Verfall

Hallo zusammen,
ich heiße Philipp und bin neu hier in der Community. Ich schreibe normalerweise im YA-Thriller Bereich und bin kurz vor der Fertigstellung meines ersten Projektes, was ich veröffentlichen möchte. Der Text, den ich hier vorstelle, passt eigentlich gar nicht zu meinen sonstigen Schreibgewohnheiten, da er eher poetisch/nostalgisch ist. Es ist ein kleines Experiment und meine erste Kurzgeschichte. Über ein Feedback würde ich mich freuen :slight_smile:

Verfall

Damals lebten Spinnen in den Kerben.
Ihre Netze wie feiner Draht im fahlen Licht der Abendsonne.
Am Morgen schimmerten sie wie Tau, im Winterlicht wie blasse Haarsträhnen.
Und manchmal sah ich sie warten. Geduldig, reglos, lauernd.
Das Gebälk war alt. Es erzählte Geschichten über Kriege, Liebe und stille Geheimnisse. Die Schaukel war ein stummer Zeuge.
Ich war vier, als ich zum ersten Mal hier war. Damals neigte sich der Hügel hinunter in ein stilles Tal. Von der Siedlung, die den Wald und die Wälder verschlungen hat, war nicht einmal eine Ahnung zu sehen.
Kein grauer Irrgarten, der all das Leben erstickt hat.
Nur der alte Spielplatz. Das Klettergerüst mit der Schaukel.
Ich lächelte, als ich sie zum ersten Mal sah.
„Du gehörst für immer mir.“
Die Schaukel quietschte scheußlich, aber für mich sang sie leise Lieder meiner Kindheit.
Mutter schubste mich an, als Vater im Krieg kämpfte. Ich flog in meinen Träumen. Über den Wolken wie mein Vater, der Pilot.
Er starb in Kent, am Ärmelkanal.
Und da sind so viele Erinnerungen an diesen Ort.
Die Nächte, in denen wir Sternschnuppen gezählt haben.
Versteckspielen im hohen Gras, das zwischen den Kletterstangen wuchs.
Meine erste Liebe, der erste Kuss.
Der erste Schnaps, jugendliche Freigeister. Endlose Gespräche, und die orangene Sonne hinter dem Hügel.
Der Bau der Siedlung – wie alles verschwand, außer dem Spielplatz.
Mein Antrag, wie sie Ja gesagt hat, im Dämmerlicht auf der Schaukel, wo wir uns zum ersten Mal geküsst haben.
Mein Sohn. Wie er flog, auf der Schaukel. Und in seinen Träumen.
Wie sein Opa, der Pilot.
Wie ich hier sitze, auf der Bank vor dem Spielplatz, während sie alle fort sind – meine Mutter, meine Frau, mein Sohn.
Fort, im Tod und im Leben.
Wie mein Enkel niemals schaukeln wird, weil mein Sohn mich vergessen hat.
Er lebt in München, seit Jahren habe ich ihn nicht gesehen.
Und jetzt sitze ich hier und höre das Brummen des Baggers. Weil sie alt ist. Weil sie gezeichnet ist, von Moder und Verfall.
Ein Schlag – und die Schaukel zerbricht.
Die Spinnen, die einst ihre Netze zwischen den Stangen gesponnen haben, sind schon lange fort.
Das Gras, das zwischen den Kletterstangen wuchs, ist zu Beton geworden.
Und dort, im Schatten der Baustellenfahrzeuge, liegt das, was neu wird.
Ein Ungeheuer aus rotem Stahl. Ein fremdes Herz aus Metall.
In wenigen Stunden wird die neue Schaukel stehen.
Streng und unnahbar glänzt sie im Nachmittagslicht, mit glatten Stangen wie leuchtende Adern. Für einen Augenblick ist alles leer.
Die Schaukel quietscht scheußlich.
Dann sehe ich den Jungen mit seiner Mutter. Vielleicht vier Jahre alt.
Sie schubst ihn an, und er lacht.
Die Schaukel singt leise Lieder seiner Kindheit.
„Du gehörst für immer mir.“

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Hallo und herzlich willkommen bei uns!

Was für zuallererst auffällt ist, dass du jeden Satz in einer neuen Zeile beginnst. Ist das Absicht?

Ansonsten: Ich muss deine Geschichte erst noch lesen.

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Toller Text. Einfach formuliert - ich meine das positiv. Schnörkellos und auf den Punkt. Dennoch vermittelt die Geschichte eine gewisse Stimmung. Gut gemacht! Dein Stil gefällt mir.

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Wow!
Dankeschön, dass ist ein starker Text.
Erlebt oder ausgedacht?

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Hallo Philipp,

herzlich willkommen :slightly_smiling_face:deine Geschichte hat mich berührt, wirklich schöne Details, gut beschrieben :+1:

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Herzlich willkommen Phillip. Ausdrucksvoller Text :+1:

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Herzlich willkommen, Philipp. :smiley:
Wirklich ein guter Text mit Tiefe in schlichter Symbolik der Schaukel. Gefällt mir sehr gut!
Schön, dass Du da bist.

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Herzlich Willkommen bei uns im Forum!

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Herzlich willkommen mit einem verdienten Einstiegsapplaus für die Geschichte, die mich sofort ins Herz getroffen hat. Schön, dass du da bist.

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Danke für die lieben Worte.
Die Absätze waren so beabsichtigt. Ich merke auch bei der Korrektur meines Romanprojekts, wie wichtig Absätze für die Stimmung eines Textes sind. Manchmal fällt mir die Entscheidung sehr schwer :smiley:

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Dankeschön :slight_smile: Der Text ist ausgedacht.

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Eine Anmerkung zur Form, nicht zum Inhalt:

Absätze in einem fortlaufenden Text bezeichnen Abschnitte, die aus einem oder mehreren Sätzen bestehen und jeweils einen thematischen oder Sinnabschnitt des Gesamtinhaltes zusammenfassen. Damit unterstützen sie die Erfassung des Inhaltes.

Ein Absatz kann dabei auch aus nur einem Satz bestehen; damit ist die Aussage stilistisch besonders hervorgehoben und fällt ins Auge. Doch permanent?

Damit verpufft die Wirkung und die Lesbarkeit leidet oder wird erschwert ebenso wie beim Lesen eines unendlichen Textblocks ohne jegliche Absätze.

Ich denke, diese Erfahrung hat jeder hier schon gemacht. Dafür gibt es auch keine Patentlösung. Also immer weiter schreiben und dabei auch die Struktur des Textes immer wieder hinterfragen, bis Du mit Deinem Text zufrieden bist und auch Deine Leserinnen und Leser.

Man kann gestalterisch alles machen, aber wenn es Deine Leserinnen und Leser dabei stört (auch unbewusst!) den Text gut zu lesen, kannst Du Dir beim Inhalt alle Mühe der Welt geben, aber er wird sehr wahrscheinlich nicht so gewürdigt, wie er es verdient hat.

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Danke für die Richtigstellung und die Anmerkungen.
Beim Lesen fällt mir häufig auf, dass es da auch sehr genrespezifische Unterschiede gibt. Finde die Thematik sehr interessant. Bei meinem Roman bin ich mit dem Ergebnis insgesamt zufrieden, ich habe es dort aber auch größtenteils „klassischer“ gehalten. Gleichzeitig habe ich festgestellt, wie stark sich die Form - gerade bei spannenden Passagen - auf die Dynamik auswirkt. Bin da sehr gespannt auf das Feedback meiner Testleserinnen und Testleser.
Leider wird auf vielen E-Readern die Formatierung zerschossen, wenn die Schriftgröße umgestellt wird. Ich selbst besitze zwar keinen, aber mir ist das bei einer Freundin aufgefallen. Vielleicht kenne ich mich da aber auch nicht gut genug aus.

Guten Abend und herzlich Willkommen hier in der Community.

Dein Text ist wahnsinnig ausdrucksstark und gefällt mir sehr. Du hast Bilder vor meinem inneren Auge erscheinen und verschwinden lassen, ich konnte sie alle sehen: den Piloten, die Mutter, die jungen Kinder und die Schaukeln - die alte wie auch die neue. Danke dafür!

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Ein herzliches Willkommen auch von mir :blush:

Und gleich mal ein kurzes Wort zu deinem Text: WOW.
Erst war ich ein wenig verwirrt wegen der Absatzgestaltung. Aber der Inhalt hat mich sowas von abgeholt. Hat mir eine Gänsehaut beschert.
Da machten die Absätze plötzlich Sinn.

Viel Spaß hier beim Lesen und Austauschen :wink:

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Starke Story, hat mich abgeholt.
Habe nur eine Anmerkung, weil mich diese Stelle mit einem „Häh?“ aus dem Leseflow geholt hat:

Er lebt in München, seit Jahren habe ich ihn nicht gesehen.
Und jetzt sitze ich hier und höre das Brummen des Baggers. Weil sie alt ist. Weil sie gezeichnet ist, von Moder und Verfall.

Der Übergang von Bagger auf „sie“. Wahrscheinlich die Schaukel. Aber von der war vorher keine Rede mehr. Daher musste ich in den vorangehenden Sätzen nach dem Zusammenhang suchen und fand ihn nicht - und das ausgerechnet da, wo Du keine neue Zeile begonnen hattest …
Nichts Schlimmes, hat ja auch sonst niemanden gejuckt (ist vielleicht auch intendiert als Leserleistung), ist auch so für mich ein toller Text.

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