Zum Jahresende eine kleine Story, die ich vor 10 Jahren schrieb
Ungesühnt
„Also, Ihr Mann wollte nach Mallorca fliegen?“, sagte der Polizeihauptkommissar Berger und rollte einen Schreibstift unentwegt zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand hin und her.
„Nun ja“, sagte die zierliche Frau, die wie ein Häuflein Elend auf dem Stuhl saß. „Ursprünglich wollte Peter mit seinen Skatbrüdern zum Oktoberfest, aber das hätte ihr Budget gesprengt.“
„… und so fanden die Skatbrüder ein Angebot für Mallorca?“, nahm Berger an.
„Ja, ja“, sagte Sibylle, „sie hatten fast drei Jahre gespielt und das Geld gespart.“
„Wer buchte die Reise?“, Berger legte den Stift zurück in die Schreibschale.
„Das war Bruno, er hatte das Ganze via Internet erledigt.“
„Und waren Sie einverstanden?“
Der korpulente Kriminalist, dessen Gesicht eine dunkelrote Färbung aufwies, sodass die Frau glaubte, er würde jeden Moment explodieren, sah sie herausfordernd an.
„Ach, wissen Sie“, sagte Sibylle und lächelte verlegen. „Ich vertraute meinem Mann, voll und ganz; aber Bruno traute ich noch nie über den Weg.“
„So, so … wie soll ich das verstehen?“
„Die Art, wie er sich Frauen gegenüber äußert.“
„Nämlich?“
„Na ja, er gibt einem das Gefühl, Mensch zweiter Klasse zu sein.“
„Sie fühlten sich also nicht wohl dabei, dass die drei, das verlängerte Wochenende auf der Ferieninsel verbringen würden“, stellte Berger fest, „und Sie haben nicht versucht, es Ihrem Mann auszureden?“
„Nein, wie ich anfangs schon sagte, ich vertraute meinem Mann.“
„Sie waren also fest der Überzeugung, dass Ihr Mann, am Freitag dem 15. September 2012, mit seinen Skatbrüdern im Flieger nach Mallorca saß.“
„Ja, natürlich.“ Sibylle war verärgert. „Was denken Sie eigentlich? Glauben Sie, ich hätte etwas mit der Sache zu schaffen?“
Die Sekretärin schaute auf. Der Polizeihauptkommissar sah sie forschend an.
„Haben Sie?“
„Nein.“
Der Kriminalist sagte eine Weile nichts; dann erläuterte er mit teilnahmsloser Stimme die Aktennotizen: „Den Spuren nach zu urteilen, war es Einbruch. Die Spezialisten konnten den Weg des Einbrechers rekonstruieren. Im Obergeschoss des Hauses von Frau Meinhardt traf der Täter auf Ihren Mann und die Frau. Vermutlich war der Dieb überrascht, jemanden im Haus anzutreffen.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte Sibylle. „Soll ich froh sein, dass das Fremdgehen meines Mannes auf diese Weise eine Bestrafung fand, oder doch traurig …“
„Tja, wie dem auch sei“, sagte Berger, „Ihr Mann wird es bereut haben, dass er nicht mit seinen Freunden geflogen ist.“
Mit Sicherheit, dachte Sibylle und fragte: „Meinen Anrufbeantworter haben Sie untersucht?“
„Ja. Er hat Sie glauben machen wollen, dass er auf der Ferieninsel sei.“ Berger beäugte die Frau und fragte: „Wo waren Sie, als der Anruf kam?“
„Meine Migräne quälte mich schon den ganzen Tag. Ich nahm Tabletten und legte mich schlafen.“ Sie schaute auf ihre schmalen Hände. „Ich habe erst am anderen Morgen den AB abgehört.“
„Hm …“, brummte Berger, „ja, das wäre vorläufig alles.“
Trotz seiner Leibesfülle erhob sich der Kriminalist behände, bedankte sich und die Frau verließ das Büro.
Sibylle lächelte nicht, als sie sich umschaute, und Kommissar Berger im Türrahmen, den er fast ausfüllte, stehen sah. Mit seinen kleinen Schweineaugen gab er ihr das Gefühl, als lese er ihre Gedanken. Dann drehte sie sich langsam um und stöckelte den Gang bis zur nächsten Ecke, wo sie die Richtung zum Ausgang folgte. Sie hatte das Bedürfnis, einen Blick über die Schulter zu werfen, wagte es aber nicht, weil sie das Gefühl hatte, dass sie alles hinauszuschreien drohte, wenn er da stehen würde, die ganze Wahrheit. Dann straffte sich ihr Körper und sie legte sich ans Herz, durchzuhalten. Endlich trat sie durch die Ausgangstür. Ich fühle mich bestens, dachte sie. Während Sibylle den Parkplatz überquerte, benutzte sie den Funkfernschlüssel. Und als sie im Auto saß, sieht sie die Fenster, die Fassade des Gebäudes, welche schmutzig gelb war, und hinter eines der Scheiben stand Berger. Sie ahnte nur sein rotes Mondgesicht und ein leichtes Stöhnen kam aus ihrer Kehle.
„Reiß dich zusammen, Mädchen!“, ermahnte sie sich. Dennoch heulte der Motor auf, als sie das Gaspedal niederdrückte.
Sibylle stand auf der Brücke, die über den Mittellandkanal führte, wo um diese Zeit nur wenig Verkehr herrschte. Ihr Auto war nicht weit entfernt. Sie hatte die Tür aufgelassen. Der Motor lief.
Vor ihrem geistigen Auge erschien die Szenerie mit Peter und der Anderen. Sibylle dachte: „Wie dumm er geschaut hat, als ich plötzlich vor ihm stand, mit der Waffe in der Hand. Ich schoss ihm ins Herz und der blöden Kuh mitten ins Gesicht.“
Fast hypnotisiert starrte Sibylle in die kalte Brühe des Kanals, an zwei Fingern baumelnd ließ sie die Pistole fallen. Das Platschen weckte sie aus ihrer Starre. Und als die Ringe im Wasser verschwanden, stahl sich ein kleines Lächeln in ihr Gesicht.