Anbei mal wieder eine Übung für meinen Montags-Schreibkurs!
Ihr dürft gerne einen Kommentar dalassen!
Gruß
Super Girl
Traut sich Irma oder traut sich Irma nicht
Irma traut sich nicht, Irma traut sich nicht!“, riefen die Jungen. Sie plantschten voller Vergnügen im Kranichweiher und spritzten sich gegenseitig nass. Die Mädchen kicherten. Eines rief: «Irma, nun komm endlich rein! Oder bist du wirklich ein Angsthase?»
Irma, die als Einzige noch am Ufer des Kranichweihers stand, war kein Angsthase. Sie als Älteste unter den Kindern hatte ein anderes Problem. Es war ihr so peinlich, dass sie mit niemandem darüber sprechen wollte. Ihre Hände, die sie zu Fäusten ballte, verkrampften sich bei dem Gedanken, dass sie als Einzige nicht ins Wasser gehen konnte, ohne dabei Aufsehen zu erregen. Ihre Unpässlichkeit ärgerte sie so sehr, dass sie mit den Füßen aufstampfte.
«Irma traut sich nicht, Irma traut sich nicht!», riefen nun alle anderen Kinder gleichzeitig. Irma versuchte gleichmäßig ein- und auszuatmen, um ihre aufkommende Wut zu unterdrücken. Was würden die anderen Kinder wohl sagen, wenn sie die Wahrheit wüssten? Wie gern würde Irma ihren Schulkameradinnen zeigen, dass sie etwas reifer war als die anderen Mädchen.
Irma war in der sechsten Klasse sitzen geblieben und musste deshalb diese Jahrgangsstufe wiederholen. So war sie in die Klasse mit den Kindern gekommen, die sie oft mit gemeinen Sprüchen aufzogen. Dabei kannte sich Irma in Heimatkunde besser aus als ihre frechen Mitschülerinnen und Mitschüler. Sie hatte keine Freundin, der sie ihren Kummer erzählen konnte, nur einen jüngeren Bruder und eine strenge Mutter. Ihr Vater hatte die Familie im Stich gelassen, um sich mit einer jungen Sängerin, die locker seine Tochter sein konnte, ein neues Leben aufzubauen.
Es war ein heißer Sommertag und Irma schwitzte in ihrer Schuluniform. Wie gerne würde sie diese ausziehen und mit den anderen im Kranichweiher schwimmen gehen. Verzweifelt sah sie sich nach allen Seiten um. Schaute da jemand zu ihr herüber? Oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Das Wasser spritzte, als Hans aus ihrer Klasse mit Anlauf in den Kranichweiher sprang. Die Verlockung war groß, sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden und ebenfalls hineinzuspringen.
Da tippte jemand Irma an und sie wirbelte erschrocken herum. Dann hatte sie sich die Person, die sie beobachtet hatte, doch nicht eingebildet. Der alte Leuchtturmwärter brummte: «Warum gehst du nicht zu deinen Freunden, Mädchen? Traust du dich wirklich nicht?» Seinen Worten konnte Irma entnehmen, dass er den Kindern schon länger zugehört hatte. Irma schnaufte, dann sprudelte es aus ihr heraus: «Ich kann nicht. Es ist ein Problem, das nur Frauen haben. Ich bin die Älteste in der Klasse. Ich kann sogar sehr gut schwimmen. Nur geht es gerade eben nicht… wegen des Problems.“ Dann tätschelte der Alte mit dem struppigen Bart, der nach Pfeifentabak roch, ihr auf die Schulter. Er zündete sich seine Pfeife an und meinte nun etwas sanftmütiger: «Ich verstehe. Nun, da sehe ich nur zwei Möglichkeiten für dich, Mädchen. Entweder du springst und zeigst allen damit, dass du dich sehr wohl traust. Oder du versteckst dich und deine Sache dein ganzes Leben lang. Dann wird man dich für immer als Angsthase betrachten. Willst du das?»
«Natürlich will ich das nicht!», rief Irma ihm entrüstet zu.
«Irma traut sich nicht, Irma traut sich nicht!», riefen die Jungen und lachten.
«Na wartet“, dachte sich Irma, «ich werde es tun und zwar jetzt sofort!» Rasch hatte sie sich ihrer Kleidungsstücke entledigt. Nun war sie bis auf die Unterwäsche entkleidet. Irma traute sich nun doch. Sie nahm Anlauf und sprang!