Welche Zeitform liest sich angenehmer?

Hallo erstmal! Ich habe folgendes Problem, bei dem ich Hilfe gebrauchen koennte: Bei dem Text, den ich gerade schreibe, hatte ich mich natuerlich irgendwann fuer eine Zeitform entschieden, an die ich mich halten wollte. Nun passiert es mir aber immer wieder, dass ich unbewusst bei manchen Kapiteln in eine andere Zeitform rutsche. Soweit erstmal kein Problem, ausser dass eben einiges korrigiert werden muss. Nun findet mein Sohn aber, dass ich in der einen Zeitform viel fluessiger schreibe, als in der anderen (von mir ausgesuchten) und sich die Texte viel angenehmer lesen. Ich bin ja durchaus gewillt, meinem Unterbewusstsein nachzugeben ;-), haette aber gerne noch ein paar mehr Meinungen dazu, damit ich mich dann endgueltig fuer „die richtige“ Zeitform entscheiden kann. Ich stelle einfach mal zwei Texte aus unterschiedlichen Kapiteln des Textes - und in unterschiedlichen Zeitformen - hier rein, und vielleicht hat einer von Euch Lust, reinzulesen und mir zu sagen, welcher der Texte sich fluessiger / angenehmer liest. Nicht zum Inhalt oder Stil, sondern einfach der initiale Eindruck beim Lesen: Welchen der beiden Texte wuerdest Du lieber weiterlesen? So in der Art. Wuerde mich ueber jeden Ratschlag freuen :slight_smile:
Und los geht’s:

Text 1

Lilly presst ihre Nase an das beschlagene Zugfenster der Regionalbahn und betrachtet dann den Fleck auf der Fensterscheibe. Mit ihrem Ärmel wischt sie die Scheibe frei; dicker Nebel liegt über den vorbeiziehenden Feldern. Die Stationsanzeige zeigt bereits den nächsten Bahnhof an; schon kommt die Ansage, dass der Zug gleich hält. Sie guckt auf die Uhr: 20 Minuten seit der Abfahrt. Dann packt sie schnell ihr Buch in die Tasche und geht zur Tür. Nachdem sie aussteigt, steht die junge Frau auf einem einzelnen Bahnsteig, rundherum Felder, in der Ferne sieht man die trostlosen containerartigen Gebäude der Forschungseinrichtung, die mit ihren metallischen Wänden mit dem Grau der Umgebung konkurrieren. Ein Trampelpfad führt durch ein Labyrinth von großen, matschigen Pfützen in einem ehemaligen Kornfeld, an dessen Ende sich eine Baustelle anschliesst. ‚Weltklasse Forschungsinstitut, endlos Geld, na klar,‘ denkt Lilly ironisch an das Gespräch mit Fiete zurück, ‚aber Wegplatten waren wohl nicht drin‘. Er war bis vor kurzem ihr Doktorvater, jetzt sollte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ihn arbeiten. Als er die Stelle in Deutschland angeboten bekam, hatte er sie gebeten mit ihm zu kommen. „Eine gute Chance, international Kontakt zu knüpfen“, hatte er gesagt. „Nur eine verkappte Stelle als Sekretärin“, unkte der alte Dekan. Fiete hatte die Stelle als stellvertretender Institutsleiter ergattert, obwohl er mit Anfang vierzig ungewöhnlich jung für eine solche Position war. Aber all seine wissenschaftlichen Auszeichnungen sprachen natürlich für sich. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte er dann den aktuellen Leiter nach und nach ersetzen. Prof. Dr. Dr. Julius-Hermann Schön, schon fast 70, hielt sich angeblich mit beiden Händen an seinem Stuhl fest, während die Forschungsgesellschaft seit fünf Jahren versuchte, ihn auf höflichem Wege loszuwerden. „Mist!“, flucht Lilly, als sie in ein Schlammloch tritt. ‚Warum zum Teufel gibt es nicht mal einen richtigen Weg vom Bahnhof zum Institut‘, denkt sie, als sie weiter dem Trampelpfad über das Feld folgt; ihre nassen Socken quietschen beim Laufen in den Schuhen, der scharfe Wind bläst ihr den Nieselregen ins Gesicht.
Schließlich kommt sie am Haupteingang des Instituts an. Eine Glasdrehtür führt in eine große, ovale Vorhalle mit einem runden Tresen in der Mitte. Sie spricht die Empfangsdame am Tresen an: „Hallo, ich bin Dr. O’Donnell, ich habe einen Termin bei Professor Fiete Hansen.“ Eine mittelalte Frau mit Dauerwelle schaut von ihrer Illustrierten auf, dreht ihr Radio leiser, und lächelt der Besucherin freundlich zu.„Ich rufe an und sage Bescheid, dass sie da sind und abgeholt werden wollen. Oder kennen sie sich aus?“, und greift nach dem Haustelefon.

Text 1

Fiete stand an der Arbeitsplatte in der Kaffeeecke und braute sich einen Cappuccino, als Lilly durch die Glastür zur Treppe kam, und sich mit einem lauten Plumps in den Sessel neben ihm fallen lässt. „Puh“, stößt sie aus, „wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, wär‘ ich nicht mitgekommen.“ „Lecker Cappuccino? Hier, nimm erstmal meinen“, antwortet Fiete in tröstendem Tonfall. „Dem entnehme ich, dass Du Dir das Labor angeguckt hast? Tut mir leid, ich habe es mir auch nicht so schlimm vorgestellt“, entschuldigt er sich. Lilly lehnte sich zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Vor den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und sich über die ganze Raumbreite spannten, standen ein grosses weisses Sofa und ein Couchtisch, umzingelt von einigen tiefen Sesseln. Auf der Arbeitsplatte neben dem Spülbecken standen Wasserkocher und Espressomaschine, in dem Regal darüber eine moderne Mikrowelle. „Wie soll ich’s sagen“, nörgelte Lilly, „die Küche ist auf jeden Fall deutlich besser ausgestattet, als das Labor. Wenn man das noch so nennen möchte. Eigentlich ist es ja eher ein Chemie-Endlager.“ Verärgert drehte sie an ihren langen gekringelten Haarsträhnen, während sie sich richtig in Fahrt redete und ihre fast schwarzen Augen grimmig zusammenkniff. Die vorherige Arbeitsgruppe hatte bei ihrem Auszug einfach allen Müll dagelassen. Überall standen alte, vergammelte Chemikalien herum, in den Abzügen, deren Wände mit unzähligen bunten Chemikalienspritzern übersäht waren, lagen dreckige Glasgeräte, sogar eine alte Reaktion drehte sich noch in einem Kolben, auf einer mit Säure bekleckerten Heizplatte. Bis das Labor richtig nutzbar wäre, würde noch einige Zeit vergehen. Während Fiete versuchte, seine Freundin ein wenig zu besänftigen, ging wieder die Treppentür auf und ein Mann Mitte vierzig, die Laborbrille auf den Kopf zurückgeschoben, kam in die Kaffeeecke. Dabei schlurften seine verschlissenen Birkenstocksandalen lautstark über den Boden. Er streckte Lilly die Hand hin; sie stand auf und schüttelte sie kurz und kräftig. „Lilly O’Donnell.“ „Hey, ich bin Cromwell Magnon, oder auch Cro, wenn ich Dich mag“, stellte sich der dunkelhaarige Mann blasiert grinsend vor. Er hatte lange grau-melierte Haare, die in einem unordentlichen Zopf zusammen gebunden waren, und filzig über seinen Rücken hingen. Die Arme, überdurchschnittlich lang, baumelten unkoordiniert neben dem Körper; irgendwie erinnerte er an einen Orang Utan. Fiete grinste Lilly an und zählte in Gedanken mit: 21, 22,… Sie guckte ihren Freund erst irritiert an. Dann sah er, wie ihre Augen verstehend aufblitzten und sie sich hüstelnd an ihrem Kaffee verschluckte. „Cro Magnon, der Urzeitmensch?“, nuschelte sie grinsend in ihren Becher. ‚Verdammt‘, ärgerte sie sich. ‚Muss ich denn immer direkt mit allem rausplatzen?‘Cro guckte etwas beleidigt, und runzelte die weit vorstehenden, buschig-schwarzen Brauen. „Was? Urzeit?“, fragt Cro dümmlich-irritiert. „Willst du auch noch nen Kaffee?“, fiel Fiete ihm schnell ins Wort. „Wir haben den letzten Kaffee im Bioladen bestellt, Fair-trade. Musst Du unbedingt mal kosten. Sag mal, wenn ich Dich schon hier hab: Ich hätte da einige Fragen zur Labortechnik, hast Du nen Moment, um kurz mit mir ins Labor zu kommen? Die Schutzgaszuleitung funktioniert nicht richtig“, redete Fiete schnell weiter, und guckte Lilly mit rollenden Augen an. „Gute Ablenkung“ zischte sie ihm zu, als er sich zusammen mit Cro Richtung Laborflügel aufmachte und dicht an ihr vorbeiging.

Danke an alle, die mitlesen!

Text 2
Begründung: ich kenne die Nutzung von Präsens nur bei ich-Perspektive und stelle gerade fest, dass ich es bei Erzählungen aus der Perspektive der dritten Person sehr ungewohnt und sperrig empfinde.

Danke, Nina!

Für mich auch ganz klar Text 2. Mir gehts wie Nina, Präsens und Perspektive aus der dritten Person ist irgendwie keine optimale Kombination, es liest sich tatsächlich sperrig und wenig elegant.

Für die Entscheidung bräuchte ich den Text nicht mal zu lesen. Aus der Erfahrung des letzten Romans (Die Spiegelstadt von Justin Cronin), bei dem am Ende in die 3. Person Präsenz gesprungen wird, habe ich entdeckt, dass mich diese Kombination so gar nicht anspricht. Bei der Ich-Perspektive ist es üblich und okay, aber nicht in der 3. Person.

Ganz klar Text 2.
Die Zeitform Präteritum liest sich für mich sehr viel angenehmer.
Mit Präsens in der 3. Person kann ich mich nur schwer anfreunden. Präsens in der Ich-Perspektive wäre OK.

Mir erscheint auch das Präteritum passender. Nicht umsonst ist es die meist gebrauchte Zeitform in Romanen. Probier es selbst: Setz einmal den ersten Text in die Vergangenheit. Das klingt gleich gefälliger und liest sich angenehmer.
“Lilly presste ihre Nase an das beschlagene Zugfenster der Regionalbahn und betrachtete dann den Fleck auf der Fensterscheibe. Mit ihrem Ärmel wischte sie die Scheibe frei; dicker Nebel lag über den vorbeiziehenden Feldern. Die Stationsanzeige zeigte bereits den nächsten Bahnhof an; schon kam die Ansage, dass der Zug gleich hält. Sie guckte auf die Uhr: 20 Minuten seit der Abfahrt.”
Zudem hast Du dann diese etwas distanzierte Betrachtungsweise des Erzählers, mit der sich sehr schon spielen lässt. Du kannst als Erzähler in Einzelheiten gehen oder raffen, wenn die Lesegeschwindigkeit zunehmen soll (wenn es spannend wird), Du kannst das Geschehen aus der Nähe oder von Weitem betrachten und beschreiben. Du kannst als Erzähler sogar kommentieren und werten.
Ich habe auch schon bei Manuskripten alles von der dritten Person in die erste umgeschrieben, von Präteritum in Gegenwart und wieder zurück. Probier es einfach aus.

Ich neige auch zu Text 2. Allerdings fällt mir auch die von Dir bereits genannte Schwäche, in der gleichen Zeitform zu bleiben, auf. Das Problem besteht aber auch in Text 1.
Allerdings kenne ich auch Bücher, in denen die 3. Person in der Gegenwart agiert. Allerdings ist das in der Tat etwas gewöhnungsbedürftig.

Ja, 3. Person Präteritum liest sich flüssiger, weil gewohnter.
Allerdings hat m.E. auch das Präsens Vorteile: es wirkt unmittelbarer, direkter, frischer. Und ist ungewohnter zu lesen und zu schreiben, wirkt vielleicht deswegen – zunächst – etwas sperrig und ungelenk. Sicherlich muss man an einem Präsens-Text noch mehr herumfeilen als an einem “normalen” Präteritum-Text, damit er geschmeidig wird.
Ich kann mir eine Geschichte in der 3. Person Präsens durchaus vorstellen, besonders, wenn sie ein hohes Tempo hat und wenige Rückblenden, die dieses Tempo bremsen. Ich sehe da dann eher kurze Sätze und viele Absätze, die den Text auflockern und die Augen vorantreiben.

Also kann ich mir bei beiden Texten vorstellen, sie weiterlesen zu wollen.

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Vielen Dank an alle für die ausführlichen Antworten! Jetzt muss ich mir das alles erstmal durch den Kopf gehen lassen. Ihr habt mir aber einige Punkte zu bedenken gegeben, die ich vorher gar nicht berücksichtigt habe. Grundsätzlich denke ich, dass eine Sache, die viele Leute tun, damit nicht automatisch gut sein muss. Ich weiss aber auch, wie anstregend ich manche Bücher vom Stil her zu lesen finde, durch die ich mich dann trotzdem durchkämpfe, weil sie inhaltlich gut sind. Und so etwas würde ich gerne vermeiden.

@Lillith
Mir fiel auf, dass ich bei der Präsens-Darstellung erst mal ganz nah dran bin und das gefällt mir. Ich stehe mit Lilli am Fenster und nehme ihre Eindrücke wahr. Nach drei bnis vier Sätzen aber schon fällt mir auf, dass sich das “abnutzt” und ich jetzt eigentlich lieber im gewohnten Präteritum lesen möchte. Deshalb handhabe ich es in längeren Texten oft folgendermaßen.

Wenn ich eine Situation oder eine Szene ganz besonders herausstellen möchte, nehme ich einen Zeitwechsel vor, d.h. ich wechsle für die entsprechende Szene von der Vergangenheit ins Präsens.
Beispielsweise bei einem Traum oder einer Gefahrensituaion. Damit hole ich mir den Leser ganz nah herbei. Nach Abschluss der Szene falle ich wieder ins Präteritum zurück. Das erfordert zwar einen sehr bewussten und sensiblen Umgang mit den Zeiten, aber ich halte es für ein interessantes und wirkungsvoles Stilmittel, mit dem man herrlich spielen kann.

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Ein Text in der Gegenwartsform zu schreiben, geht nicht so leicht von der Hand. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch gibt es ganz selten Anreize im Präsens zu schreiben oder im sozialen Miteinander zu kommunizieren.

Was wir gegenwärtig erleben, vollzieht sich im Bruchteil von Sekunden. In der Gegenwart sammeln wir Eindrücke, ordnen diese ein und formen daraus ein verständliches und für uns erklärbares Bild.

Entlang des beschlagenen Fensters ist es beinahe windig. Lilly betrachtet den Fleck, wischt ihn mit dem Ärmel beiseite. Ihre Nase fühlt sich immer noch kalt und feucht an. Auf den vorbeiziehenden Feldern liegt dichter Nebel. Sie schaut auf die Uhr neben der Anzeige. Gleich kommt die Ansage. Auf die Sekunde genau 20 Minuten. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Eilig packt sie das Buch ein, hängt sich die Tasche um und geht zur Tür. Der Bahnsteig liegt einsam, von Feldern umgeben. Die trostlos wirkenden Containergebäude der Forschungseinrichtung liegen in einiger Entfernung. Im Grau der Umgebung sind die metallischen Wände kaum auszumachen. Der Weg führt durch ein Labyrinth von matschigen Pfützen eines längst abgeernteten Kornfeldes.

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@geheimes herz
Danke! Das ist ne klasse Idee mit dem Zeitenwechsel, darauf waere ich erstmal nicht gekommen. Das lasse ich mir auf jeden Fall mal durch den Kopf gehen.


Kann funktionieren. z.B. wenn ein, noch geheimnisvoll undifferenzierter, Oberfiesling aus der Entfernung in drei, vier Sätzen großes Unheil vorbereitet.

Etwas Präsens in der Präteritumsuppe kann den Geschmack verbessern. :thumbsup:
Etwas Präteritum in Präsenssuppe ist hingegen ungenießbar. :scream:

Abgesehen davon ist Präsens heute doch eigentlich kein „no-go“ mehr, oder? Falls man die diversen Konjuktive in den Griff „bekommen tun täte“. :wink:

Und wer hat nicht schon ganz selbstverständlich direkte Rede im Perfekt angelegt…

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Ich muss dazu anmerken, dass es auch Leute gibt, die Präsens absolut nicht lesen können. Hab so eine Freundin, die bei manchen meiner Geschichten streikt. Und zwar genau dann, wenn die Geschichten im Präsens sind. Das geht ihr zu nahe, das kann sie nicht.

Hallo zusammen,

das, was Zauberfrau über ihre Freundin sagt, liebe ich so an Präsens-Texten. Ich schreibe und lese gerne im Präsens, gerade in der dritten Person, weil ich das Gefühl habe, dass ich direkt neben der Person stehe und alles mitansehen kann. Die Ich-Perspektive mag ich wiederum nicht so, weil mir das zu nah ist. Ich bin gern ich selbst, auch beim Lesen.

Außerdem stimme ich Sarahkka zu. Wir lernen das auch im Fernstudium: Präsens-Texte werden immer beliebter. Es ist längst kein No-Go mehr.

Aber es wäre vielleicht objektiver, wenn du den gleichen Text in verschiedenen Zeiten zum Vergleich angeboten hättest. So kann einem Leser auch einfach der zweite Text mehr zusagen, weil es ein anderer Stil bzw. eine andere Geschichte ist.

Liebe Grüße
Sonja

Ich habe hier ein Beispiel, das in einer 900-Wörter-Chellenge entstand: Die Sardana

Die Geschichte besteht aus zwei Szenen , die ein spanisches Zimmermädchen erlbt.
Für die Sardana am Abend habe ich bewusst einen Zeitwechsel eingebaut, um die Szene näher heran zu zoomen und den Leser mit ins Boot zu nehmen.

Die Sardana

Es war ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Paloma stand am Fenster und schaute gedankenverloren aufs Meer. Ein Segelschiff nahm Kurs auf die Hafeneinfahrt am anderen Ende der Bucht. Das grelle Sonnenlicht verwandelte die Wasserfläche in einen flirrenden, sich ständig bewegenden Spiegel. Vom Hotelpool her kreischten und lachten die Kinder. Die Erwachsenen hörte man nicht, doch Paloma ahnte, dass sie sich um die Beschlagnahmung der Liegen mit dem Badetuch stritten wie jeden Morgen.

Die Tür flog auf. Paloma fuhr zusammen. Oje das würde Ärger geben! Die Betten waren noch nicht gemacht, das Bad unberührt. Als sie sich schuldbewusst umdrehte, blickte sie in die Augen von Juanez, dem Gärtner.

„Mamma mia, Paloma, bist du von allen guten Geistern verlassen? Hältst Maulaffen feil, statt die Betten zu machen! Wenn die Patrona das wüsste, wär dein freier Abend heut futsch und dann wär‘s nix mit der Sardana am Strand. Oder wenn ich mir vorstelle, dass nicht ich, sondern ein Gast reingekommen wäre und du hättest ihm dein aufreizendes Hinterteil entgegengestreckt, peinlich, peinlich!“

Juanez grinste anzüglich. Paloma errötete. Verlegen machte sie sich an den Betten zu schaffen, wobei sie darauf bedacht war, ihm weder den angesprochenen Körperteil noch ihre feuerrote Birne zu präsentieren, obwohl sie ihm gerne die Zunge herausgestreckt hätte.

Juanez genoss sichtlich Palomas Verlegenheit, er steckte die Hände in die Taschen und grinste.

„Gieß lieber die Rosen im Park, sie lassen die Köpfe hängen“, murmelte Paloma, doch Juanez beeindruckte das wenig. Pfeifend sah er ihr beim Bettenmachen zu.

„Macho!“, knurrte Paloma zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Du bist süß, wenn du wütend bist.“ Auch ohne ihn anzusehen, spürte sie sein dreckiges Grinsen.

„Lass mich durch, ich muss ins Bad“, fauchte sie ihn an.

Mit einem eleganten Torrero-Sprung hechtete er zur Seite.

„Grins‘ nicht wie ein Honigkuchenpferd, geh lieber in den Garten und schaff deine Arbeit.“

Vom Flur her näherten sich Schritte und Juanez verkrümelte sich.

Mist - der Disput mit Juanez hatte sie mindestens fünf Minuten gekostet. Mit flinken Bewegungen begann Paloma das Bad zu putzen. „Aufreizendes Hinterteil“ hatte er gesagt. Eine Frechheit, sie hier zu anzumachen statt seine Arbeit zu schaffen! Wütend begann sie, die Dusche zu schrubben. Warum hatte sie sich eigentlich von dem aufgeblasenen Schlauredner so ins Bockshorn jagen lassen? Was hatte er überhaupt hinterher zu schnüffeln?

Gerade als sie mit den Handtüchern aus dem Bad stürmte, öffnete sich die Tür. Fast wäre sie mit dem Paar zusammengerannt, das das Zimmer bewohnte.

„Können Sie nicht aufpassen“, zischte die Frau sie an. Ausgerechnet diese aufgetakelte rothaarige Fregatte, die sie gestern im Flur angeschnaubt hatte, weil ihr das Geräusch des Staubsaugers missfiel. Ihr Mann, üppig mit blau gestreiften Badetüchern beladen, hatte sich verschämt in Richtung Ausgang verkrümelt. Mit Sicherheit gehörte das Paar auch zu diesen Liegestuhlbelagerern am Vormittag.

„Sie sind reichlich spät dran heute“, keifte die Rothaarige „übrigens mein Nachthemd lag gestern unterm Kopfkissen meines Mannes. Ich hoffe, der Duschkopf und die Nachttischlampe sind repariert. Karl Egon!“, brüllte sie in den Flur hinaus, „komm sofort zurück und schau nach!“

Der Mann schlich kleinlaut zurück, er blickte Paloma entschuldigend an und schob sich an ihr vorbei, um die besagten Gegenstände zu inspizieren.

„Und - geht die Nachttischlampe wieder?“

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Und der Duschkopf?“

Er machte sich auf den Weg ins Bad: „Sieht nicht so aus.“

„Der reinste Schlamperladen hier!“

Während die Fregatte ihren Mann zum Telefon zu dirigierte, schlüpfte Paloma aus der Tür.

„Vergessen Sie die frischen Handtücher nicht!“

Auweia, was für ein Drachen! Was für ein Tag! Paloma sehnte sich nach ihrem freien Abend.

Abend auf der anderen Seite der Bucht. Unzählige Glühbirnen, auf und ab schwankende Boote und die goldschimmernden Lichter der Hafenlokale spiegeln sich im Wasser und verwandeln es in einen bunt gepunkteten Zauberteppich aus Tausendundeine Nacht. Die Touristen haben die Hafenkneipen besetzt, die Placa davor gehört heute den Einheimischen, die sich hier zur Sardana treffen.

Paloma hat ihren Arbeitskittel gegen die bäuerliche Tracht ihrer Großmutter getauscht, als sie leichtfüßig den Tanzplatz betritt. Vergessen der Ärger vom Vormittag, jetzt zählt nur noch Eine:. Der freie Abend, der große Reigen im Kreis von Einheimischen und Freunden. Jung und alt sind schwatzend zusammengetreten und nehmen sich bei der Hand. Paloma zuckt kurz zusammen, als sie Juanez im Orchester, der Cobla, entdeckt.

Sei‘s drum.

Sie wendet sich ab und tritt ein in den wartenden Kreis. Die Cobla gibt den Einsatz. Sanft schwingend, bestimmt Juanez auf seiner Einhandflöte den Takt. Langsam, konzentriert und ernst, beginnen die Tänzer den Reigen. Mit halb geschlossenen Augen wiegt sich Paloma im Takt der Musik. Gebannt lauscht sie den Klängen der Santa Espina und übernimmt leichtfüßig den Takt: zwei curts zwei llargs.

Sie wirft einen Seitenblick auf Juanez, der selbstsicher und routiniert mit der einen Hand die Flöte mit der anderen die Trommel hält. Er dirigiert die Tänzerinnen mit seiner Musik und seinen Augen, als halte er jede von ihnen im Arm. Plötzlich löst er sich aus der Cobla und tritt ein in den Kreis der Tanzenden. Dicht neben sich spürt Paloma seine Bewegungen und seinen heißen Atem. Nicht nur ihre Füße, nein auch ihr Kopf beginnt sich zu drehen und ihr Herz klopft einen Rhythmus, der viel schneller ist als der der Kapelle.

„Wieso bist du nicht beim Orchester geblieben?“, donnert es in ihrer Brust. „Weil du den süßesten Hintern der Welt hast“, hämmert sein Herz zurück.

Paloma kann es nicht mehr unterscheiden, die Musik und das Brausen in ihren Ohren. Sie spürt Juanez Hand und wiegt sich überglücklich im Takt der Musik.

2 „Gefällt mir“

Danke für den Text. :thumbsup: Mir gefällt’s im Großen und Ganzen.

„Das Fenster“ braucht’s allerdings nicht… :wink: Vielleicht sogar den ganzen ersten Absatz nicht: dann hättest Du einen direkten Sprung in die Situation…

Zunächst dachte ich, es ginge um Belästigung. Ich war überrascht, dass Paloma im zweiten Teil andere Gefühle offenbart.

Bezüglich der Zeiten:
a) Das Präsens hat für meinen Geschmack einen zu großen Anteil am Gesamttext; damit ist es nach meinem Empfinden nicht szenisch genug und die Wirkung ist abgeschwächt.
Es stellt sich sogar die Frage, ob wirklich das Präteritum das Haupttempus ist oder das Präsens … dann wäre der erste Teil ein (vermeidbarer) Rückblick.
b) Da sind ein paar Vollverben und Einschübe im Perfekt. Mag Absicht sein, Deine Entscheidung …

Hoffe, es ist ok, dass ich das so schreib; wenn nicht, melde Dich bitte und ich lösche es wieder.

Ich kann dein Liebäugeln mit dem Präsens gut verstehen. Mir ging es damals auch so. Ich hatte nie verstanden, warum man Romane in der Vergangenheitsform schreibt. Das fand ich schon fast schon ein bisschen behindert. Ich nehme an, diese Präferenz des Präsens’ kommt von Nachrichtenseiten. Also hab ich damals auch im Präsens geschrieben. Und ich fand meinen Text sowas von besser – viel frischer und viel näher dran.

Aber die Rückmeldungen meiner Testleser haben mir dann gezeigt, dass es irgendwie doch ein Problem gibt. Selbst die wohlwollendsten machten mich immer wieder auf Inkonsistenzen in den Zeitformen aufmerksam, obwohl sie sonst alles toll fanden. Ich hielt das zunächst für völlig unproblematisch und für Einzelmeinungen. Aber nachdem mir fast jeder irgendwo so etwas anmeckerte, setzte ich mich damit zähneknirschend auseinander. Und je mehr ich dafür sensibilisiert wurde, erkannte ich sie dann schon beim Schreiben.

Ich würde jetzt gern ein Beispiel bringen. Kann ich aber nicht mehr :slight_smile: Ich glaube, gelegentlich beschrieb ich etwas in der Vergangenheit, um dann wieder ins Präsens zu wechseln oder nahm in der Vergangenheit auf etwas Bezug, das in einem anderen Handlungsstrang stattgefunden hatte. Mir wurde dabei klar, dass es diese Probleme (die ich hier nur unklar beschreiben kann) nicht gab, wenn der ganze Text einfach im Präteritum geschrieben wird.

Irgendwann ließ ich meinen Text dann reifen, begann einen neuen in der Vergangenheitsform und gewöhnte mich dabei so schnell an diese Form, dass ich tatsächlich die kranke Mühe auf mich nahm, meinen fertigen ersten Roman komplett ins Präteritum zu übertragen. Für mich war das die richtige Entscheidung. Ich würde heute nicht mehr im Präsens schreiben. Es kann aber sein, dass dies zu den Erfahrungen gehört, die man einfach selbst machen muss.

Wenn ich heute meine alten Versionen lese, dreht sich mir der Magen um. Interessanterweise gab es aber keinen einzigen Testleser, der die Präsensform als solche angemeckert hat. Mit anderen Worten: Mit dem Präsens schien niemand ein Problem gehabt zu haben. Auch das kann ich ja mal weitergeben.

Wenn du also beim Präsens bleibst: Achte auf Rückmeldungen deiner Testleser.

@Sarahkka
Rückmelddung ist ok für mich. Gehört dazu, wenn ich einen Text reinsetze, dass ich auch damit lebe, dassihn ander aufmerksam lesen und sich damit auseinandersetzen. Und dass ich das hinterfrage und selbst nochmal durchgehe (was ich auch tun werde) und ggf. ändere. Solange das freundlich passiert, kein Problem.

Nur ne Erklärung zum Fenster und der einleitenden Szene. Den Text habe ich zu einem entsprechenden Bild von Dali geschrieben, hätte auch gerne das Bild hierreingesetzt, hab mich aber dagegen entscheiden um nicht mit dem Urheberrecht zu kollidieren, ich schaue aber mal obs einen Link dazu gibt. LG Uschi

kRIEGS NICHT HIN: Wens interessiert: Google mal salvador Dali Mädchen am fenster
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