Unendlich viel Zeit Kapitel 5

Hier ist die finale Version von Kapitel 5.

Der erste Versuch, sich zu öffnen

Einige Tage waren nach dem gemeinsamen Abendessen vergangen. Mit zitternden Knien näherte sich Lisa dem Haus ihrer Therapeutin. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wie sollte sie die richtigen Worte finden? Was, wenn sie in Tränen ausbrach? Würde Frau Engel sie dafür verurteilen?

Sie zögerte kurz, bevor sie die Klingel drückte.

Eine Frau mittleren Alters öffnete die Tür mit neugierigem Blick.

»Hallo, Sie müssen Lisa sein?«

Ihr herzliches Lächeln gab Lisa das Gefühl, willkommen zu sein.

»Ja, das bin ich. Und Sie sind Frau Engel?«

»Genau. Nehmen Sie bitte im Warteraum Platz. Es wird noch ein paar Minuten dauern.«

Frau Engel machte eine einladende Geste und Lisa trat ein.

Sie setzte sich auf den Stuhl im Wartezimmer. An der Wand hing eine Uhr, die laut tickte. Lisa biss sich auf die Lippen. Mit jeder Minute, die verging, nagte die Ungewissheit an ihr. Vorhin wäre der perfekte Moment gewesen, sich umzudrehen und wegzugehen.

»Kommen Sie herein, Lisa!«, erklang Frau Engels freundliche Stimme.

Lisa stand auf und ging ins Sprechzimmer.

Das Sonnenlicht strahlte hell durch die Fenster des hohen Raumes. In einer Ecke stand eine Topfpflanze.

Die Therapeutin schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit, wirkte aber dennoch ungewohnt und fremd auf Lisa. Es war zu lange her, dass jemand ihr ohne Vorbehalte begegnet war. Vielleicht war es genau das, was ihr fremd vorkam – dass jemand ihr Gutes wollte, ohne sie zu kennen.

»Setzen Sie sich doch.«

Frau Engel zeigte auf das Sofa und Lisa nahm Platz.

Die Therapeutin setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.

»Also, wollen Sie einen Tee oder etwas zu trinken?«

Lisa fixierte die Uhr an der Wand. Vor ihr lagen fünfzig elend lange Minuten, die sie mit Reden oder schweigendem Nachdenken verbringen würde. Sie nippte an dem Tee, den Frau Engel ihr angeboten hatte.

Tausendmal hatte sie sich ausgemalt, wie die Therapiestunde ablaufen sollte. Doch jetzt war es ihr unangenehm, über ihre Gefühle zu sprechen.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, platzte es aus ihr heraus.

Frau Engel nickte verständnisvoll. »Kein Problem. Fangen wir damit an: Was hat Sie zu mir geführt?«

Lisa seufzte und schaute zu Boden. Sie knetete ihre Finger. »Meine Eltern haben mich quasi dazu überredet, hierherzukommen.«

Frau Engel nickte. »Sie machen sich Sorgen um Sie.«

»Ja, das stimmt. Ich soll über ihn reden. Aber was bringt das?«

Frau Engel lehnte sich leicht nach vorne und sagte: »Meinen Sie Maurice?«

Lisa zuckte zusammen. Ein plötzlicher Druck legte sich auf ihrer Brust. Als hätte sie ihn hintergangen. Nicht, weil sie etwas falsch gemacht hatte, sondern weil der Moment sich anfühlte, als würde sie ihn zurücklassen. Als würde jedes Gespräch über Heilung bedeuten, ihn ein Stück zu verlieren.

Frau Engel schien es zu bemerken. »Sie werden nicht dazu gezwungen, darüber zu reden.«

Lisa starrte auf ihre Hände und sagte leise: „Das ist das Problem. Was soll das denn bringen? Es wird ihn nicht zurückbringen.“

Frau Engel machte eine Pause. »Darüber zu reden, verändert nicht die Vergangenheit, aber es kann Ihnen helfen, mit ihr umzugehen.«

Lisa schluckte. Denn sie wusste nicht, ob sie das wollte.

»Was fühlen Sie, wenn Sie an Maurice denken?«

Ein bitteres Lachen kam von Lisa. „Ich fühle Schuld.“

Die Therapeutin hob leicht die Augenbrauen. Aber nicht überrascht, sondern ermutigend. »Können Sie mir sagen, warum?«

Lisa rieb sich über die Arme. »Weil ich etwas hätte tun können, um es zu verhindern.«

Frau Engel wartete geduldig.

Lisa atmete tief durch. »Ich muss mir eingestehen, dass es nichts daran ändert, dass Maurice für immer weg ist.«

»Das stimmt«, sprach Frau Engel sanft. »Schuldgefühle sind oft irrational, das macht sie nicht weniger real. Wie wäre es vielleicht, wenn Sie die Schuld hinterfragen – so als ersten Schritt? Was hätten Sie anders machen können?«

Lisa presste die Lippen zusammen. Hunderte Male hatte sie sich diese Frage bereits gestellt, in ihren Gedanken. Laut ausgesprochen klang sie irgendwie nicht so schlimm.

»Ich hätte ihn bitten können, es nicht zu tun.«

Frau Engel fragte: »Hätte Maurice denn auf diese Bitte gehört?«

Die Therapeutin musterte sie.

Lisa schüttelte den Kopf.

»Nein, er war stur und abenteuerlustig.«

»Wenn Maurice in Ihrer Situation wäre, würden Sie wollen, dass er sich Vorwürfe macht?« Frau Engel zog interessiert eine Augenbraue nach oben.

Ein leises „Natürlich nicht“ kam ihr über die Lippen.

Frau Engel lächelte und sagte: »Ich habe für Sie eine Art Hausaufgabe. Schreiben Sie einen Brief an ihn, so als würden Sie mit ihm sprechen. Notieren Sie alles, was Sie ihm gerne sagen würden. Als würden Sie ihm Ihre Gefühle und Ihre Gedanken mitteilen.«

Lisa zuckte unmerklich zusammen. Oh nein … Wie sie es hasste, über ihre Gefühls- und Gedankenwelt zu reden. Sie mied dieses Thema lieber.

»Wollen Sie nächste Woche wiederkommen?«

Die Therapeutin wartete geduldig auf ihre Antwort.

Lisa haderte mit dem Gedanken. Sollte sie hingehen? Einerseits tat es weh. Sollte sie der Therapeutin vertrauen? Frau Engel wirkte nett. Und irgendwie fühlte es sich gut an. Dann wäre alles raus. Sie antwortete mit einem leisen »Ja«.

Nach der Sitzung betrat Lisa ihre Wohnung und atmete tief aus. Es war nicht so schlimm gewesen, wie sie befürchtet hatte. Sie war nicht zusammengebrochen, hatte nicht geweint. Anfangs war es unangenehm gewesen, doch jetzt spürte sie, dass ihr das Gespräch einen Teil der Last von ihren Schultern genommen hatte.

Anfangs erschien ihr die Idee völlig sinnlos. Was soll das bringen? Sie schüttelte den Kopf. Ein Brief an jemanden, der nicht mehr da ist … Das war für sie einfach absurd.

Sie stand vom Sofa auf, ging ein paar Schritte durchs Wohnzimmer und blieb dann wieder stehen. Aber … ich muss es nicht abschicken. Das ist ja nur für mich. Damit alles raus ist. Vielleicht ist das der erste Schritt, um mit Maurice abzuschließen – ein für alle Mal.

Sie erblickte den kleinen Schreibblock am Regal. Zögerlich trat sie näher. Ich weiß ja nicht mal, wo ich anfangen soll. Ihre Finger ruhten über dem Einband. Und wenn ich es einfach versuche?

Langsam setzte sie sich an den Tisch. Sie atmete tief durch, schlug die erste Seite auf. Der Stift fühlte sich ungewohnt schwer an. Es fühlt sich gar nicht so sinnlos an. Vielleicht, nur vielleicht ist das der erste Schritt.

Die Worte blieben ihr aus. In Ihrem Kopf entstand ein Wirrwarr. Zu viele Gedanken, zu viele Gefühle, die sich nicht ordnen ließen.

Vielleicht ein andermal. Bei diesen Gedanken schnürte es ihr die Kehle zu. Jetzt war nicht der richtige Moment.

Langsam schlurfte sie ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und zog Maurice’ Pullover hervor. Ihre Finger glitten über den Stoff. Dann hob sie ihn an ihr Gesicht, sog den letzten Hauch seines vertrauten Duftes ein.

Doch diesmal legte sie ihn zurück.

Erinnerungen waren kostbar, aber sie brachten ihn nicht zurück.

Das Klingeln ihres Handys durchbrach die Stille. Das Display leuchtete auf. Es war ihre Mutter.

Zögernd drückte sie auf die grüne Taste.

»Hallo, wie geht’s dir?«

»Ganz okay«, antwortete Lisa.

Doch jetzt fühlte es sich nicht mehr ganz so falsch an.

„Und? Wie war deine erste Sitzung mit Frau Engel?“

Lisa lehnte sich an den Türrahmen und hielt das Handy fester an ihr Ohr.

„War in Ordnung.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Sie hat mir eine Art Hausaufgabe gegeben.“

„Klingt doch interessant“, sagte ihre Mutter mit aufmunternder Stimme.

Lisa seufzte. „Ich soll einen Brief an Maurice schreiben. Dinge, die ich ihm noch sagen will.“

Einen Moment lang herrschte Stille. Lisa stellte sich vor, wie ihre Mutter sanft lächelte.

„Das ist doch eine wunderbare Möglichkeit, um mit allem abzuschließen.“

Lisa ließ sich aufs Bett sinken und rieb sich die Schläfen. „Ich wüsste nur gern, was ich ihm schreiben soll.“

„Das wirst du herausfinden“, sagte ihre Mutter hoffnungsvoll.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, legte Lisa das Handy neben sich.

Ihre Mutter hatte recht. Sie hatte sich verändert. Sie war weiter als noch vor ein paar Wochen. Aber das Gefühl, sie hätte mehr machen können, um Maurice’ Tod zu verhindern, verschwand nicht.

Das Foto von ihrer gemeinsamen Wanderung kam ihr in den Sinn. Vielleicht konnte ihr das helfen?

Sie durchwühlte Schubladen und Regale, bis ihr einfiel, wo sie es hingelegt hatte. Ihr Herz schlug schneller, als sie das Nachtkästchen öffnete.

Vorsichtig zog sie das Foto hervor und ließ ihren Blick über die vertrauten Gesichtszüge wandern. Es lag in ihrem Lieblingsbuch, sicher verborgen zwischen den Seiten, als hätte sie es dort versteckt, um es gleichzeitig zu bewahren und zu vergessen. Ein Schnappschuss aus einer längst vergangenen Zeit, als sie sich noch federleicht und frei gefühlt hatte. Sein Lächeln – breit, voller Leben, voller Abenteuerlust –, als wäre es gestern gewesen. Selbst jetzt, nach all der Zeit, schien er durch das Papier hindurch direkt zu ihr zu sprechen. Maurice war allein darauf mit einem blauen Himmel im Hintergrund. Sie konnte einen Wald im Hintergrund erkennen. Es wirkte, als würde er ihr zulächeln.

Sie erinnerte sich an den Tag, an dem er sie zum Wandern überredet hatte – wie er gelacht hatte, als sie sich über den steilen Anstieg beschwerte, wie er sich umdrehte und ihr die Hand entgegenstreckte.

»Komm, Lisa. Du wirst diese Aussicht lieben.«

Und ja, er sollte recht behalten. Sie hatte diesen Ausblick sofort ins Herz geschlossen.

Ihr Handy piepte. Eine Nachricht erschien auf dem Display. Sie las den Namen des Absenders. Es war jemand, der ihn kannte wie sie. Aber Lisa konnte die Nachricht nicht öffnen. Noch nicht.

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Hallo Lanan2007,

Ich finde es sehr berührend, wie du Lisas innere Bewegung beschreibst – besonders diese leisen Übergänge zwischen Abwehr, Zweifel und vorsichtiger Offenheit. Das wirkt alles sehr feinfühlig beobachtet und echt.

Ich habe dir auch eine Rückmeldung in der Inbox gelassen – schau gern rein, wenn du magst.

Viele Grüße
iamnothingproof

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Der Text gefällt mir. Die Situation ist realitätsnah beschrieben und wirkt auf mich nicht wie eine erfundene Geschichte. Ja, so oder ähnlich laufen Therapiegespräche bisweilen. Da ich ein wenig Erfahrung in diesem Bereich habe, fühlte es sich
„echt“ an. Der Text macht neugierig auf mehr.

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Lieber Leon,

vielen Dank für dein Feedback – gerade weil du eigene Erfahrung mitbringst, bedeutet mir deine Rückmeldung umso mehr. Es war mir sehr wichtig, die Gespräche nicht überhöht oder konstruiert wirken zu lassen, sondern so echt wie möglich.

Dass du sagst, es fühle sich realitätsnah an und mache neugierig auf mehr, freut mich wirklich sehr.
Wenn du magst, schicke ich dir gerne noch eine weitere Szene – vielleicht eine spätere, in der Lisa beginnt, sich zu öffnen und wieder ins Leben zurückzufinden.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast!

Herzliche Grüße
Lanan2007

Ja, wenn Du es mir via PN direkt schickst, lese ich es sehr gerne und gebe Dir ausführliches Feedback.