Hallo liebe Community,
ich wollte mal fragen, wann für euch persönlich eure Charaktere „fertig“ sind.
Ich nutzte gerne Charakterbögen, damit ich selbst meinen Charakter gut kennenlerne. Davon kommt dann aber nicht alles mit mein Manuskript (besonders bei den Nebenfiguren).
Woran erkennt ihr beispielsweise, ob die Charakterentwicklung, die im Laufe der Handlung passiert ist, gut rübergebracht wurde?
Wie genau muss man die Schwächen, Ängste, Vergangenheiten und Besonderheiten herausarbeiten?
Wann und wie kann sich der Leser gut in den Charakter hineinversetzten?
Jedes Mal, wenn ich mein Manuskript überarbeite, denke ich mir: da geht noch mehr. Ich kann den Charakter noch besser machen. Andererseits möchte ich mich aber besonders bei den Nebenfiguren nicht ewig daran aufhalten und trotzdem eine Verbindung zwischen den Figuren und den Lesern erschaffen.
Wann seit ihr zufrieden mit euren Charakteren und wie genau beschreibt ihr sie?
Wie geht ihr beim Überarbeiten vor? Habt ihr vielleicht eine Art Checkliste, die ihr durchgeht oder ist das einfach eine Gefühls- oder Erfahrungssache?
Ich glaube, dass man damit nie „fertig“ ist.
Wann kenne ich denn einen echten Menschen richtig? Manchmal entdecke ich selbst bei guten Bekannten nach Jahren oder Jahrzehnten noch neue Seiten.
Und für den Roman, den man schreibt, kommt es natürlich auf die Bedeutung der Figur an. Ich brauche keine fünfzig Seiten lange Biogafie für den Verkehrpolizisten verfassen, der auf Seite 153 einmal nach dem Weg gefragt wird. Umgekehrt ist die Charakterisierung „gebildet, aber ungeduldig“ natürlich nicht ausreichend für die Hauptperson, die den gesamten Roman tragen soll …
Das ist eine komplexe Frage und umfasst am Ende das große Ganze.
Die Charaktere: Ich denke eine grobe Faustregel, für mich ist die Hauptcharaktere weniger mit Äußerlichkeiten und mehr mit dem Innenleben zu beschreiben. ( Meist haben die alle einen an der …) Das zieht sich durch die Geschichte, denn mit der Hauptfigur lebt sie. Da reichen kurze Beschreibungen, wie Name/ Geschlecht, ein ungefähres Alter und die Lebensumstände. Haar- und Augenfarbe sind nicht zwingend nötig, nur wenn es mal passt. Der Leser setzt sich aus Kleinigkeiten sein eigenes Bild zusammen. Das ist der Reiz. Zu viele Beschreibungen stören nur das Kopfkino.
Ein Nebencharakter (ein dicker Mann mit Zeitung, der im Bus gleich auf zwei Plätzen sitzt ) ist so schnell beschrieben. Äußerlich und im Wesen.
Ich finde es dabei am wichtigsten, dass sich der Charakter der Personen in ihren Handlungen und Worten (und je nach Erzählperspektive auch besonders in ihren eigenen Gedanken) zeigt.
Und dass sich die Charaktereigenschaften entweder kontinuierlich durch das gesamte Buch hindurchziehen oder die Entwicklung und Veränderung des Charakters für den Leser nachvollziehbar sind.
Am besten, ohne dass die Charaktereigenschaft im Buch genannt werden müssen. Wenn beispielsweise der Leser nach ein paar Kapiteln den Protagonisten durch sein Handeln gut genug kennt, um am Anfang eines Dialogs vorauszusehen „oh, oh, gleich platzt dem Prota wieder der Kragen“, ohne dass der Autor je die beschreibenden Worte „jähzornig“ oder „unbeherrscht“ verwendet hat. Wenn es dem Leser sofort als ungewöhnliche Entwicklung auffällt, falls der Protagonist in einer anderen Situation mehr Selbstbeherrschung zeigt.
Das ist es. Ein Charakter lebt nicht von seinen „nebensächlichen“ Eigenschaften, die vllt. hin und wieder zum Vorschein kommen, sondern von denen, die offenkundig sind und eine eindeutige Identifizierung zulassen.
Das genügt also, einen Charakter wiederzuerkennen.Genügt das aber auch für das, was James Wood in seinem Buch „Die Kunst des Erzählens“ als Anteilnahme zusammenfasst? Wo sind da die kleinen Ticks, die Spleens, hinskizzierte Eigenheiten?
Die können in dicken Romanen ganz schön nervig werden. Wenn sich in einem Hollywoodfilm die herzlose schöne Blondine alle drei Minuten durch die Haare streicht oder ihr Haar schwungvoll nach hinten wirft, ist das okay. Aber wenn ich in einem Roman alle 10 Seiten lesen würde: „sie strich sich durchs Haar“, dann wäre ich spätestens auf Seite 250 davon genervt.
(Da fällt mir Sam Hawkens von Karl May ein: „Wenn ich mich nicht irre, hihihi.“ Irgendwann hat man genug von diesem Satz.)
Ich gehe so vor, dass ich Charaktere als „entscheidend“ und „nicht ganz so wichtig“ markiere. Bei Überarbeiten lege ich dann auf den zweiten Typus weniger Wert, ihn auf alle Einzelheiten zu prüfen. Bei „entscheidend“ checke ich, ob wirklich die für die Geschichte relevanten Facetten herausgearbeit wurden oder ob ich an verschiedenen Stellen noch einmal ran muss. Die Charakterkarten der „entscheidenden“ Personen sind beim vorläufigen Ende des Schreibens umfangreich ausgefüllt, ohne dass alles im Text stattfindet. Ich suche also in den Karten nach Perlen, die bisher in der Schatulle geblieben sind und schaue, wo und ob sie noch sinnvoll und erhellend zu integrieren sind.
Da ich meine Romane organisch schreibe, d.h die Handlung wird teilweise während des Schreibens entworfen, sind meine Charaktere anfangs nur skizziert. Das reicht, weil der Leser sie auch nicht kennt. Sie haben meist ein Hauptmerkmal, um sie in eine Schublade zu stecken (Der grimmige Zweifler, der witzige Optimist, der nachdenkliche Philosoph) während der Handlung ergänze ich ihren Hintergrund. Da erzählt der eine eine Geschichte aus der Kindheit … Und diese habe ich meist passend zur Situation erfunden. D.h meine Protagonisten sind am Ende der Geschichte fertig - oftmals baue ich Hinweise rückwirkend bei der Überarbeitung ein.
Ich staune immer wieder über die klaren Antworten auf solche Fragen, wie etwa, dass der Charakter von Protagonistinnen (oder deren Entwicklung) schon in der Planungsphase der Geschichte feststeht. Bei mir ist das gar nicht so - ja oftmals kenne ich die Leute gar nicht, die sich da aus meinem Hirn in den Text drängen.
Was nicht heißt, dass sie keinen Charakter haben, wenn sie auftreten oder sich dieser nicht, wohin auch immer, im Laufe der Geschichte entwickelt. Ich weiß es bloß nicht. Und so wie die Lesenden meine Protas beim Lesen kennenlernen, lerne ich als Schreibender sie beim Schreiben kennen. Ein unsagbar schönes Abenteuer, das ich nicht missen möchte. Und wenngleich mir auch nicht alles gefällt was die dann so treiben - ich liebe sie alle und verliebe mich in jede neue Figur.
Und: Sie verändern auch mich, indem ich sie beschreibe. Vielleicht mehr, als ich sie.
Ohne Plan verliert man irgendwann den Überblick. Daher reiße ich meine Charaktere an und plane dann nach. Das heißt, die Figurendatenbank füllt sich mit dem Voranschreiten des Schreibens der Geschichte. Wenn man die Dinge - vorher oder bei der Überarbeitung oder während des Schreibens - festhält, ist das ein gutes Mittel, Chaos zu vermeiden.
Wie jemand einen ganzen Roman von A-Z inklusive der Figuren durchplanen kann, bevor nur ein Buchstabe der Geschichte feststeht, ist mir auch ein Rätsel.
Bis zum Ende der Geschichte kann es passieren, dass meine Figuren mich noch überraschen oder ich merke: Nein, so würde er/sie sich nicht verhalten. Meistens äußert sich das darin, dass sie „nicht tun, was man ihnen sagt.“
Kann auch mal nervig sein, aber ist für mich immer ein Zeichen dafür, dass das, was man sich vorher auf dem Reißbrett so schön überlegt hat, eben doch nicht so passend ist wie gedacht.
Ich fürchte, solche Dinge können einem am Ende nur die Lesenden beantworten. Du als Autorin wirst immer am meisten über die Figuren wissen. Du kennst sie so gut, dass sie fast wie Freunde für dich sind. Und wie bei engen Freunden auch, wird dein Bild von ihnen eben durch die Gefühle getrübt, die du mit ihnen verbindest. Das ist total normal und auch wichtig, schließlich musst du dich ja auch lang genug mit ihnen rumschlagen. .
Die Einschätzung, ob etwas „gut“ ist, werden hingegen die Lesenden jeder für sich treffen. Mit zum Teil sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
J. K. Rowling hatte z. B. Professor Snape an einen fiesen Lehrer aus ihrer Schulzeit angelehnt und war ganz überrascht, dass die Leser, die dieses Wissen natürlich nicht hatten, viel stärker auf die tragische Seite der Figur angesprungen sind und ihn sogar noch romantisch verklärt haben.
Gerade bei Nebenfiguren könnte es zielführend sein, sich auf einige wenige, aber dafür sehr klar erkennbare Charaktereigenschaften zu beschränken. Und natürlich, sie mit ihrem Handeln und ihrer Funktion für den Plot fest in der Geschichte zu verankern. Wenn sie für die Hauptfigur wichtig sind (Freunde, Verwandte etc.), okay.
Wenn sie dann aber noch was wichtiges zur Handlung beitragen, umso besser.
Und wenn du es dann noch schaffst, dass sie trotz dem bisschen Screen-Time, die sie vielleicht haben, Gefühle bei den Lesenden auslösen (vielleicht, weil sie besonders, schrullig, liebenswert, fies, arrogant oder so sind), dann ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass sie im Gedächtnis bleiben.
(Ich glaube, wir kennen alle die eine Nebenfigur, der oder die einfach so cool ist, dass man gern ein Spin-Off lesen möchte. )
Moin zusammen,
ich glaub auch, das die Charaktere „nie“ fertig sein werden. Sie entwickeln sich ja in den Geschichten weiter. „Fertig“ würde ich sie nenne, wenn die Reihe der Bücher/ Geschichten zu Ende sind. In einer Trilogie geht´s nur bis Band Drei und dann ist Ende. Damit dann auch das Ender der Entwicklung der Charaktere. So sehe ich das.
Um auf die Buchreihe von @Schreibmöwe zurückzukommen - die Charaktere entwickeln sich von Band zu Band weiter. Ihre - ich nenne sie mal so - Grundeigenschaften haben sie vom ersten Band an. Ticks, Spleens, Ansonderheiten usw. kommen im Lauf der Zeit (der Bände) hinzu. Wenn die Geschichte(n) eines oder mehrerer Protas auserzählt ist, ist auch der Charakter „fertig“. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird er nie wieder auftauchen.
Ich wollte da auch nur mal meinen Senf dazu abgeben: Charaktere sind nie „fertig“. Man lässt sie nur irgendwann los.
Mir tut das jedesmal weh, aber es ist ein Schmerz, der bittersüß ist. So als ob Eltern ihren Kindern zusehen, wie sie das Elternhaus verlassen, mit den Fingern die Ärmel umklammern und noch einmal winken, einen Hauch vor feuchten Augen …
Vielen Dank an eure Antworten! @Gschichtldrucker, @Tapio und @Suse : Bei mir ist es auch so gewesen, dass ich die Charaktere beim Schreiben erst kennengelernt habe. Anfangs hatte ich auch oft ein Hauptmerkmal im Kopf. Der Rest kam dann während des Schreibens dazu. Während des Schreibens habe ich einen Charakterbogen ausgefüllt, um sie noch besser kennenzulernen und auch nichts zu vergessen. Damit komme ich ganz gut zurecht. Jetzt beim Überarbeiten werde ich die Charakterbögen nochmal mit den Figuren abgleichen und hoffen, dass alles zusammenpasst.
@SchereSteinPapier, da hast du recht. Am Ende können das nur die Leser einschätzen. Eine Testleserin fand auch einen meiner Nebencharakter irgendwie zwielichtig und dachte, dass er noch was böses vor hat. Dabei habe ich ihn ehr als netten hilfsbereiten Mann im Kopf. Total interessant, was die Leser in den Figuren manchmal entdecken. Ich denke, richtig gute Testleser sind da sehr hilfreich.
Gut zu wissen, dass es bei euch auch so ist, dass man nie wirklich fertig ist und die Charaktere sich immer weitern entwickeln. Ich werde es jetzt so handhaben, dass ich sie irgendwann „los lasse“, wenn ich mit meiner Handlung fertig bin.
Für die Überarbeitung nehme ich mir vor folgendes zu prüfen:
Einige Äußerlichkeiten dem Kopfkino der Leser zu überlassen (@EffEss)
das sich Charaktereigenschaften kontinuierlich durch die ganze Handlung ziehen und zu vermeiden die Charaktereigenschaften zu nennen, sondern zu zeigen (show don’t tell) (@_Corinna)
kleine Ticks/Spleens einbauen, die man mit den Figuren verbindet, aber auch nicht ständig erwähnen und mich ehr auf wenige Haupteigenschaften konzentrieren (@nathschlaeger, @nolimit)
die Figuren in wichtig und unwichtiger aufteilen und bei den wichtigeren überprüfen ob alle handlungs-relevanten Eigenschaften herausgearbeitet wurden (@JoJosson)
mich bei den Nebenfiguren ehr auf wenige, aber klar erkennbare Charaktereigenschaften beschränken (@SchereSteinPapier)