Weihnachtsengel fliegen tief

Weihnachtsgeschichte
Sub.: Wovon Singles träumen
Head: Weihnachtsengel fliegen tief
Vorweihnachtszeit in einer Stadt wie München ist ein schwer zu beschreibendes Feeling, wunderschön, romantisch aber für viele auch einsam. Cassy, die eigentlich auf den mystischen Namen Kassandra getauft wurde, freute sich gerade über die ersten glitzernden Schneeflocken und bestaunte mit kindlichem Überschwang die jedes Jahr aufwändigere, Weihnachts-Beleuchtung.
„Ja dachte sie“, die eben noch vor Begeisterung gesprüht hatte, plötzlich missmutig: „das Davor ist wirklich einzigartig, aber der heilige Abend wird wieder einmal mein persönliches Desaster.“
Sicher es gab jede Menge Singles in einer Stadt wie München. Selbst ihre Freundinnen Jenny, Catrin und Sybilla leisteten ihr da uneingeschränkt Gesellschaft. Aber auch wenn es keiner von ihnen zugeben würde, von einer festen Beziehung träumten sie alle vier. „Naja“, seufzte sie, „leicht wurde es einem nicht gemacht, denn was sich so Anfang dreißig noch frei in der Männerwelt tummelte, war entweder Macho, Muttersöhnchen oder purer Egoist.“
Cassy grinste gequält, da war es einfach besser, den mitleidigen Blicken glücklich verheirateter Artgenossinnen die Stirn zu bieten und die Behauptung aufzustellen das Singleleben wäre das einzig erstrebenswerte Lebensziel heutzutage.
Trotzdem Ihre drei Freundinnen hatten es da besser, sie feierten Weihnachten bei ihren Familien. Natürlich hatte keine der drei versäumt sie einzuladen, denn sie wussten, dass sie keinen Anhang hatte. Aber aus der Erfahrung vergangener Jahre war ihr klar geworden, dass sie sich dort im trauten Kreis der Familien nur noch verlassener und trauriger fühlen würde. Fakt war sie gehörte nicht dazu und empfand sich mehr oder weniger als fünftes Rad am Wagen.
Also abgehakt, sie würde sich wieder, wie bereits die letzten zwei Jahre mit ein bis zwei Flaschen Prosecco betäuben und außerdem Krabbensalat, Sushi und Süßigkeiten zum Frustessen besorgen. Einen kleinen Tannenbaum hatte sie schon vor einigen Tagen erstanden und die drei hübsch verpackten Geschenke ihrer Freundinnen darunter deponiert.
Ach ja eine Liebeschnulze auf Video a la Pretty Woman und nicht zu vergessen eine Gigapackung Tempotaschentücher. Diese waren immens wichtig, um ihre Selbstmitleidstränen zu trocknen.
Cassy badete inzwischen in ihrem Vorweihnachtsfrust und sie musste aufpassen, dass sie nicht bereits hier in der Innenstadt, kurz vor dem Marienplatz in Tränen ausbrach.

Plötzlich erfasste ein kräftiger Windstoß ihre nagelneue weiße Mohairkuschelmütze, sie sah nur noch, wie sie hochgewirbelt wurde und über den Köpfen der dahineilenden Menschen verschwand. Nein, schrie sie entrüstet und versuchte ihrer Mütze nachzuhechten, es war ihr schnurzpiepegal, dass sie von allen Seiten mit eigenartigen Blicken gemustert wurde. „Komisch“, Cassy schüttelte den Kopf, „wie war sowas möglich, jetzt war es wieder völlig windstill.“
Während sie versuchte, sich den Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, liefen ihr nun doch Tränen der Empörung über ihre Wangen. Erst vor einigen Tagen hatte sie dieses Stück durch einen tiefen Griff in ihren Geldbeutel erstanden. Hoffentlich liegt sie nicht irgendwo am Boden und alle trampeln darüber, überlegte sie entsetzt.
Cassy war so beschäftig, gegen die Masse anzukämpfen, das sie heftig gegen einen jungen Mann prallte. Übrigens einem ausgesprochenen Prachtexemplar seiner Gattung. Er lachte sie an und hielt ihr die Mütze völlig unversehrt entgegen.
Cassy strahlte, „sie muss der Himmel geschickt haben seufzte sie erleichtert“ und drückte das weiße wollige Gebilde auf ihren roten Lockenkopf.
Darf ich sie zu einem Glühwein am Christkindlmarkt einladen fragte sie ihn etwas schüchtern, sozusagen als Dankeschön für die Hilfe.
Klar, nickte der junge Mann freundlich, aber ich muss noch ganz dringend was erledigen, treffen wir uns doch in einer Stunde am Marienbrunnen, dann nehme ich ihr Angebot liebend gerne an.
Cassy nickte zustimmend und so plötzlich wie der Traumtyp vor ihr gestanden hatte war er auch schon wieder verschwunden.
Hatte sie irgendwas an den Augen oder spielten ihre Nerven verrückt. Vielleicht bahnte sich bei ihr bereits eine nahende Vorweihnachtspsychose an. Sie rieb sich energisch über das Gesicht, wahrscheinlich hatte das Schneegestöber ihre Sicht getrübt, wie sonst könnte es sein, dass sie glaubte weiße Flügel, auf dem Rücken des jungen Mannes, gesehen zu haben. Sicher hatte ihr wieder einmal ihre blühende Fantasie einen Streich gespielt. Dieser ganze Weihnachtsschmus setzte ihr einfach fürchterlich zu. Jetzt zeigten sich also bereits beginnende Halluzinationen. In einer Stunde würde sie ihn Treffen, bis dahin musste sie wieder runter von dem Himmelstrip, sonst würde ihre neue Errungenschaft noch annehmen sie hätte einen an der Waffel. Wie sagte Sybilla immer, deine romantischen Fantasien werden dich noch mal in Teufels Küche bringen. „Ha, schniefte Cassy und ihre Stupsnase mit den vielen Sommersprossen legte sich in kleine Dackelfalten, „aber bestimmt nicht, solange ich Engel sehe“.
Schnell erledigte sie ihre restlichen Einkäufe und war dadurch viel zu schnell am vereinbarten Treffpunkt. Der riesige Weihnachtsbaum vor dem alten Rathaus strahlte im hellen Licht seiner tausend elektrischen Kerzen und der Christkindlmarkt unterstrich die weihnachtliche Stimmung durch seinen Duft nach gebrannten Mandeln, Glühwein und Lebkuchen.

„Hallo Schneeflocke, “ ertönte plötzlich die angenehme Stimme ihres Mützenretters neben hier, „träumst du oder würdest du mich mit dem versprochenen Glühwein vor dem Erfrieren retten“.
„Hallo Weihnachtsengel“ lachte Cassy und konnte sich nicht verkneifen zu fragen, „wo hast du denn deine Flügel gelassen?“ Der junge Mann zeigte sich keineswegs erstaunt und seine mysteriöse Antwort beruhigte Cassy nicht im Mindesten. „Ich heiße Michael wie der Erzengel“, erwiderte ihr Traumtyp ernsthaft „und meine Flügel trage ich nur während der Arbeit, aber mach dir keine Gedanken in meiner Freizeit bleibe ich am Boden.“ Cassy blinzelte fassungslos und wie immer, wenn sie supernervös war, kaute sie unablässig auf ihrer Unterlippe herum. Diese Auskunft nährte ihre Fantasie und wirkte nicht gerade entspannend auf ihre lädierten Nerven. Ach was, der Typ wollte sie sicher nur ein bisschen foppen. Entschlossen hakte sie sich bei ihm ein, „schön, dass du gekommen bist Erzengel Michael“ versuchte sie cool und witzig die Situation zu meistern. „Darfst du als Engel überhaupt Alkohol trinken?“ fragte sie süffisant?
Es wurde wider Erwarten ein sehr netter Abend und Cassy musste sich eingestehen, dass sie sich in diesen himmlischen Boten ganz schön verknallt hatte. Außerdem fand sie, verhielt sich Michael wie ein völlig normaler Mann, er baggerte sie nämlich sehr gezielt an. Ein Engel auf Anmache. Nein dachte Cassy das gibt es ganz sicher nicht. Mal sehen, wie er sich aus dieser Geschichte wieder heraus manövriert.
Michael entpuppte sich als vollendeter Kavalier und brachte sie bis vor ihre Haustüre. „Morgen Mittag sehen wir uns dann wie vereinbart, wieder am Marienbrunnen, “ flüsterte er Cassy ins Ohr. „Hast du denn da schon frei?“ fragte Cassy erstaunt. „Natürlich auch Engel arbeiten nicht mehr rund um die Uhr und haben Ihre freie Zeit“, lachte Michael, küsste sie leicht auf die Wange und verschwand sekundenschnell im abendlichen Winternebel.
Puh, dachte Cassy was habe ich mir den da eingebrockt. Gut das Jenny, Catrin und Sybilla weit weg sind, da könnte ich mir sonst was anhören, romantische Weihnachtsgans, verschaukelte Schneeprinzessin oder Psychotussi waren da wohl noch harmlose Vergleiche.
Mittags aßen sie im Bratwurstglöckerl, na ja sinnierte Cassy für einen Engel hat er einen sehr irdischen Appetit. Im Laufe des Nachmittags beschlossen Sie den heiligen Abend zusammen in Cassys Wohnung zu feiern. „Kommst du durchs Fenster geflogen oder ganz profan durch die Eingangstüre?“ Diese Spitze konnte sich Cassy nicht verkneifen. Michael lachte schallend, „hör zu Schneeflocke, ja ich bin momentan ein Engel und heute muss ich noch ungefähr drei Stunden arbeiten, aber dann werde ich meine Flügel bis zum nächsten Jahr abstreifen, ich arbeite nämlich ehrenamtlich für den Sozialdienst. Deswegen besuche ich schon eine Woche vor Weihnachten arme Familien und ältere Menschen und bringe Ihnen Essen, Klamotten und Weihnachtspäckchen und dazu trage ich dann Flügel.“ Ansonsten widme ich mich ganz profan der Medizin und absolviere gerade mein letztes Semester, bevor ich als schlecht bezahlter Arzt im Praktikum meinen Dienst im Krankenhaus antrete.
Cassy war mehr als erleichtert, obwohl ihr ja immer schon klar war, dass Michael niemals………… so ein Quatsch, wer glaubte schon an so was?

Gegen siebzehn Uhr hatte Cassy den Tisch bereits festlich mit Sushi, Krabbensalat, Süßigkeiten und Prosecco gedeckt. Die Packung Taschentücher befand sich samt Pretty Woman DVD ungeöffnet in der Schublade.
Michael erschien pünktlich und als beide vor dem Baum ihre jeweiligen Geschenke öffneten, war klar, sie lagen auf einer Wellenlänge. Jeder von ihnen hatte die gleiche Schneekugel mit einem wunderschönen Engel darin, gekauft. Leise ertönte die Melodie: „Schneeflöckchen, Weißröckchen wann kommst Du geschneit, Du wohnst in den Wolken, Dein Weg ist so weit, “ Immer wieder setzten sie das Spielwerk der Schneekugeln in Gang, um der Melodie zu lauschen.
Langsam zog Michael, Cassy in seine Arme und es folgte im wahrsten Sinne des Wortes ein himmlischer Kuss. „Eines stimmt an der Geschichte“ grinste Cassy still in sich hinein, „in diesem Jahr fliegen die Weihnachtsengel zum Greifen tief.“
©Eva-Beate Soller 2020

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Sehr schöne Kurzgeschichte, danke