Sonnenbrille, Lederjacke und los

Der Marktplatz ist verlassen. Nur eine streunende Katze verfolgt die wirbelnden Herbstblätter. Ich bleibe im Schatten der Arkaden stehen und beobachte das Aufblinken der Pfützen in den spärlichen Strahlen der Oktobersonne.
Ich habe Zeit.

Ich heiße gui.

Langsam wird es dunkel. Der Herbststurm hat sich gelegt. Der kleine Streuner ist sicher längst zuhause und schläft. Immer mehr Fenster leuchten auf. Die Sonnenbrille brauche ich nicht mehr. Der Platz ist immer noch leer. Soll ich noch warten?

Ich hole ein Blatt Papier aus meiner Jacke und zwei Reißzwecken. Man muss ja nicht wie Luther gleich mit Hammer und Nagel arbeiten.

Sogfältig richte ich das Blatt waagerecht entlang der Bretter des Bauzaunes aus, bevor ich es befestige.
Die Tinte ist wasserfest. Nur für den Fall der Fälle.

SUCHE BLEIBE

Ich heiße gui

Ich sitze auf einer alten Zeitung, windgeschützt in einer Ecke des Arkadenganges. Meine Thermosflasche ist fast leer. Ich sehe Menschen auf dem Platz durch den Regen hasten. Kein Wunder, dass niemand stehen bleibt. Ich stehe auf und gehe zu dem Bauzaun. Das Papier hängt noch, durchnässt klebt es an den Brettern.
Ich male einen Regenbogen dazu.

SUCHE BLEIBE
Breche Licht

Ich heiße gui

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Hallo Gui, :smiley:

Deine Zeilen wirken nachdenklich. Dein Stil gefällt mir. Du suchst eine Bleibe und ich sage, bleib.
LG Antje :kissing_heart:

Die Nacht ist verschwunden. Der Regen auch. Neben mir liegt eine Orange mit einem Smiley drauf. Sie heißt mich willkommen. An dem Bauzaun flattert mein Blatt Papier. Die untere Reißzwecke ist ausgerissen. Ich hole zwei weitere aus meiner Tasche und befestige mein Flugblatt an den unteren Ecken.

SUCHE BLEIBE
breche Licht
verschlossen

Ich male noch etwas dazu. Eine Jakobsmuschel.

Dann gehe ich zu der Teestube gegenüber. Sie sperrt gerade auf. Ich frage höflich, ob ich etwas heißes Wasser bekommen kann.

Ich heiße gui

Ich habe meine Orange gegessen. Die spiralig geschälte Schale habe ich wieder zusammengesetzt und ich schnuppere ab und zu an ihr. Das Smiley ist noch sichtbar, ich habe beim Schälen darauf geachtet.

Auf dem Platz haben sich inzwischen mehrere Menschengruppen zusammengefunden.
In der einen Gruppe gibt es ein stetes Kommen und Gehen, viele zeigen nicht ihr Gesicht, sondern geben nur ein Flugblatt ab, das offensichtlich ohne System an dem Bauzaun angebracht wird.

Ich nehme mein Flugblatt wieder runter, und gehe weiter zum Kloster. Dort an dem Tor hängt noch nichts. Ich befestige meinen Zettel diesmal mit vier Reißzwecken. Und male noch etwas dazu.Ein Labyrinth.

SUCHE BLEIBE
breche Licht
verschlossen
finde den Weg

Ich heiße gui

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Vor dem Kloster steht eine gewaltige Linde. Die meisten Blätter liegen in raschelnden Haufen zwischen ihren Wurzel. Hellgelb und kupferbraun. Dazwischen letzte vorwitzige Grashalme.

Eine Holzbank, der untergehenden Sonne zugewandt. Regungslos speichere ich die letzte Wärme, in meinen Händen das Prisma aus Sansibar. Regenbögen tanzen über die weißgekalkte Klostermauer.

Ich brauche ein Nachtlager. Auf meinem Flugblatt steht:

SUCHE BLEIBE
breche Licht
verschlossen
finde den Weg

Ich heiße gui

Der Prior bietet mir ein Nachtlager an. Ich kann eine Zelle bekommen oder im Stall schlafen. Ich nehme den Stall.

Mächtige Kaltblüter stehen knietief im Stroh, ihre Kaugeräusche sind eine beruhigende Geräuschkulisse nach dem Chaos auf dem Marktplatz.

Ich habe mein Flugblatt abgenommen und sorgfältig zusammengefaltet in meine Jacke gesteckt. Ich habe noch etwas Wasser und der Prior hat mir eine Schale Suppe bringen lassen. Das Leben meint es gut mit mir.

Diese Nacht werde ich trocken und warm schlafen. Morgen schreibe ich ein neues Flugblatt.

Ich heiße gui

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Auf dem Boardingpass steht gui lóng.

Beim nächsten Flug verschenke ich ein Ticket an einen Fremden.

Ich heiße gui.

Ich bin in Capetown gelandet. Mein Koffer ist verloren gegangen.
Das Taxi fährt an den Slumsiedlungen vorbei Richtung Innenstadt.
Ich bin vogelfrei.

Die Seilbahn bringt mich auf den Tafelberg. Der Vollmond steht vor violettem Hintergrund. Es ist immer noch schön warm. Hier bleibe ich erst einmal bis morgen.
Ein freundlicher Fremder hat mir eine Tüte Kudu-Biltong geschenkt. Meine Wasserflasche habe ich noch am Flughafen gefüllt.

Morgen besuche ich die Pinguinkolonie.

Ich heiße gui.

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