch ihm einen Spieß. Asmundr nahm ihn entgegen und berührte sie kaum merklich an der Hand. Folkvar sah die lieblichen Blicke, die sie sich zuwarfen. Brynhildr zog ihre Hand lächelnd zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf Öyvind.
„Was ist mir dir, Öyvind?“
„Lass mich in Ruhe. Siehst du nicht, dass ich spiele? Verschwinde Weib.“, antwortete er harsch und wedelte mit der Hand, ohne dabei aufzusehen.
„Dann verlierst du eben mit knurrendem Magen.“, erwiderte Brynhildr trotzig und wandte sich ab.
Die Tür ging auf und Gunhild trat ein. Ihr suchender Blick blieb bei Asmundr, ihrem Gemahl, hängen.
Klirrrrrr
Ein Krug war vor Folkvars Füße gefallen und in tausend Teile zerplatzt. Er schreckte reflexartig zurück und versuchte freilich viel zu spät sein neues Schuhwerk fernzuhalten. Der Met ergoss sich bereits über das Leder.
„Bei Odin, was…“, entfuhr es Folkvar.
„Verzeih. Ich, ich war wohl zu sehr in Gedanken.“, sagte Hakon mit brüchiger Stimme.
Folkvar schaute ärgerlich zu dem Skalden, der ihn leichenblass anglotzte.
„Was ist los Skalde? Mundet mein Met etwa nicht oder ist er dir zu stark?“, fragte Vermundr und lachte laut los.
Sif kam herbeigestürmt und säuberte Folkvars Schuhe mit einem feuchten Tuch und einer Bürste.
„Danke Sif.“, sagte Folkvar und fügte hinzu, „dank Sif ist nichts weiter geschehen. Wo bist du mit deinen Gedanken?“
Die Pupillen des Skalden wanderten unruhig zwischen ihm und Gunhild hin und her.
„Was ist los mit dir? Du siehst schlecht aus, Hakon. Geht es dir nicht gut?“
„Oh. Es ist… gut, Folkvar. Nur… ich bin erleichtert, dass ich dein Schuhwerk nicht mit dem Met ruiniert habe. Nicht dass Odin den Speer auch dir in die Hand legt. Ich würde ungern so enden, wie der Bär.“
„Da hat der Skalde wohl recht.“, warf Vermundr ein und lachte abermals los.
Hakons Lächeln dagegen wirkte gequält.
„Verschwinde. Ich komme, wenn ich komme.“, hörten sie Asmundr jetzt schreien.
„Mach doch was du willst.“, antwortete Gunhild, drehte sich missmutig um und verließ das Langhaus wieder.
„Verzeiht mir. Der Met steigt mir tatsächlich etwas in den Kopf.“, entschuldigte sich der Skalde, stand auf und folgte Gunhild in die Nacht hinaus.
„Das seid ihr in Kaupang wohl nicht gewohnt.“, rief der Häuptling mit einem breiten Grinsen dem Skalden hinterher.
Ratsch.
Folkvars schaute wieder zu Asmundr und Öyvind. Die Spielfiguren lagen vor ihnen verstreut auf dem Boden.
„Du spielst falsch Asmundr.“, schimpfte Oyvind.
„Und du spielst wie ein Mädchen.“, höhnte Asmundr.
Oyvind schnellte hoch und packte Asmundr am Wams. Gunnar sprang ebenfalls auf, eilte zu den Streithähnen und zog Asmundr zurück, während Oyvind von Usbaka festgehalten wurde.
„Nicht hier und jetzt, Oyvind. Die Götter werden ihn schon noch bestrafen.“, unkte Usbaka in abfälligem Ton.
Folkvar seufzte. Der Honigwein verwirrte die Köpfe weit schneller, als es das Gerstenbier vermochte. Es war Zeit für ihn, sich niederzulegen.
Donner. Lärm. Entfernt sah er ein Licht. Ein Flackern, das schnell größer wurde. Stimmen. Sie waren da. Ganz nah. Die Götter holten ihn. Odin griff zu. Jetzt.
Folkvar schoss hoch. Er schnappte nach Luft. Seine Brust bebte. Ein Moment der Verwirrtheit, dann erst nahm er den Mann dicht über ihm wahr. Es war nicht Odin. Ein Traum. Nur ein Traum.
„Ruhig. Folkvar. Ich bin es, Gunnar.“
Langsam schärfte sich das Bild vor ihm und Folkvar erkannte Vermundrs Wache, der neben seinem Schlafplatz kniete. Weiter hinten an der offenen Tür stand Harald, Vermundrs zweite Wache. Langsam kam er zur Ruhe. Folkvar richtete sich auf.
„Was ist geschehen, dass ihr es wagt, mich derart aus dem Schlaf zu reißen?“
„Komm mit. Der Häuptling fragt nach dir.“, entgegnete Gunnar ihm, ohne auf seine Frage einzugehen.
Folkvar verzichtete darauf, weiter nachzubohren. Gunnar würde es ihm nicht sagen. Also schlüpfte er in sein Schuhwerk, legte sich das Fell, mit dem er sich eben noch zugedeckt hatte um die Schultern und folgte den beiden Wachen. Er sog die kühle Nachtluft tief und langsam in sich ein. Er musste einen klaren Kopf bekommen. Sie liefen auf das Licht zu, das Folkvar bei Asmundrs Haus vermutete und sollte recht behalten. Als sie näher kamen, öffnete sich die kleine Menschentraube, wie das Maul eines speienden Drachens und gab ihm den Blick frei für den Grund ihrer Zusammenkunft.
Asmundr stand da an seiner Haustür. Nein, er hing dort. Schlaff. Und doch fiel er nicht zu Boden. Ein Speer, der durch seinen Hals ragte, hielt ihn am Türrahmen fest.
Es war Vermundrs Speer. Odins Gungnir.
Asmundr war tot.
„Was ist geschehen?“
„Das sollst du herausfinden, Folkvar.“
„Wieso ich? Du bist der Häuptling, Vermundr.“
Gunhild trat hervor.
„Weil du denn flinkesten Verstand im Dorf hast. Weil du im ganzen Dorf hohes Ansehen genießt. Ich bitte dich darum. Vermundr ist einverstanden.“, sagte sie mit entschlossener Stimme.
Folkvar war es nicht wohl dabei. Allzu schnell, konnte man sich selbst die Finger verbrennen und den Unmut der Dörfler auf sich ziehen. Auf der anderen Seite wurde ihm auch geschmeichelt. Er konnte nicht ablehnen.
„Also gut. Wenn es dein Wunsch ist Gunhild.“
Er atmete einmal tief durch, dann fragte Folkvar in die Runde: „Wer wohnt im dritten Haus?“
„Es ist meines.“
Folkvar konnte zwar in dem Zwielicht das Gesicht des Mannes nicht erkennen, wusste aber natürlich, zuwem die Stimme gehörte.
„Hat jemand an deinem Haus geklopft und sich für Asmundrs Tod erklärt?“
„Nein Folkvar. Niemand.“
„Jemand anderes?“
Folkvar drehte sich langsam im Kreis. Doch niemand reagierte auf seine Frage.
„Dann ist es beschlossen. Feige. Hinterhältig. Eines Normannen nicht würdig. Gunhild hat ein Recht auf Blutrache. So bald das Licht zurückgekehrt ist, versammeln wir uns am Thingplatz wieder. Dort soll Gericht gehalten werden.“, tat der Häuptling kund.
„Verzeih, Vermundr, aber wenn wir den feigen Mörder entlarven wollen, dann können wir nicht bis dahin warten.“
„Was? Was meinst du, Folkvar?“, staunte Vermundr, der mit diesem Einwand nicht gerechnet hatte.
„Der Mörder ist unter uns. Die Spuren sind frisch. Es duldet keinen Aufschub.“
Folkvar hörte das Getuschel. Schließlich hatte er der Entscheidung des Häuptlings widersprochen.
„Vermundr bitte. Lass ihn gewähren.“, beschwor Gunhild den Häuptling.
Vermundr zögerte etwas, dann sagte er: „Dann soll es so sein. Es ist der Wunsch von Gunhild. Was schlägst du also vor?“
Folkvar war erleichtert, wusste aber zugleich auch, dass er nun nicht mehr versagen durfte.
„Danke Vermundr. Sorge dafür, dass alle Männer sich in deinem Haus sogleich versammeln.“
„Warum schließen wir Gunhild aus? Wir haben doch gesehen, wie sie sich mit Asmundr gestritten hatte.“, fragte jemand.
„Ich…“
Folkvar hielt Gunhild am Arm fest. Sie schwieg.
„Kein Mensch aus Fleisch und Blut würde in dieser finsteren Nacht mit einem Speer aus größerer Entfernung treffen. Der Speer wurde also aus nächster Nähe und mit großer Wucht in Asmundrs Hals gerammt. Seht, wie tief die Spitze im Holz steckt. Es ist das Werk einer sehr kräftigen Hand. Sei dir gewiss, es war ein Mann.“, entkräftete Folkvar den Einwand.
Die Männer drängten sich dicht an dicht. Die Stimmung war so geladen, wie die brennenden Pfeile, die Thor auf die Erde schmetterte, wenn es ihn zürnte. Sein Groll steckte Häuser in Brand und konnte ganze Sippen vernichten.
„Der feige Mörder ist unter uns.“, begann Folkvar, ging bedächtigen Schrittes durch den Raum und schaute jedem Einzelnen dabei direkt in die Augen.
„Zeige dich jetzt. Zeige uns, dass du doch ein ehrbarer Mann bist.“
Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Dann gab ihm Vermundr ein Zeichen.
„Nun gut. Du hast dich entschieden. Weiß jemand etwas beizutragen?“, begann Folkvar mit der ungewöhnlichen Verhandlung.
Usbaka erhob sich.
„Asmundr hat Öyvind beim Spiel beleidigt. Wir alle haben es gesehen.“
Auch Öyvind stand auf.
„Bei Odin, ich bin kein Feigling. Asmundr hat mich beleidigt, ja. Ich hätte das Recht gehabt, meine Ehre wider herzustellen. Ihr selbst habt mich zurückgehalten. Warum sollte ich das verbergen?“, verteidigte der sich.
Gemurmel. Die Männer bestätigten ihn.
„Und du selbst?“, richtete sich Folkvar an Usbaka.
„Ich verstehe nicht, was du meinst?“
„Worum ging es in deinem Streit mit Asmundr. Als ich an euch vorbei ging, habt ihr heftig disputiert.“
Ein Raunen. Getuschel.
Kleine Tropfen bildeten sich auf Usbakas Stirn. So als habe er sich stark angestrengt. So als stünde er seit Stunden in der Sommersonne. So als würde man ihm gleich den Kopf abschlagen.
„Asmundr hat auf meinem Land geerntet. Er ist mir den Ertrag noch schuldig. Frag Harald. Er hat ihn beobachtet. Auch ich hatte also keinen Grund, meinen Disput zu verschleiern.“
„Er spricht die Wahrheit.“, bestätigte Harald.
Usbaka setzte sich wieder.
„Asmundr wurde mit meinem Gungnir getötet. Odins Speer trifft immer sein Ziel. So hätte der Speer doch geworfen werden können.“, ergriff Vermundr das Wort.
„Ein guter Einwand, Vermundr.“, antwortete Folkvar, „aber nur wenn ihr den Gungnir selbst geworfen hättet.“
Die Augen des Häuptlings weiteten sich.
„Aber, natürlich seid ihr es nicht gewesen. Ihr seid ein mutiger Normanne und unser Häuptling.“ Vermundr warf ihm einen warnenden Blick zu.
Überspann den Bogen nicht Folkvar.
„Aber wer konnte dann den Speer aus dem Haus stehlen? Ich stand die ganze Zeit über an der Tür und…“
„Du wirst wieder mal eingeschlafen sein.“, fiel Harald Gunnar ins Wort. Gunnar sprang auf. Harald tat es ihm nach.
„Was erlaubst du dir, Harald? Willst du mich beleidigen?“
„Setzt euch wider.“, beschwichtigte Folkvar die beiden.
„Gunnar trägt keine Schuld. Derjenige, der den Speer genommen hatte, muss die zweite Tür, am hinteren Teil des Hauses genutzt haben. Dort wo die Tiere sind.“
„Das hätte doch einer von uns gehört. Harald, Sif, meine Söhne, ich.“, protestierte Vermundr.
„Nun, es floss reichlich und bester Met in unser aller Kehlen heute Nacht. Verzeih mir, aber du hättest noch nicht mal das Röhren eines Elches neben dir bemerkt.“
Die Kiefermuskeln des Häuptlings verspannten sich.
Du solltest deine Zunge besser hüten, Folkvar.
„Da hast du wohl recht.“, brummte er schließlich und die Männer fingen an zu lachen.
„Der Skalde.“, rief einer.
Hakon zuckte zusammen. Folkvar ging zu ihm.
„Was meinst du dazu Skalde? Du kennst Gunhild?“
„Ich? Wovon sprichst du?“, stotterte dieser.
„Leugne nicht. Warum hättest du sonst den Becher fallen lassen, als Asmundrs Frau das Haus betrat? Draußen wartet Gunhild. Soll ich sie befragen?“
„Schon gut. Schon gut. Sie ist eine Frau geworden, aber ich habe sie gleich wiedererkannt. Gunhild war als Mädchen Erik von Thorby versprochen worden – meinem Häuptling. Eines Tages war sie verschwunden. Ohne ein Wort. Sie hat ihn zum Gespött gemacht. Sie hat ihn bloß gestellt.“ Der Skalde spuckte auf den Boden.
„Also hast du Asmundr hinterhältig getötet.“, schlussfolgerte Gunnar.
Der Aufschrei war groß. Folkvar wartete, bis sich die Männer wieder etwas beruhigt hatten.
„Ja, es stimmt. Hakon, hat den Speer genommen. Aber er hat Asmundr nicht getötet.“
„Was soll nun das wieder heißen, Folkvar?“, hakte Vermundr sichtlich genervt nach.
„Der Skalde ist zu klein. Asmundr überragt Hakon um mehr als eine Elle. Er hätte den Speer nach oben führen müssen, um ihn durch Asmundrs Hals zu stechen. Ihr alle habt aber gesehen, dass der Speer mit der Spitze nach unten im Holz steckte. Der Mörder war also ein großer Mann. Mindestens so groß wie Asmundr. Ein Mann mit kräftigen Armen.“
Folkvar sah in die verwirrten Gesichter.
„Genug damit, Folkvar. Sprich endlich. Sag uns, wer es war?“, forderte Vermundr ihn unmissverständlich auf, zu einem Ende zu kommen.
„Verzeiht mir. Ich wollte hören, was die Männer zu sagen hatten. Eine Anschuldigung wiegt schwer. Ich wollte sichergehen. Nun aber habe ich keine Zweifel mehr. Es gibt nur einen hier im Raum, der so groß ist, der so stark ist und der einen Grund hatte.“
„Es war Jörmund.“
Geschrei. Tumult. Das Langhaus glich einer Meute tollwütiger Hunde.
Jörmund stand langsam auf. Sofort kehrte wieder Ruhe ein. Der Bootsbauer wusste um seine Wirkung. Wahrlich, er war von imposanter Größe. Folkvar hatte mehr als einmal gesehen, wie Jörmund scheinbar mühelos seine Planken trug.
„Was fällt dir ein? Du frönst den Göttern. Glaubst, allwissend zu sein. Zeigs unserem Häuptling gegenüber keinen Respekt. Wer bist du, Folkvar, dass du dir das erlauben kannst? Der Speer steckt von oben nach unten im Holz. Ist das dein Beweis?“
Alles an ihm drückte ihm seine ganze Verachtung aus. Folkvar zeigte keine Schwäche. Er hatte den Bootsbauer beschuldigt. Nun musste er es beweisen.
„Asmundr hat deine Frau Brynhildr umgarnt.“
Folkvar sah, wie sich der Ausdruck in Jörmunds Gesicht schlagartig veränderte.
„Ich vermute, dem Skalden ist es ebenso aufgefallen, wie es mir auffiel. Du und Hakon habt über die Wikinger und den Raubzug in deinem Haus gesprochen. Der Skalde wusste also, das Brynhildr deine Frau ist. Er wird dir vor der Tür erzählt haben, was er gesehen hat. Du wolltest sicher sofort Asmundr zur Rede stellen, doch der Skalde riet dir davon ab. War es nicht so? Schließlich willst du dich morgen schon aufmachen und den Wikingern anschließen. Ein Thing, an dem über dich Gericht gehalten worden wäre, hätte dich nur aufgehalten. Und auch Hakon konnte das nicht gutheißen. Wie hätte er da gestanden, wenn er ohne einen Mann zum Schiff zurückgekehrt wäre. Also schlug der Skalde dir seinen Plan vor.“
Folkvar machte eine Pause. Hakon rutsche unruhig hin und her. Jörmund starrte ihn hasserfüllt an.
„Schaut her. An ihm ist ein richtiger Skalde verloren gegangen. Was für eine schöne Saga wäre das. Aber kann er auch beweisen, was sein loses Mundwerk von sich gibt?“, richtete sich der Bootsbauer an die Männer.
Folkvar fuhr unbeirrt fort.
„Erinnert ihr euch noch an den Sklaven? Seinen Kopf haben wir den Tieren zum Fraß vorgeworfen. Wisst ihr noch, wie er geblutet hat? Wie ein Schwein hat er geblutet.“
Die Männer nickten. Sie hingen an seinen Lippen.
„Durch den Hals fließt also viel Blut. Der Speer wurde mit großer Wucht geführt. Überall am Eingang befand sich Asmundrs Blut. Es hat weit gespritzt. Nicht nur auf die Tür. Auch auf dich, Jörmund. In dein Gesicht, in deine Haare, auf die Hand, auf deine Tunika. Du bist nicht dumm, du hast dir das Gesicht und die Hände gesäubert. Aber warst du auch gründlich genug? Du hast die Kleidung getauscht, sicher. Aber hast du sie gut genug versteckt, so dass wir sie nicht finden werden? Wie sieht es mit deinen Haaren aus? Was meinst du Jörmund, finden wir frisches Blut an dir oder in deinem Haus, wenn wir danach suchen?“
Der Bootsbauer wurde kreidebleich. Seine Fassade zerbrach. Folkvar konnte Menschen lesen. Er sah es in seinen Augen. Vermundr gab seinen Wachen ein Zeichen. Gunnar und Harald standen auf. Jörmund machte einen Schritt zurück.
„Wagt es nicht. Ich bin kein Sklave.“
Vermundr hob die Hand und sprach: „Dann erklär dich, Jörmund.“
Irgendwo draußen klapperte etwas im Wind. Man hörte das Flüstern der Frauen und Kindern vor dem Langhaus. Im Haus dagegen war Totenstille. Es schien fast so, als hätten die Männer selbst das Atmen eingestellt.
„Ja, ich habe Asmundr getötet.“
Wildes Geschrei. Der Raum war wieder ein Tollhaus.
Vermundr wartete ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte und die Männer zu ihm blickten.
Dann erhob sich der Häuptling.
„Hört, was ich beschließe. Jörmund, du hast Asmundr getötet, ohne dich vor einem Dritten zu erklären. Du hast dich bis zuletzt gewunden. Du bist eine Schande. Wenn die Sonne am Höchsten steht, wirst du dich vor dem Thing verantworten müssen und deiner gerechten Strafe zugeführt. Bis dahin bleibst du in gewahr.“
Vermundr drehte sich zu Hakon.
„Und du Skalde verlässt sofort das Dorf. Setze deinen Fuß nie wieder hierher zurück, wenn dir dein Leben etwas gilt. Gunhild steht in meinem Schutz. Ich habe entschieden. Die Versammlung ist beendet.“
Die Männer waren nun nicht mehr zu bändigen. Sie beschimpften und bespuckten Jörmund, der es erhobenen Hauptes ertrug und sich dann von Gunnar und Harald widerstandslos abführen ließ. Vermundr nickte respektvoll Folkvar zu.
Als Folkvar müde aus dem Langhaus trat, setzte bereits die Morgendämmerung ein. Die Wolken waren verschwunden. Der Mond bäumte sich ein letztes Mal auf, bevor er sich hinter der Sonne verstecken würde. Die Luft war kühl und rein. Die Sicht reichte durch den ganzen Fjord. Ein schöner Tag kündigte sich an. Ja, die Götter schienen besänftigt zu sein.