Muss ein Ich-Erzähler, der in Vergangenheit berichtet, die Gegenwartsform meiden? Es fühlt sich irgendwie nicht richtig an, Dinge, die immer noch so sind, in der Vergangenheitsform auszudrücken. „Wenn es regnete, wurde man nass.“ Das ist heute ja immer noch so. Müsste es dann also nicht heißen: „Wenn es regnet, wird man nass.“
Auf der anderen Seite wirkt es komisch, wenn ein in Vergangenheit geschriebener Text plötzlich in die Gegenwart wechselt:
Hier ein kleiner Ausschnitt aus meinem Text, an dem ich dieses Problem zeigen will:
„Mein Blick huschte zurück zu seinen Haaren. Verflixt, ich konnte mich einfach nicht entscheiden, ob ich sie nun abstoßend fand oder vielleicht doch eher ausgesprochen attraktiv. Auffällig und skandalös waren sie auf jeden Fall, denn abgesehen von Tiepa, deren weißblonde Haare sie als Tränenkind auszeichneten, gibt es in Maya nur Schwarzhaarige. Dementsprechend irritiert uns jede noch so geringe Abweichung davon.“
Der Zeitenwechsel verwirrt. Zu schreiben: „abgesehen von Tiepa … gab es in Maya nur Schwarzhaarige. Dementsprechend irritierte uns jede noch so geringe Abweichung davon“, fühlt sich aber gleichermaßen falsch an, denn das war ja nicht nur damals so. Das zieht sich durch die Geschichte der Mayas, ist sozusagen eine allgemeine Wahrheit. Durch die Benutzung der Vergangenheitsform scheint diese Engstirnigkeit aber ebenfalls nur damals vorherrschend gewesen zu sein. Oder sehe ich das zu eng?
Wie löst ihr das Problem?
wenn Du „irritiert uns“ durch „irritierte mich“ ersetzen würdest, hättest Du das Problem umschifft. Als Leser irritiert mich so ein Zeitenwechsel
Vielleicht noch das „dementsprechend“ streichen: „Mich irritierte jede noch so geringe Abweichung.“
Dass das nicht nur Deinem Ich-Erzähler so geht, sondern (allen) anderen auch, könntest Du an anderer Stelle verdeutlichen, indem Du eine weitere Figur (oder mehrere) ebenfalls irritiert reagieren lässt.
Trifft die Vergangenheitsform wirklich eine Aussage über die damals und/oder heute vorhandene Engstirnigkeit oder bezieht sie sich nicht auf das Vorhandensein anderer Haarfarben (Sachaussage)?
M. E. ruft genau diese Vermischung in deinen letzten zwei Sätzen Irritationen hervor und lässt den Satz sich als „nicht richtig anfühlen“.
Wenn es dir darauf ankommt, zu betonen, dass eine gewisse Engstirnigkeit bis heute erhalten hat, würde ich es umformulieren: Bei den Maya gab es nur schwarz als natürliche Haarfarbe und damals wie heute wird jede Abweichung davon als Makel und Skandal betrachtet. Die weißblonden Haare von Tiepa waren akzeptiert, weil sie ein Tränenkind war. Auch bei mir (Anm.: der es eigentlich besser wissen müsste) löste diese Abweichung Irritationen aus.
Ich stolpere auch immer darüber, deswegen habe ich mir angewöhnt, fast nur noch im Präsens zu erzählen. Schreibt man hingegen in der Vergangenheit, bleibt man besser beim neutralen Erzähler, dann hat man diese Probleme viel weniger. Generell gilt, man schreibt alles in der Vergangenheit, denn es könnte ja sein, dass der Protagonist längst tot ist und nur noch seine Stimme erzählt (Die neuen Leiden des jungen W.). So wird diese Zeitform von den Lesern jedenfalls interpretiert. Bleib in der Vergangenheit. Jahrelang habe ich denselben Fehler gemacht, bis ich vor ein paar Tagen draufkam, wie man die Zeitform Vergangenheit als Leser und Schreiber verstehen soll.
Wenn du erstmal damit anfängst, Dinge, die in der Gegenwart noch gültig sind (Wasser ist nass) im Präsens zu schreiben, klopfst du jeden Satz ab, änderst jeden zweiten Satz und wirst total bekloppt. Mach es auf keinen Fall. Die Vergangenheit ist hier eine Erzählform – unabhängig davon, was heute noch stimmt oder nicht. Bleib im Präteritum. Dein Gefühl sagt, dass es sich nicht richtig anfühlt, aber dein Gefühl trügt hier.
Mein Blick huschte zurück zu seinen Haaren. Verflixt, ich konnte mich einfach nicht entscheiden, ob ich sie nun abstoßend fand oder vielleicht doch eher ausgesprochen attraktiv. Auffällig und skandalös waren sie auf jeden Fall, denn abgesehen von Tiepa, deren weißblonde Haare sie als Tränenkind auszeichneten, gab es in Maya nur Schwarzhaarige. Dementsprechend irritierte uns jede noch so geringe Abweichung davon.
Du erzählst hier im Präteritum, also bleibt es Präteritum. Daran ist nichts falsch.
Bei „Wenn es regnet, wird man nass.“ kann das anders aussehen, es ist ja quasi wie ein Zitat, eine „Weisheit“, die wiederholt wird.
„Wenn es regnet, wird man nass, sagte meine Mutter immer.“
oder: Ich-Erzähler erzählt „jetzt“:
„Wenn es regnet, wird man nass. Und bei unserem ersten Treffen bin ich ziemlich nass geworden.“
oder:
„Wenn es regnet, wird man nass. Das wusste auch Tiepa. Trotzdem rannte sie immer wieder …“
Ich hoffe, das verwirrt dich jetzt nicht. Im Grunde ist eine Zeitfrom natürlich beizubehalten. Aber wie du siehst, kann man auch wechseln - das trifft aber nur bei deinem Regenbeispiel zu, nicht aber bei deinem oberen Text. Denn da wird in der Vergangenheit berichtet und demzufolge ist alles in die Vergangenheit zu setzen.
Das Regenbeispiel ist wie eine Art Zitat/Aussage zu betrachten. Es hat nichts damit zu tun, ob Dinge immer so sind oder nicht.
„Nachts sind alle Katzen grau. Lange wusste ich nicht, was das bedeuten sollte. Aber dann traf ich …“
Vielen Dank für eure Antworten, jetzt sehe ich klarer und werde nicht mehr in Versuchung geraten, Aussagen in meinem Text auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen
@Frafür1Freu Deine Ausführungen zu der satzweisen Überprüfung meines Geschriebenen waren sehr anschaulich. Eine Horrorvorstellung, wenn ich das tun müsste, zumal mein Buch über 500 Seiten hat.
Künftig werde ich guten Gewissens bei der Vergangenheitsform bleiben. Danke für eure schnelle Hilfe
Ich glaube, es hängt davon ab, welches Verhältnis Ich-Erzähler und Leser haben. Der Ich-Erzähler aus meinem ersten Roman war sehr nah am Leser, er saß ihm gewissermaßen am Kaffeetisch gegenüber und erzählte von seinem Abenteuer. Deshalb habe ich ihm bisweilen launige Einwürfe oder allgemeine Erklärungen auch im Präsens gestattet: Er berichtete von einer Welt, die zum Zeitpunkt des Erzählens noch so bestand. Deshalb durfte er bei einer im Präteritum verfassten Geschichte Dinge einwerfen wie „Bis heute hält sich der unselige Mythos …“ oder „Jedem, der es wissen will, erzähle ich bereitwillig von …“
Hätte ich mehr Distanz zwischen Ich-Erzähler uns Leser gewollt, hätte ich das anders schreiben müssen.
Ich hieve den Thread nach oben, denn ich habe einen Spezialfall aufgetan, Redewendungen und Sprichwörter. Die setzt man nach meinem Sprachgebrauch nicht in die selbe Zeitform, wie die des Textes.
Ich war kaum in der Lage gewesen, sie zu beeindrucken, mit den Kopfschmerzen und meiner Schwäche kam ich nicht weit. Trotzdem hatte es gereicht, dass Ewa glaubte, mich zu lieben. In der Not frisst der Teufel Fliegen.
Ich war kurz versucht, nach meiner Regel ein paar Absätze weiter oben, alles in die Vergangenheit zu setzen, jedoch mein Sprachgefühl protestierte gewaltig und lautstark. Würdet ihr eine Redewendung auch in die Vergangenheitsform setzen? Oder es lassen, so wie ich? Ich könnte ein dachte ich anfügen, dann wäre Präsens erstes Gebot. Was meint ihr? Was wäre eure Wahl?
In der Not frisst der Teufel Fliegen.
In der Not fraß der Teufel Fliegen.
In der Not frisst der Teufel Fliegen, dachte ich.
P.S.: Für mich persönlich kommt 3. kaum in Betracht, weil der Charakter ständig denkt, ohne das extra anzuführen, es liest sich komisch, wenn die Figur eh dauernd denkt und auf einmal als Erzähler sagt, dass sie denkt.
Irgendwo habe ich gelernt oder gelesen, dass ich bei einem Sprichwort ins Präsens fallen kann, aber nicht muss. Finde gerade leider nicht, woher ich das habe.
Vom Sprachgefühl her wäre ich aber, wie Du, bei Variante 1.