Manche Nebenfiguren sind so interessant, dass man sich eigentlich ein Buch wünscht, das sich ganz um sie dreht.
Eines meiner liebsten Beispiele ist, wie Jean Rhys in „Sargassomeer“ (1966) die Geschichte der ersten Frau von Mr. Rochester aus „Jane Eyre“ (1847) erzählt. In Charlotte Brontës Roman erfahren wir nicht viel über sie. Rochester hält sie auf dem Dachboden seiner Villa gefangen. Sie sei verrückt, sagt er. Jean Rhys zeigt sie als lebendige, sensible junge Frau, die an einer lieblosen Ehe zerbricht.
„Die Zeuginnen“ (2019) von Margaret Atwood bringt uns zurück nach Gilead, die christlich-fundamentalistische Diktatur aus „Der Report der Magd“ (1984). Aber diesmal spricht Tante Lydia, die Antagonistin des ursprünglichen Romans.
Man kann eine Figur, die in einem Buch nur am Rande vorkommt, zur Hauptfigur eines anderen machen, um etwas aufzudecken, das im ursprünglichen Roman unter der Oberfläche lauert (wie die englische Kolonialherrschaft in „Jane Eyre“). Oder um eine vertraute Welt in einem neuen Licht zu zeigen, sie komplexer und wirklicher zu machen. Ich mag das sehr.
Die Geschichte welcher Nebenfigur sollte dringend erzählt werden, und warum?
Hast du schon einmal eine deiner Nebenfiguren in den Fokus des nächsten Buches gestellt? Erzähl!
Ich kenne nur „Jane Eyre“, nicht „Sargassomeer“, deshalb kann ich nicht wirklich mitreden. Aber der Gedanke, dass jemand nachträglich die Nebenfigur eines anderen Autors „klaut“ und die Ursprungsgeschichte verdreht - das soll mit meinen Buchfiguren und meiner Geschichte niemand machen!
Ich hatte die Frage so verstanden, dass man in seinem eigenen Roman eine Nebenfigur hat, zu der man dann selbst einen weiteren Roman schreibt, in der die ehemalige eigene Nebenfigur zur neuen Hauptfigur des eigenen, neuen Romans, wird.
Ich habe einen dreibändigen Romanzyklus geschrieben. Danach ein Was-vorher-geschah-Band und als Abschluss schreibe ich einen Spin-Off, in dem alle Randfiguren etwas ausführlicher gezeigt werden, zumindest manche. Insgesamt sind es sieben Nebenfiguren der ersten vier Bände.
Ich habe früher die Bücher von Berte Bratt gesammelt, die in den 50er und 60er Jahren wohl ziemlich erfolgreich waren und heute antiquarisch z.T. noch hoch gehandelt werden.
Zum heutigen Zeitgeist passen sie schon aufgrund der Rollenverteilung der Geschlechter nicht mehr so gut, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass der Humor und die lockere Schreibweise damals etwas Besonderes waren, das der Autorin zu ihrem Erfolg verholfen hat.
Mich hat die Tatsache fasziniert, dass sie tatsächlich manchen Nebenfiguren eigene Bücher widmet. Es geht eigentlich immer um junge Mädchen, irgendwelche (oft) finanziellen Probleme, durch die sie sich durchbeißen müssen und die erste Liebe.
Über eine Familie hat die Autorin mehrere Bände geschrieben. Manchmal spielt in mehreren Bänden dieselbe Figur die Hauptrolle, manchmal erkennt man, dass ein anderes Mädchen aus dieser Familie diese Rolle bekommt. Ich finde das gerade für Kinder bzw. Jugendliche eine gute Idee, weil sie so leichteren Zugang zu der Geschichte finden, vor allem, wenn sie die Figuren aus einem früheren Band schon kennen. Dabei sind die Bücher aber dennoch so geschrieben, dass man sie auch gut ohne die übrigen verstehen kann.
Oh, lies „Sargassomeer“! Es ist sehr gut! Was Charlotte Brontë von „Sargassomeer“ gehalten hätte, werden wir nie erfahren, schließlich war sie bei Erscheinen des Buches schon seit 111 Jahren tot. Ich finde den Dialog zwischen den beiden Werken extrem spannend. Dass Autoren sich an kulturell einflussreichen Werken abarbeiten, sie neu interpretieren und Teile von ihnen weiterverwenden ist gar nicht so unüblich. Die Protagonisten von „Rosenkrantz und Güldenstern sind tot“ sind aus Shakespeares „Hamlet“, „Die Stunden“ von Michael Cunningham ist eine Improvisation auf der Basis von Virginia Woolfs „Mrs Dalloway“ …
Danke für den Tipp, ich liebe es, wenn Autoren das tun! Der Manawaka-Zyklus der kanadischen Schriftstellerin Margaret Laurence funktioniert ganz ähnlich: Sämtliche Romane spielen in der Kleinstadt Manawaka, und manche Figuren, die im Hintergrund eines Buches auftauchen, spielen im nächsten eine Hauptrolle. Besonders interessant finde ich es, wenn dasselbe Ereignis aus verschiedenen Perspektiven gezeigt wird. Oder wenn man herausfindet, dass eine Figur, die in einem anderen Buch seltsam, arrogant oder grundlos feindselig erscheint, ihre ganz eigenen Probleme hat und auch deswegen so handelt … Wenig macht eine fiktive Welt plastischer und wirklicher als das.
Genau. Oder eine Nebenfigur aus dem Werk von jemand anderem, über die man einfach gern mehr lesen würde. Mir ging es zum Beispiel mit Marla Singer aus „Fight Club“ so.
Heute habe ich ein Pferdebuch für junge Mädchen gelesen. Es stammt von einer Autorin, die, glaube ich, drei verschiedene Reihen von Pferdebüchern geschrieben hat, immer mit so ca. 10 Büchern pro Reihe. Und einmal hat sie eine wichtige Figur (wenn auch nicht die Hauptfigur) in einer anderen Reihe als Nebenfigur auftreten lassen. Es handelt sich dabei um eine Journalistin, die für eine Pferdezeitschrift schreibt und auch eigene Pferde hält. In Reihe 1 ist sie eine sehr gute Freundin der Protagonistin, die zunächst noch Anfängerin ist, und bei ihr lernt.
In Reihe 2 taucht sie nur in einem Kapitel auf, als die dortigen Protagonistinnen (Tochter und Mutter, beide Anfängerinnen) einen Reitkurs bei einer Art „Guru“ machen, der ihnen erzählt, Reiten müsse absolut gewaltfrei ablaufen, sonst schade man den Pferden. Das führt dazu, dass die beiden gar nichts hinkriegen, weil jede ihrer Lebensregungen von dem Guru als gewalttätig dem Pferd gegenüber kritisiert wird. Die Journalistin, die ebenfalls an den Kurs teilnimmt, aber schon fortgeschritten ist und ihr Pferd gut beherrscht, klärt die Anfänger aus dem Kurs später in einer Pizzeria darüber auf, was für ein Blödsinn der Reitlehrer-Guru erzählt hat.
In diesem Fall wurde eine Nebenfigur aus einer Serie als noch geringere Nebenfigur in einer anderen Serie eingesetzt. Auch das finde ich höchst charmant.
Bei mir würde das allerdings nicht funktionieren, weil ich Fantasy schreibe. Und eine andere Fantasy-Reihe würde bei mir sicher auch eine andere Fantasywelt bedeuten. Und Wesen zwischen denen beiden auszutauschen, dürfte schwierig werden. Es müsste passen. Aber wenn es die Wesen der einen Welt in der anderen gar nicht gibt, geht das nicht.
Das, was die o.g. Beispiel verbindet ist, dass sie alle in unserer Welt spielen und die Figuren dann leicht austauschbar sind.
Im letzten Drittel des dritten und letzten Teils gab es eine unerwartete Volte. Nicht gerade ein Deus ex machine aber doch so unerwartet und unvollendet, dass diese entscheidende Person mehr verdient hatte als das Ende, welches ich ihr und dem Helden gönnte. Klingt komisch? Ich will nichts verraten, denn der Band ist geschrieben aber noch nicht veröffentlicht.
Da stand nun die neu erschaffene Heldin und trat gleich wieder ab? Nein, ich schuldete ihr und den Lesern wenigstens noch eine Erklärung oder zwei. Die lieferte ich dann im fünften Teil. Der dritte Teil hatte ein Paukenschlagende (wie alle meine Bücher) und ich konnte an diesen Paukenschlag schlecht noch einen Epilog hängen. Diesmal nicht. Daher der allerletzte Teil. Und dann fielen mir aus dem Stegreif sechs oder sieben weitere Personen ein, von denen ich erzählen konnte und schwupp waren wieder hunderttausend Wörter geschrieben. Das geht bei mir schnell. Und der fünfte Teil ist und hat dann wahrhaftig ein Paukenschlagende, was alles in den Schatten stellt.
Vorher habe ich nicht alle losen Fäden vernäht, aber doch ein Flickwerk vermieden und aus den Teilen eins bis vier Leute ausgesucht, die es wert waren, mehr von ihnen zu erfahren und ganz nebenbei ein würdiges Ende einer denkwürdigen Serie geschaffen.