Warum man nicht ins Meer pinkeln sollte
Ihr kennt ja alle den Spruch, dass es Unglück bringt, wenn man ins Meer pinkelt. Aber wisst ihr auch, woher er kommt? Also passt auf:
Da waren mal ein paar Jäger, die wollten zum Berg, um Dinks zu jagen. Ein paar Frauen, ein paar Männer, und sie trafen sich am Meer bei einem Fischer, der sie übersetzen sollte. Vor der Überfahrt stärkten sie sich noch mit einem guten Essen und mit einem Schluck Palmwein, um auf ihr Jagdglück anzustossen – das kennt ihr ja soweit. Aber da war einer dabei, der Jüngste, der hatte noch nie zuvor Palmwein getrunken. Und der schmeckte ihm so gut, dass er sich heimlich, als keiner aufpasste, ein paar mal nachschenkte. Die anderen merkten erst, dass mit ihm etwas nicht stimmte, als sie schon weit draußen waren. Er fing an, dem Steuerer in seine Geschichten dreinzureden oder an Stellen zu lachen, die gar nicht lustig waren. Es dauerte ein wenig, bis sie draufkamen, dass er betrunken war. Es war aber zu spät umzukehren, denn sie waren schon näher am Berg als an der Küste, sonst hätten sie ihn zurückgelassen. So hofften sie, dass er sich beruhigen würde, bis sie drüben waren. Am Ufer könnte er dann seinen Rausch ausschlafen.
Aber leider wurde es noch schlimmer. Denn plötzlich sprang der junge Kerl von seinem Platz auf der Ruderbank ganz vorne auf und rief laut: ‚Ich muss pinkeln!‘ Alle Köpfe drehten sich nach vorne. Betretene Blicke trafen den Betrunkenen, der sich schon anschickte, seinen Schurz zu heben. Alle riefen durcheinander: Er solle sich unterstehen, er solle sich zusammenreißen, er solle sich schämen! ‚Es bringt Unglück, ins Meer zu pinkeln!‘ rief der Steuerer nach vorne, ‚Der Meerwächter wird dich holen!‘ Aber der Ruchlose rief noch lauter: ‚Ich muss jetzt unbedingt pinkeln!‘
Es gab einen Tumult, als einige von den Ruderern aufspringen wollten, um den Frevel zu verhindern. Das Boot geriet dadurch in so gefährliche Schwankungen, dass sie sich, aufgefordert durch lautstarke Protestrufe der anderen, wieder hinsetzen mussten. Aber es wäre sowieso schon zu spät gewesen. Denn der Missetäter hatte sich schon nach vorne gedreht, stand breitbeinig an der Spitze des Bootes, und richtete seinen Strahl bergwärts ins Meer. Bergwärts! Das war noch der Gipfel seiner schändlichen Tat, dass er den Berg mit dem Anblick seines peinlichen Geschäftes konfrontierte! Vor Scham wendeten sich alle Ruderer ab und gaben entsetzte Wehklagen von sich. Auch der Steuerer nahm seinen Kopf zwischen die Hände, schloss die Augen und keuchte so laut er konnte, um das plätschernde Geräusch nicht hören zu müssen.
Plötzlich wurde aus dem Plätschern ein brüllend lautes Tosen, das mit einem einzigen gewaltigen Platscher ebenso plötzlich wieder aufhörte. Das ganze Boot wurde wie von einer Springflut hochgehoben und wieder fallen gelassen. Eine zweite Welle überspülte die Ruderer und brachte das Boot fast zum Kentern. Dann war das Meer schlagartig wieder so ruhig wie vorher.
Als die durchnässten Jäger ihr Gleichgewicht wieder fanden und begannen, sich von dem Schrecken zu erholen, hörten sie den Steuerer aufschreien. Er zeigte zitternd nach vorne zur Bugspitze. Der Platz des Betrunkenen war leer.
Da schrie plötzlich auch der Nebenmann des Verschwundenen laut auf. Denn auf der Bank neben ihm, und das sahen jetzt auch die anderen, weil sie doch alle vorsichtig aufstanden und sich nach vorne beugten, auf der vordersten Ruderbank, dort wo zuvor der Frevler gesessen und dann gestanden hatte, um seine unsäglich Tat zu begehen, dort auf dieser Bank stand jetzt eine Pfütze von Salzwasser. Und in dieser Pfütze zappelte ein winzig kleiner, schwarzer Fisch, der sie mit großen Augen ansah und sein Maul auf und zumachte, immer wieder auf und zu, so als wollte er etwas zu ihnen sagen. Der Nebenmann packte mit einer schnellen Bewegung das Fischlein und warf es angeekelt ins Meer.
Keiner sagte etwas, alle setzten sich hin, und sie ruderten weiter zum Berg, um zu jagen. Als sie wieder zuhause waren, berichteten sie von dem tragischen Unfall, der dem jungen Mann das Leben gekostet hatte. Durch eine Unachtsamkeit beim Aufstehen von der Ruderbank hatte er das Gleichgewicht verloren und war über Bord gefallen. So schnell war er ins tiefe Wasser gesunken, dass jeder Rettungsversuch vergeblich war und er seinem Schicksal nicht mehr entrissen werden konnte. Mit dieser Geschichte ersparten sie den Hinterbliebenen die peinliche Wahrheit über seine Leichtfertigkeit und sein unrühmliches Ende. Aber im Lauf der Zeit verbreitete sich unter den Meerleuten die Erzählung von dem jungen Jäger, der vom Wächter des Meeres zur Strafe für seine Ungebührlichkeit in einen Fisch verwandelt worden war.
Und seitdem weiß jeder Fischer und jeder Bootsmann, warum man nicht ins Meer pinkeln sollte.
Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Dinks sind in meiner Welt kinderlose Ehepaare (double income no kids) und mit der Flut solltest du aufpassen. Die Analogie zum Springbock ist zwar naheliegend aber falsch. Ich zitiere aus meinem Schreibratgeber (ist also nicht gegen dich gerichtet):
Eins vorweg, es gibt sie, die Springflut. Und sie findet nicht nur im Frühling statt. Aber es ist keine Tigerflut, die den unbedachten Meeresbesucher anspringt und verschlingt. Es ist schlicht und ergreifend eine Flut bei Vollmond. Etwas höher als eine normale Flut. Wenn man sich News-Ergebnisse im Netz ansieht, muss man lesen, dass das Ahrtal von einer Springflut heimgesucht wurde und ähnlichen Schwachsinn mehr. Die Flut springt nicht durch das Tal und reißt alles mit sich. Das wäre eine Flutwelle.
Springflut = Flut bei Vollmond
Nippflut = Flut bei Neumond
Sturmflut = Flut bei auflandigem(!) Sturm
Sturzflut = Ein sich plötzlich ergießender Schwall Wasser, von Rohr- bis Dammbruch.
Flutwelle = Scheitelpunkt eines Hochwassers
Was du meintest, ist schlicht und ergreifend eine Welle, eine hohe Welle. Die höchsten Wellen nennt man übrigens Kaventsmänner. Aber ein Kaventsmann hätte das Boot verschlungen und nicht nur den Jungen verwandelt.
Vielen Dank für das Lob und für deine Anmerkungen.
Freut mich sehr!
Zu den sprachlichen Irritationen muss ich etwas anmerken, und ich hoffe, das klingt nicht zu rechthaberisch:
Die Geschichte gehört zu einem Buch, in dessen Verlauf die Dinks schon früher eingeführt werden, und zwar hoffentlich so, dass beim Leser die Assoziation zu Familienstrukturen in modernen Gesellschaften schnell durch die Vorstellung großer waranartiger Echsentiere in einer fremdartigen Welt abgelöst wird. Natürlich habe ich andere Namen ausprobiert – Drachen wäre sicher ein kommerziell schlauerer Begriff – aber das würde die ganze Geschichte in die falsche Genre-Ecke drängen. Also heißen sie vorerst so, wie es mir spontan eingefallen ist. (Bin aber offen für Vorschläge.)
Und die Springflut. Guter Hinweis – nehme ich überhaupt nicht persönlich.
Es ist aber in der Welt des Erzählers so, dass sich die Sprache anderen Umständen anpassen muss: Niemand weiß hier etwas von einem Mond, obwohl es durchaus Gezeiten gibt. Es gibt eine Nebeltide, eine Große Flut und es gibt hin und wieder auch Sturzfluten. Letztere sind ja Wassermassen, die unerwartet von oben herabkommen; und für den Geschichtenerzähler ist die Springflut halt so etwas wie das Gegenteil einer Sturzflut: Viel Wasser, das auf einen Schlag nach oben schwappt. Muss nicht unbedingt eine wandernde Welle gewesen sein – vielleicht war es ja die Riesenfaust des Meerwächters ?-)
Mir gefällt diese Geschichte sehr gut.
Allerdings gibt es eine Unlogik.
Zu Beginn schreibst du:
Da gehe ich davon aus, dass mir der Ursprung dieses Aberglaubens erzählt wird.
Im Verlauf der Geschichte stellt sich dann jedoch heraus, dass es diesen Aberglauben zum erzählten Zeitpunkt bereits gibt:
Das folgende Ereignis bestätigt den Aberglauben, erklärt jedoch nicht die Ursache.
Hey, vielen Dank
Auch für den Hinweis.
Zu meiner Entschuldigung (und zu der der Erzählerin in der Geschichte): ich glaube, in solchen mündlichen Überlieferungen herrscht nicht immer strikte Logik, da kann schon mal die ursprüngliche Ursache mit einem späteren ähnlichen Ereignis vermischt werden. Ich vermute auch, der Junge in dieser Geschichte könnte nicht das erste Opfer gewesen sein…