Über die Macht geschriebener Worte

Ehrfürchtige Stille senkte sich auf die Frauen herab. Thyes blaugeäderte Hand näherte sich zaghaft dem Fragment. Auf dem altersdunklen Holz des Tisches schimmerte seine seidige Oberfläche wie helles Gold. Ihr angestauter Atem strich über das Vellum, das leise flüsternd antwortete, als könnten die roten Lettern und die steilen Schriftzeichen zu ihnen sprechen.
„Nicht alle alten Schriften gingen in den Wirren tausendjährigen Krieges verloren“, brach Theda endlich das andächtige Schweigen.
„Sie gingen nicht verloren. Nicht eine einzige.“ Thyes altersmilder Blick klärte sich. Eine senkrechte Falte spaltete das feine Gespinst des Lebens auf ihrer Stirn. „Sie wurden verboten und systematisch vernichtet. Ebenso wie das Buch der Bücher und die Sprache, mit der es zu uns spricht.“
„Vernichtet?“, wiederholte Theda. „Aber warum?“
„Gewöhnlich ist es der Sieger, der Geschichte für die nachfolgenden Generationen schreibt. Doch in diesem Fall…“ Die Mutter der Wahrheit verstummte. Müde rieb sie ihre brennenden Augen. „War das Werk beendet, als der tausendjährige Krieg kaum mehr als einen Schatten voraus warf.“
„Aber es ist Frevel, geschriebenes Wort zu vernichten!“, rief Theda mit zornroten Wangen.
„Ihr seid Scriptora. Wisst Ihr nicht, welche Macht den Schriften innewohnt?“
„Im Vergleich zu einem Krieg?“
„Wenn kein Zeitzeuge mehr lebt, wäre das Buch Eleithys, nicht nur die einzig bleibende Wahrheit. Es wäre der Beweis dafür, dass der Untergang der Vollkommenen als unvermeidlich prophezeit wurde! Und es hätte unseren Sieg als Lüge entlarvt.“
„Wie meint ihr das?“
„Glaubt man dem ersten Buch, dann ist dieser Krieg längst nicht vorbei.“
„Ihr wisst, was im Buch Eleithys steht? Habt Ihr es gelesen? Sprecht Ihr die alte Sprache?“, sprudelte Theda hervor.
„Nein“, sagte Thye. Bedauern trübte ihre Stimme, wie eine Wolke, die sich vor die Sonnen schob. „Ich weiß nur, was überliefert ist. Von einer Oberin an die nächste.“ Sie nahm Thedas Hand. „Doch dies ist ein Bild mit unendlich vielen Details, dass vielhundertmal abgezeichnet wurde und mit jeder Generation verliert sich ein Stück davon.“ Behutsam berührte Thye das uralte Manuskript. „Darin liegt die wahre Macht geschriebener Worte: Sie überdauern die Erinnerung unveränderlich, unverrückbar, unerbittlich.“
Gemeinsam betrachteten sie das schimmernde Vellum und die Abschrift des Briefes.
„Die Suche nach der Wahrheit ist wie die Suche nach dem ersten Buch, ein hinreichend steiniger und zuweilen gefährlicher Weg, Sabia Theda. Und wie Ihr seht, ist das Ergebnis am Ende meines ganzen Lebens dürftig.“
„Dann hofft Ihr nicht mehr, das Buch Eleithys zu finden?“
„Nein, diese Hoffnung ist vergebens“, sagte die Oberin.
Ein Sonnenstrahl durchbrach das dichte Wolkenband und blinzelte durch das dicke Fensterglas.
„Mit einem Lächeln fällt Ihr ein strenges Urteil über Euer Leben, Sabia Matar.“, sagte Theda verwundert.
„Mag das Buch der Bücher vernichtet sein, so gibt es doch Fragmente, wie dieses und hier, mitten unter uns einen Kreis, der Seanndainh nach all der Zeit noch immer lesen und schreiben kann.“ Sie suchte den Blick der Scriptora. „Und dies gibt uns Anlass zur Hoffnung …“

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